Dienstag, 14. Mai 2024

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Schriftstellerin Gila Lustiger
"Dem multikulturellen jungen Frankreich wurde der Krieg erklärt"

Nicht nur Paris, alle Franzosen seien von den jüngsten Terrorattacken des IS tief erschüttert, sagte die Schriftstellerin Gila Lustiger, die in Paris lebt, im DLF. Auch wenn die Attentäter "unserer Kultur und unserer Zivilisation" den Krieg erklärt hätten, versuche man, zu einer gewissen Normalität zurückzukehren. Dies falle allerdings äußerst schwer.

Gila Lustiger im Gespräch mit Jasper Barenberg | 19.11.2015
    Die Autorin Gila Lustiger auf der Leipziger Buchmesse 2008.
    Die in Paris lebende Autorin Gila Lustiger (Deutschlandradio / Bettina Straub)
    Die Angst soll unser Leben nicht bestimmen, betonte die seit 30 Jahren in Paris lebende Schriftstellerin. Initiativen wie "Tous au bistro!" zeigten den Willen, sich von den Terroristen nicht in der Lebensführung einschränken zu lassen. Dennoch zeige sich Paris in völlig neuem Licht. Die Attacken seien auch ein Angriff auf die Freiheit und den westlichen Lebensstil gewesen, nicht zuletzt weil jetzt der Ausnahmezustand gelte.
    Im Gegensatz zum Anschlag auf die Räume des Satiremagazins "Charlie Hebdo" und den jüdischen Supermarkt habe man jetzt "dem multikulturellen jungen Frankreich den Krieg erklärt", indem man einen Konzertsaal, ein Stadion und Bars angegriffen habe.

