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Schülerreise nach Auschwitz

Eine Schulklasse liest im Unterricht ein Buch über den Nationalsozialismus. Anhand eines Einzelschicksals lernen die Kinder, sich mit der Person zu identifizieren. Sie treffen Zeitzeugen und auf einmal steht der Entschluss fest: Sie wollen nach Auschwitz reisen.

Von Vanessa Dähn | 30.01.2010
    "Wenn ich jetzt zum Beispiel im Fernsehen sehe, hier irgendwas über Neonazis, da denkt man einfach, die Leute sind nicht aufgeklärt. Die wissen einfach nicht, was es bedeutet, die hatten nie dieses Gefühl, da lang zu gehen oder sich wirklich damit befasst – also meiner Meinung nach – um zu wissen, was den Menschen früher angetan wurde. Auch wenn man Leute hört, die so salopp daherreden, irgendwelche Sprüche ablassen, wo man sich dann denkt, ja, würdest du wissen, was wir alles wissen, würdest du so was nicht einfach so daher sagen."

    Es begann mit dem Buch "Denk nicht, wir bleiben hier". Anja Tuckermann beschreibt darin die Lebens- und Leidensgeschichte von Hugo Höllenreiner. Der Sinto war als Neunjähriger mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert worden. Er überlebte. Seine Geschichte gab einer Hauptschulklasse aus Wermelskirchen in Nordrhein-Westfalen den Anstoß, sich besonders intensiv mit Deutschlands nationalsozialistischer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Klassenlehrerin Marie-Louise Lichtenberg ist überzeugt, dass man Kinder und Jugendliche am ehesten über Literatur erreicht.

    "Über das Schicksal eines einzelnen Menschen, eines Kindes aus dieser Zeit. Sie können sich dann mit diesem Protagonisten identifizieren, sie können sich in die Situation hineinversetzen, sie vergleichen die Situation des Protagonisten mit ihrem eigenen Leben, und so finden sie Zugang erst mal über die Seele, über das Herz und später, viel später beginnt erst die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Thematik."

    Es blieb nicht bei der Lektüre, es folgten auch Begegnungen mit Zeitzeugen und ehemaligen KZ-Häftlingen. Auch Hugo Höllenreiner, dessen Geschichte die Schüler tief berührt hatte, stand ihnen für ein Gespräch zur Verfügung. Der Wunsch, sich selbst ein Bild von dem Ort zu machen, über den sie so viele grauenvolle Dinge gelesen und gehört hatten, wurde immer größer. Die Schüler drängten ihre Lehrerin regelrecht, mit ihnen nach Auschwitz zu fahren: ins größte deutschen Vernichtungslager, wo mehr als eine Millionen Menschen ermordet wurden. In der zehnten Klasse war es dann so weit: Fast 40 Schüler und drei Betreuer machten sich auf den Weg nach Polen. Caroline und Jennifer erinnern sich:

    Caroline: "Im Flugzeug, da haben wir uns gefreut, dass wir da jetzt endlich hinkommen und in der Begegnungsstätte war das auch schon so, aber da war das schon wieder ein bedrückenderes Gefühl als im Flugzeug, weil da war man an dem Ort. Man wusste, das Konzentrationslager ist nur ein paar Kilometer von uns jetzt entfernt, und als wir dann dahin gelaufen sind - wir sind zu Fuß hingegangen – da wurden wir immer ruhiger. Ja, und dann standen wir vorm Tor 'Arbeit macht frei' und dann haben wir eigentlich gar nicht mehr geredet."

    Jennifer: "In Erinnerung ist mir einfach geblieben, wie wir in das Lager reingegangen sind, diese Kälte, die man gespürt hat, es war richtig kalt, es war am Schneien. Und wenn man halt diese Wege lang gegangen ist, wo man weiß, da sind die Leute in die Gaskammer gegangen und dann umgebracht worden. Also das war ein total komisches Gefühl, das fand ich total ..., da kriegt man Gänsehaut, wenn man daran denkt."

    Caroline: "Da waren wir im Stammlager und wir sind da durchgegangen und das war alles okay, weil man hat nichts Persönliches von den Leuten erst gesehen. Und dann sind wir in einen Block gegangen und dann waren da auf einmal die ganzen Haare von den Menschen, die Schuhe, die Töpfe, die Bürsten, Brillengestelle. Und da war dann für mich der Moment, da war dann Ende, da konnte ich auch nicht mehr. Da bin ich auch rausgegangen."

    Marie-Louise Lichtenberg hatte vor der Fahrt große Sorge, dass die Jugendlichen vom Besuch im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz emotional überfordert sein könnten. Deshalb habe sie sich bemüht, die Fahrt sowohl themen- als auch schülergerecht vorzubereiten.

    "Den geschichtlichen Hintergrund, den müssen die Kinder in der Schule mitbekommen. Das muss perfekt sein, fast perfekt, so gut, wie man es machen kann. Sodass die Schüler eine Struktur haben, dass sie mit diesem Thema intellektuell konfrontiert worden sind und das quasi gelernt haben. Dann haben sie die Möglichkeit, dass sie dann auch mit ihren Emotionen viel besser umgehen können. Das sind Dinge, die sie dann schon gehört haben, sie erleben natürlich alles ganz anders, aber das ist eine Hilfe damit zurechtzukommen."

    Ihre Eindrücke haben die Jugendlichen außerdem verarbeitet, indem sie noch in Auschwitz Bilder gemalt und Texte geschrieben haben. Innere Monologe, fiktive Briefe und Gedichte. Sämtliche Werke wurden inzwischen mehrfach ausgestellt – sogar bei einem Besuch der Schulklasse in Loches, der französischen Partnerstadt von Wermelskirchen. Das war Anlass für eine Zusammenarbeit zwischen der Hauptschule und dem örtlichen Gymnasium: Gymnasiasten haben die Texte der Hauptschulklasse ins Französische übersetzt. Dabei auch ein Gedicht von Remi. Er kann seine Zeilen zwei Jahre nach der Auschwitzfahrt noch auswendig:

    "Jung und alt, Mann und Frau,
    die Wand war schwarz, der Himmel blau.
    Sie alle zogen gen schwarze Wand,
    gar kein Schutz, kein Gewand.
    Die Angst stand ihnen ins Gesicht geschrieben,
    die Hoffnung, die wurde ihnen ausgetrieben.
    Hier ein Schuss, da ein Schrei,
    ihr Leben, das war jetzt vorbei.
    An der schwarzen Wand."