Sonntag, 12. Mai 2024

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Schulen in der Coronakrise
"Wechselunterricht ist verantwortungsvoll"

Der Gesundheitsschutz komme derzeit an den Schulen zu kurz, kritisierte die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe im Dlf. Sie plädierte für den vom Robert-Koch-Institut ab einer Inzidenz von 50 empfohlenen Wechselunterricht. Dann gebe es noch regelmäßig Kontakt mit den Schülerinnen und Schülern.

Marlis Tepe im Gespräch mit Sandra Schulz | 02.11.2020
Rheinland-Pfalz, Remagen: Schüler eines Gymnasiums nehmen in einem Klassenzimmer am Unterricht bei geöffnetem Fenster teil.
Regelmäßiges Lüften in Klassenzimmern soll die Verbreitung des Coronavirus bremsen (Thomas Frey/dpa)
Im November gelten in ganz Deutschland besondere Regeln aufgrund der Coronakrise. Zu den Bereichen, die nicht flächendeckend von Schließungen betroffen sind, gehören die Schulen. Die Krise mache deutlich, dass das eigenständige Lernen immer wichtiger werde, sagte Marlis Tepe, Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), im Dlf. Das selbstständige Lernen sei der der Lernweg der Zeit. Das könne man jetzt auch besser als früher unterstützen, da es immer mehr Tools gebe und Lernmanagement-Systeme eingeführt würden.
Marlis Tepe, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.
Marlis Tepe, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. (dpa / picture alliance / Britta Pedersen)
"Auf Abstand wird in den Schulen verzichtet"
Sandra Schulz: Das öffentliche Leben fährt jetzt weitgehend wieder runter. Die Schulen bleiben offen. Wie glücklich sind Sie darüber?
Marlis Tepe: Dass die Schulen möglichst offen bleiben sollen, ist natürlich wünschenswert, weil wir ja das Recht auf Bildung, den Arbeits- und Gesundheitsschutz und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbinden möchten. Deswegen ist es sehr wichtig. Aber man muss natürlich trotzdem dem Gesundheitsschutz einen hohen Vorrang einräumen, und das wird nicht getan.
Tobias Hans (CDU) - "Alles tun, um Schulen und Kindergärten offen zu halten"
Deutschland befinde sich an einem kritischen Punkt, sagte Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) im Dlf. Es gelte, Lockdown-ähnliche Maßnahmen zum Schutz der Gesellschaft und der Wirtschaft zu vermeiden. Das gelinge nur, wenn ein "größtmöglicher Teil der Menschen" sich an die Regeln halte.

