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Schulbücher vom DAX-Konzern
"Kampf um die Köpfe der Kinder" im Klassenraum

20 der 30 DAX-Unternehmen versorgen Schulen mit kostenlosen Unterrichtsmaterialien, besagt eine neue Studie. Deren Autor Tim Engartner warnte im Dlf vor "schulischem Lobbyismus" als Massenphänomen und forderte dagegen eine "Prüfstelle oder ein prinzipielles Verbot".

Tim Engartner im Gespräch mit Regina Brinkmann | 08.10.2019
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Nicht wenige Unternehmen bieten inzwischen kostenlose Unterrichtsmaterialien an - treten dabei aber nicht immer unter ihrem bekannten Namen auf (picture alliance / dpa / Oliver Berg)
Regina Brinkmann: Marode Schulgebäude, immer weniger Geld für Schulbücher und immer mehr Quereinsteiger in den Lehrerzimmern – all das ist Alltag an vielen Schulen und begünstigt offensichtlich Lehrmaterialien, die kostenlos und frei Haus geliefert werden. Erstellt werden die inzwischen von 20 der insgesamt 30 DAX-Konzerne. Das ist ein Ergebnis, wie DAX-Unternehmen Schule machen. Sie wurde jetzt von der Otto-Brenner-Stiftung veröffentlicht. Reden wir drüber mit Studienautor Tim Engartner, er ist Professor für die Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt und hat erstmalig die Verbreitung von Lehr- und Lernmaterialien durch große deutsche Unternehmen untersucht. Guten Tag, Herr Engartner!
Tim Engartner: Guten Tag, Frau Brinkmann, grüße Sie!
Brinkmann: Herr Engartner, wie gehen die Unternehmen vor? Was bieten sie den Schulen an?
Engartner: Ja, das ist ein reichhaltiges Tableau an Angeboten, was da von den Unternehmen vorgehalten wird. Es geht um die Ausrichtung von Berufsorientierungstagen, über das Sponsoring von Sport- und Schulfesten, aber auch bis in den Bereich der Produktion und Finanzierung von Unterrichtsmaterialien. Das ist das, was die Studie zum Gegenstand hatte, die Frage zu erörtern, wie viele Unterrichtsmaterialien werden eigentlich von den deutschen Unternehmen, die im Deutschen Aktienindex gelistet werden, an den Schulen entsprechend verteilt oder dort in Umlauf gebracht. Der neuste Trend, den man noch nennen könnte, ist der, dass Firmen Lehrkräfte, also Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Unternehmen, mit diesen Materialien in die Klassenzimmer kommen, um dort, so könnte man es überspitzt formulieren, den Kampf um die Köpfe der Kinder aufzunehmen.
"Vereinnahmung der Bildungsinhalte durch private Unternehmen"
Brinkmann: Jetzt haben Sie schon mal so gesagt, welche Formen das annimmt. Wie sehr hat denn der Einfluss vielleicht mal in Zahlen zugenommen?
Engartner: Also online verfügbar sind Materialien kostenfreier Art etwa 800.000. Das genau zu beziffern, ist schwierig. Man kann nur sagen, dass 20 der 30 DAX-Unternehmen Unterrichtsmaterialien finanzieren oder produzieren und dann auch distribuieren. Das heißt, wir haben es mit einer Fülle von Angeboten zu tun. In grosso modo lässt sich sagen, dass etwa ein Dutzend Unterrichtsmaterialien vorgehalten wird von den Spitzenreitern in der Gruppe der 20 genannten Unternehmen, und das ist doch ein Ausmaß, was erkennen lässt, dass dieser schulische Lobbyismus kein Nischenphänomen ist, sondern ein Massenphänomen.
Brinkmann: Wie bedenklich sind denn diese Materialien? Im Grunde genommen ist es ja nicht verboten, dass Unternehmen Materialien Schulen zur Verfügung stellen.