    Das Interview in voller Länge:
    Jasper Barenberg: Am Telefon ist Gila Lustiger, geboren in Frankfurt am Main. Sie hat in Israel studiert und gearbeitet und lebt inzwischen seit fast 30 Jahren in Paris. Zuletzt hat sie den Roman "Die Schuld der anderen" veröffentlicht, ein Gesellschaftsporträt des heutigen Frankreich. Schönen guten Morgen nach Paris.
    Gila Lustiger: Guten Morgen!
    Barenberg: Sie haben in einem Gespräch mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" dieser Tage geschildert, wie sich in der Nacht der Anschläge herumsprach, dass Männer mit Sturmgewehren und Granaten bewaffnet durch die Straßen ziehen. Können Sie uns beschreiben, wie Sie seitdem mit dieser Erschütterung, die das bei Ihnen ausgelöst hat, umgegangen sind, umgehen?
    "Ein Angriff auf unsere Freiheit und unseren Lebensstil"
    Lustiger: Wir versuchen alle in Frankreich, irgendwie zu einer gewissen Normalität zurückzukehren, und das macht sich in vielen Initiativen bemerkbar. Ich nenne Ihnen vielleicht eine: zum Beispiel "Tous au bistro", die von den Besitzern von Restaurants und Kneipen ausgerufen wurde. "Tous au bistro" heißt "Alle ins Bistro", und das war der Versuch, dass die Angst das Leben der Menschen nicht bestimmen solle. Die wurde am Dienstag ausgerufen und die Bars und Restaurants waren trotzdem ziemlich leer. Und am frühen Montagmorgen mussten wir dann ja auch erfahren, dass es in St-Denis noch eine Terrorzelle gab. Das heißt, die Pariser und vor allen Dingen auch die Franzosen verstehen, wir verstehen alle, dass es ein Angriff ist auf unsere Freiheit und auf unseren Lebensstil und dass sich etwas ändern wird, was ja auch ganz konkret der Fall ist, weil der Ausnahmezustand ausgerufen wurde.
    "Es wurde Frankreich angegriffen"
    Barenberg: Hat das auch damit zu tun, dass viele Franzosen, Sie möglicherweise auch sich nach dem Attentat auf Charlie Hebdo im Januar gar nicht hätten vorstellen können, dass es so etwas wie die Steigerung eines solchen Schreckens geben kann?
    Lustiger: Charlie Hebdo, das Attentat richtete sich gegen in gewisser Weise die Pressefreiheit und auch gegen die Verspottung Mohammeds. Und der jüdische Supermarkt war ganz gezielt ein antisemitisches Attentat. Hier aber wurden an einem Ausgehabend per se, dem Freitag, ein Konzertsaal angegriffen, ein Fußballstadion und das Ausgehviertel der Jugend. Das heißt, es wurde Frankreich angegriffen und die Jugend angegriffen, die multikulturelle Jugend angegriffen. Unter den Opfern waren Muslime, alle Gesellschaftsschichten, viele mit Migrationshintergrund. Das war das gemischte junge Frankreich, dem hier der Krieg erklärt wurde, und wir fühlen uns dadurch alle betroffen.
    Barenberg: Sie haben auch gesagt in den letzten Tagen, dass Sie nicht nur dieses Bild vom Krieg unmittelbar assoziiert haben, sondern dass Sie auch wenig davon überrascht waren. Warum nicht?
    Lustiger: Weil wir alle irgendwie wussten, nach Charlie Hebdo und dem jüdischen Supermarkt, dass die Terrorzellen noch existieren und dass man den radikalen Dschihadismus - ich benutze jetzt ein Wort, das ich nicht gerne benutze, aber mir fällt kein anderes ein -, dass man es nicht ausgemerzt hatte, dass die Zellen noch existieren, dass es eine Radikalisierung gibt. Jetzt erst wurde beschlossen, dass man Moscheen in Paris und um Paris, in Frankreich - ich kann mich nicht mehr an die Zahl erinnern, aber es sind über zehn - schließen wird. Es ging ja alles weiter.
    Ein Mann betrachtet am 18.11.2015 in Paris den aktuellen Titel der französischen Satirezeitung «Charlie Hebdo»
    Ein Mann betrachtet am in Paris den aktuellen Titel der französischen Satirezeitung "Charlie Hebdo" (dpa / picture alliance / Gerd Roth)
    Barenberg: Sie haben uns geschildert, wieviel Sorgen man sich macht, wenn Sie jetzt erfahren haben, dass es eine weitere Terrorzelle gab. Wir haben unsere Korrespondentin ja auch über den Einsatz in Saint-Denis gesprochen. Jetzt haben Sie auch erwähnt auf der anderen Seite, dass es Initiativen gibt wie "Tous au bistro". Ist das eine Möglichkeit, sind das Mittel, die die Zivilgesellschaft jetzt hat, um der Bedrohung, um dem Terror etwas entgegenzusetzen?
    Lustiger: Nein, natürlich nicht. Charlie Hebdo hat das auch sehr bezeichnend gezeigt. Sie sind immer sehr prägnant verspottend. Auf dem Titelblatt jetzt Mittwoch ist ein Mann zu sehen, ein durchlöcherter Mensch zu sehen mit einer Champagner-Flasche in der Hand, und unten steht: "Sie haben Sturmwaffen und das ist uns egal, wir haben Champagner". Konsum oder Ausgehen, das kann wirklich nicht der einzige Akt des Widerstands sein gegen den Terror. Natürlich nicht. Das zeigt Ihnen ja, wie verzweifelt die Menschen hier versuchen, in eine Normalität zurückzukehren und dass sie eigentlich der Situation nicht gewachsen sind. Ich meine, Paris ist im Kriegszustand. Sie haben hier Militär auf den Straßen. Sie hören die ganze Zeit von Attentaten, von Anschlägen, von Menschen, die sich in die Luft jagen, und das sind ganz neue Verhältnisse.
    "In schweren Zeiten hilft Kultur"
    Barenberg: Und wenn Sie sagen, dass es im Moment etwas hilflose Akte der Widerständigkeit sind gegen die Angst und gegen die Terrorbedrohung, wie schauen Sie in die Zukunft? Wie werden Sie die Bedrohung in den Alltag einbauen können, in dem Alltag auch mitleben können oder müssen?
    Lustiger: Was ganz klar ist, dass es keine absolute Sicherheit gibt, in der man die Freiheit bewahrt. Ich habe ja in Israel gelebt. Das ist eine Realität, mit der sich die Franzosen jetzt werden auseinandersetzen müssen, dass ihre Freiheit beschränkt werden wird.
    Ich möchte aber noch von einer anderen Initiative sprechen, die mich sehr berührt. Und zwar gibt es viele Menschen, die auf die Kultur zurückgreifen jetzt. Es werden Gedichte vorgelesen in Radios, junge Menschen gehen zu den Attentaten mit "A Moveable Feast" von Hemingway. Sie haben das Gefühl und das hat man kollektiv und auch einzeln, dass in schweren Zeiten Kultur hilft, und das ist eine Initiative, die mich natürlich als Schriftstellerin sehr bewegt, dass sie plötzlich sehen, ein kleines Gedicht kann nichts gegen ein Sturmgewehr, und doch ist ein kleines Gedicht gewaltig. Sie lesen zum Beispiel, haben jetzt Gedichte aus dem Bücherschrank geholt von Eluard, der die Gedichte in der Resistance, im Widerstand geschrieben hat. Das ist auch ein Mittel der Resistance, weil ja auch die Attentäter unserer Kultur und unserer Zivilisation den Krieg erklärt haben. Wenn Sie sich die Terminologie anschauen: Ich habe das jetzt nicht vor mir, aber in der Pressemitteilung des Islamischen Staates ist von Dekadenz die Rede, von Abschaum, von Abscheu die Rede. Da wird mit Gut und Böse argumentiert, mit Dekadenz und Tugend. Und eine Reaktion ist auch, dass man das Banner der Kultur hochhält. Aber Europa wird gemeinsam sich hier überlegen müssen, was es macht, und jetzt ist es vielleicht auch an der Zeit, sich an die Gründerväter der EU zu erinnern und warum Europa überhaupt ins Leben gerufen wurde. Die europäischen Politiker hatten ja damals eine gewisse Vision, was das geeinte Europa betrifft, und es ging darum, als sie Europa geschaffen haben, ging es nicht nur um ökonomische Werte, sondern auch darum, den Frieden zu wahren.
    Barenberg: Und wie diese Friedenswahrung, wie diese Solidarität aussehen kann, das werden wir in den nächsten Tagen und Wochen und Monaten verfolgen. Vielen Dank für heute Gila Lustiger, die Schriftstellerin heute hier live im Deutschlandfunk. Danke Ihnen sehr.
    Lustiger: Ja, ich danke Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.