Schulz: Inwiefern?
Tepe: Wir haben ja die AHAL-Regeln, Abstand, Hygiene, Atemschutz, Lüften. Der Abstand, auf den wird in den Schulen verzichtet. Das RKI hat empfohlen, ab einer Inzidenz über 50 in den Wechselunterricht zu gehen, um wieder Abstand halten zu können. Das wird kaum gemacht. Das finden wir nicht verantwortungsvoll.
Schulz: In den Wechselunterricht zu gehen hieße, wieder starke Einschnitte beim Präsenzunterricht hinzunehmen. Wäre das aus Ihrer Sicht verantwortungsvoll?
Tepe: Ja! Ich glaube, dass ein Wechselunterricht insofern verantwortungsvoll ist, als man natürlich immerhin regelmäßig Kontakt mit den Schülerinnen und Schülern hat. Das, was das Schwierigste ist, wäre ja die vollständige Schließung, und um das zu vermeiden, den Zwischenschritt Wechselunterricht zu haben, in dem es ja im schlimmsten Fall nicht mal darauf ankäme, voll digital ausgestattet zu sein. Der Wechselunterricht kann ja im täglichen Wechsel passieren oder im wöchentlichen oder im zweitäglichen. Das heißt, dann bekommen die Schülerinnen und Schüler klare Aufgaben gestellt, die sie bewerkstelligen sollen in der Zeit zuhause, und kommen ja auch wieder rein. Die Gefahr bei dem ersten Lockdown war ja, als wir noch nichts wussten, dass so viele Schülerinnen und Schüler verloren gegangen sind, weil die Kommunikation nicht geklappt hat.
"Belastung scheint in den Schulen sehr hoch zu sein"
Schulz: Frau Tepe, wenn wir unterstellen, wovon wir, glaube ich, ausgehen können, dass die Lehrer sich nicht in zwei teilen können, dann liefe ja dieser Wechselunterricht darauf hinaus, dass nur noch 50 Prozent der bisherigen Präsenz in der Schule stattfinden kann. Das wäre ja ein ziemlich tiefer Einschnitt. Wir haben heute Morgen noch mal die Äußerung vom Ministerpräsidenten in Nordrhein-Westfalen, von Armin Laschet gehört, es gebe auch nicht ausreichend Personal, um einen Präsenzunterricht im Wechsel zu stemmen. Oder gebe es, verstehe ich Sie richtig, auch die Bereitschaft der Lehrerinnen und Lehrer, dann Überstunden zu machen, Vormittags- und Nachmittagsunterricht anzubieten?
Tepe: Nein, so würde ich das nicht verstehen, weil die Kolleginnen und Kollegen jetzt schon merken, dass zum Beispiel allein durch die Einhaltung der Hygiene-Maßnahmen sehr viel mehr Aufmerksamkeit die ganze Zeit erfordert wird. Die Belastung scheint in den Schulen sehr hoch zu sein. Aus allen Berichten hört man das.
Schulz: Aber wir wissen ja schon, dass ohne Corona, schon vor Corona der Bildungserfolg in Deutschland relativ stark - relativ sage ich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern - vom Elternhaus abhängig war. Wir wissen, dass dieses Gefälle jetzt im Frühjahr ganz rapide zugenommen hat. Können wir vor diesem Hintergrund wirklich weitere Abstriche beim Präsenzunterricht in Kauf nehmen?
Tepe: Es besteht ja auch die Möglichkeit, in kleinen Gruppen zusätzliche Förderung zu ermöglichen. Die Frage ist ja, wer auf dem Markt jetzt ist gegenüber sonst - die Menschen, die in Integrationskursen gearbeitet haben. Es gibt ja vielleicht auch wieder mehr Menschen auf dem Markt. Aber insgesamt, glaube ich, muss man sich womöglich damit abfinden, dass nicht ganz so viel angeboten werden kann.
"Man hätte klären müssen, welche Schulen Filter brauchen"
Schulz: Was ist denn Ihre Bilanz? Bisher läuft der Präsenzunterricht ja flächendeckend. Wir haben viele Bedenken aus der Lehrerschaft gehört. Das Thema Lüften sei nicht möglich, weil sich die Fenster nicht öffnen lassen. Auch das Thema Hepa-Filter, das läuft schleppend an. Was ist da Ihre Zwischenbilanz?
Tepe: Die Zwischenbilanz ist, dass man zu langsam mit Gefährdungsbeurteilungen auf die einzelnen Schulen zugegangen ist. Man hätte klären müssen, welche Schulen Filter brauchen, weil die Lüftung sonst nicht erfolgen kann. Da sehen wir Versäumnisse. Ich glaube, dass die Kultus-Bürokratie auch so viel eingespart hat an Personal selber, dass sie da niemanden hat, richtig mit vorzudenken.
Schulz: Ich will Ihnen da jetzt nicht zu nahe treten, aber es ist schon der Eindruck vieler Schüler, auch vieler Lehrer und Eltern, die jetzt diese Diskussion verfolgen, dass die Lehrer in der öffentlichen Diskussion, auch die Lehrerschaft vor allem mit Bedenken wahrgenommen wird, was alles nicht geht, was alles nicht funktionieren kann. Wo sind die positiven Impulse? Wo sind die kreativen Ideen, mit denen die Lehrerschaft in Erscheinung tritt?
Tepe: Die Kolleginnen und Kollegen haben viele Ideen gehabt und viele Möglichkeiten ersonnen, mit ihren Schülerinnen und Schülern umzugehen. Die Kultus-Bürokratie hat ja wenig getan, um zu sagen, wie gehen wir jetzt mit den Lücken um, die entstanden sind. Das mussten die Kolleginnen und Kollegen alle selber bewerkstelligen. Das finde ich eine schwierige Sache.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Schulz: Sagen Sie doch mal ein paar konkrete Beispiele.
"Alle Kolleginnen und Kollegen packen an"
Tepe: Was meinen Sie?
Schulz: Konkrete Beispiele, wo man gesehen hat, dass Lehrerinnen und Lehrer wirklich anpacken und nicht im Wesentlichen mit Bedenken in Erscheinung treten? – Ich spreche jetzt über das öffentliche Erscheinungsbild.
Tepe: Alle Kolleginnen und Kollegen packen an. Ich war gerade in der Schule, in der ich selber Lehrerin war. Die packen alle unheimlich an. Die sorgen dafür, dass Hygienemaßnahmen überhaupt ermöglicht werden, die vorher in der Schule gar nicht da waren. Die gucken nach Möglichkeiten, wie man das mit dem Lüften irgendwie hinkriegen kann, wie man die Verbindung schafft. Die schaffen die Möglichkeit, mit wenigen Geräten, wenigen Laptops – im Lehrerzimmer standen bislang immer nur drei PCs -, mit wenig Material so viel wie möglich herzustellen und mit Videokonferenzen und mit Lerntagebüchern die Schülerinnen und Schüler darauf vorzubereiten, dass sie so gut wie möglich eigenständig lernen.
Das ist überhaupt das, was diese Krise deutlich macht, dass das eigenständige Lernen das ist, was jetzt nach vorne gestellt wird, was eigentlich zuletzt immer in den Hintergrund gerückt ist, obwohl wir alle wissen, glaube ich, die Lehrerinnen und Lehrer, dass das selbstständige Lernen der Lernweg der Zeit ist. Anstatt sie auf Einheitsprüfungen vorzubereiten, sollten sie selbstständiger lernen, und das kann man natürlich jetzt besser, wenn auch mehr Tools da sind, Lernmanagement-Systeme eingeführt werden. Da machen ganz viele unheimlich viel los.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.