Engartner: Nein, in der Tat gibt es kein prinzipielles Verbot, solche Materialien privater Content-Anbieter in den Schulkontext einzuspeisen. Wir reden zwar gerne von der Schule als neutraler Bildungsinstanz, als einen Schonraum, der natürlich auch einen pädagogischen Auftrag zu erfüllen hat, der dem Allgemeinbildungsgedanken verpflichtet ist, aber in der Tat kann man sagen, es ist gut, wenn Schülerinnen und Schüler auch mal einen Blick über die Schultore hinter die Werkstore werfen und dort sehen, was Unternehmen eigentlich tagtäglich hier in der Bundesrepublik tun. Gleichwohl würde ich zu bedenken geben, dass wir eine Schwerpunktsetzung im Bereich der Automobil- und Finanzwirtschaft etwa feststellen können und dort natürlich auch Themen aufgegriffen werden, die nicht unmittelbar dem Allgemeinbildungsinteresse der Schulen oder der Schullandschaft zuträglich sind. Das heißt, wir haben hier eine sehr starke Vereinnahmung der Bildungsinhalte durch private Unternehmen, und das ist eine Sache, die wir in der Bildungsrepublik Deutschland, wie Kanzlerin Merkel ja einst proklamiert hat, nicht dulden können.
"Es bräuchte eine Prüfstelle oder ein prinzipielles Verbot"
Brinkmann: Gibt es irgendjemanden, der diese Inhalte prüft?
Engartner: Nein, anders als bei Schulbüchern der renommierten Schulbuchverlage, Cornelsen, Klett, Schöning, Buchner und so weiter, werden diese Materialien eben nicht geprüft. Man kann, ähnlich wie im Gesundheitssystem, von einer Zweiklassenbehandlung sprechen, auf der einen Seite die Materialien externer Anbieter, die keine Prüfung durchlaufen, und dann wiederum die regulären Schulbücher, die wir alle aus unseren Schulzeiten noch kennen, die wiederum geprüft werden. Das müsste abgestellt werden. Es bräuchte eine bundesweite Prüfstelle oder ein prinzipielles Verbot, was darauf zielt, diese Unterrichtsmaterialien, die nicht in erster Linie, sagen wir mal, pädagogische Zwecke verfolgen, dass man denen den Garaus macht.
Brinkmann: Wo geht langfristig gesehen aus Ihrer Sicht der Trend hin?
Engartner: Ich habe die Befürchtung, dass die chronische Unterfinanzierung des Schulsystems… die klammen kommunalen Kassen lassen erkennen, dass auch die Schulgebäude, wie in der Anmoderation ja deutlich wurde, tatsächlich mitunter in einem desolaten Zustand sind, dass die Abschaffung der Lehr- und Lernmittelfreiheit, immerhin eine Kernforderung der Revolution von 1848, dass all das, gepaart mit gedeckelten Kopierkontingenten in den Schulen, den Weg bereitet für private Content-Anbieter für Unternehmen wie etwa die 20 DAX-Unternehmen, die in der Studie untersucht worden sind als solche, die besonders wirkmächtig und einflussreich sind im schulischen Kontext, dass die noch weiter Auftrieb bekommen. Eine zweite Tendenz, die man feststellen kann, ist, dass viele Unternehmen nicht mehr unter ihrem eigenen Namen auftreten, sondern sich in Initiativen verbünden, wie zum Beispiel die Wissensfabrik, die unter dem Dach der BASF in Ludwigshafen residiert, mit mehr als 140 weiteren Förderunternehmen, dass man die Aktivitäten clustert, sodass es dann auch für Schülerinnen und Schüler, aber auch für Lehrkräfte nur noch bedingt sichtbar wird, wer sich eigentlich hinter diesen Unterrichtsmaterialien oder Bildungsmaterialien im größeren Sinne verbirgt. Das ist natürlich eine weitere Gefahr, weil die Quelle des oder derjenigen, der oder die dort tätig ist, sollte natürlich einwandfrei zu identifizieren sein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.