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Schulsport-Serie (2)
Ein Sportangebot für alle gestalten

Sportbegeistert oder körperlich eingeschränkt, Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund oder mit Förderbedarf – im Sportunterricht können sich Unterschiede stärker bemerkbar machen als in anderen Fächern. Mit der Heterogenität richtig umzugehen ist die große Herausforderung für Sportlehrkräfte.

Von Sabine Lerche |
Die Willkommensklasse beim Sportunterricht
Im Sportunterricht werden Unterschiede besonders deutlich. (Deutschlandradio / Nana Brink)
Im Sportunterricht sollen viele Kinder mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen gemeinsam Sport machen. Nicht so einfach, aber auch nicht neu, stellt Dr. Helga Leineweber fest, am Institut für Sportdidaktik und Schulsport an der Deutschen Sporthochschule Köln: "Sportliche oder unsportliche Schülerinnen und Schüler, kluge und nicht so kluge haben wir immer gehabt. Was neu dazu kommt, ist eine größere kulturelle Heterogenität."
Für muslimische Mädchen etwa seien Kopftuch und lange Kleidung hinderlich und auch die Hilfestellung oder Berührungen mit Jungen sollen nicht stattfinden. Prof. Dr. Christa Cachay, Sportpsychologin aus Bielefeld, sieht darüber hinaus muslimische Mädchen im Sportunterricht in einer Zwickmühle zwischen den Kulturen:
"Dass auch die Mädels, die sich in gewisser Hinsicht anpassen wollen, etwas andere Sportkleidung tragen oder auch bei Sportspielen mal den Kontakt zu männlichen Schüler haben, dass die teilweise von ihren Mitschülern, die muslimischen Glaubens sind, wieder zur Ordnung gerufen werden. Und das ist dann schon ein Gefühl, wo man wirklich dazwischensteht. Man wird von den einen abgelehnt und von den Einheimischen noch nicht so richtig aufgenommen. Und all dies kann natürlich schon zu Gefühlen des Unwohlseins führen."
Eine Sportlehrerin steht vor einer Klasse und macht eine Übung vor.
Schulsport (1) - Auf die Lehrer kommt es anSchulsport - für manche absolutes Lieblingsfach, für andere die schlimmste Stunde in der Woche. Unsere vierteilige Serie beleuchtet den Schulsport von verschiedenene Seiten. Im Fokus: Sportlehrkräfte.
Man könne zum Beispiel von vornherein bei Übungen nicht den Kontakt über die Hände, sondern über Reifen vorgeben. So etwas müsse selbstverständlich, akzeptiert und nicht extra betont und nachgefragt werden, schlägt Cachay vor.
"Man hat ja am Anfang gedacht, der Sportunterricht und der Sport überhaupt ist ein ideales Medium zur Integration, bis man gemerkt hat, dass eben diese kulturellen Differenzen insbesondere eben über die Körperlichkeit vermittelt werden, eigentlich erst richtig das Trennende hervorheben. Und das ist, glaube ich, schon ein Unterschied zum Unterricht in Mathematik oder in anderen Fächern, dass die Unterschiede da plötzlich virulent werden. Das hat man unterschätzt", so die Erkenntnis von Cachay, womit sie ein ganz neues Licht auf die viel propagierte Integration durch Sport wirft.

Körperliche Unterschiede führen zu Scham

Im Sport treten aber nicht nur kulturelle Differenzen markanter auf, auch körperlich treffen ganz unterschiedliche Kinder aufeinander. Sport bedeutet, den eigenen Körper zeigen zu müssen, damit umgehen zu müssen. Wenn das nicht klappt, dann entstehen Scham und Unsicherheit. Das gehöre aber dazu, sagt Martin Röttger, Sportwissenschaftler an der Universität Göttingen:
"Das können wir auch nicht löschen. Selbst wenn wir uns wünschen, den absolut idealen Unterricht zu halten, werden wir immer ein Stück weit Verunsicherung haben, es wird beschämende Momente geben. Also muss der Ansatzpunkt eher darin liegen, wo sind die Bereiche, an denen wir arbeiten können, dass sich das verringert oder dass sie auch keine nachhaltig negativen Erfahrungen auf die Beteiligten im Unterricht haben."
Teilweise hätten negative Erfahrungen sogar dazu geführt, dass sich die Betroffenen noch Jahre später als unsportlich sehen. Der Sportunterricht an sich ist dafür aber nicht alleine verantwortlich. Martin Röttger sieht den Grund für die negativen Momente auch in der Gesellschaft:
"Sportlich im Sportunterricht zu sein, bedeutet immer auch, dass man irgendwie einen gesellschaftlich anerkannten Lebensstil führt. Vor allem aktuell noch viel mehr als früher, wo Sportlichkeit und Körperlichkeit, körperliche Ideale noch viel mehr präsent sind auch in den sozialen Medien, auch für Schüler*innen viel mehr abrufbar sind, ist eben ganz klar: Okay, sehe ich sportlich aus, bin ich sportlich, kann ich mich sportlich bewegen? - Dann entspreche ich irgendwie diesen gesellschaftlichen Idealen."

Sport ist binär

Dazu gehört auch der Druck, sich körperlich einem Geschlecht zuzuordnen. Vor allem für Jungs ist es schwierig, wenn ihnen sogenannten Mädchensportarten besser gefallen, erläutert Sportwissenschaftlerin Dr. Birgit Palzkill:
"Sport ist ja traditionell eine Männerdomäne, sage ich mal. Und es besteht auch im Schulsport die Gefahr, dass Körper und Bewegung nur unter diesem traditionellen männlichen Bild verstanden werden. Also dass hauptsächlich das als Sport gilt, was männlich konnotiert ist. Also vor allen Dingen, die Ballspiele. Und dann fallen natürlich die Kinder und Jugendlichen, die ein anderes Körperbild, ein anderes Körper- und Sportverständnis haben, mit ihren Bedürfnissen weitgehend raus."
Außerdem sei der Sport binär: Die Sportart ist entweder männlich oder weiblich konnotiert. So hätten es LQBTQ-Kinder schwer, ihren Platz zu finden. Lernen, miteinander umzugehen, ist laut Matthias Lorenz vom Bayerischen Kultusministerium aber auch eines der Ziele des Sportunterrichts:
"Heterogenität ist vor diesem Hintergrund im Sportunterricht nicht nur eine große Herausforderung, sondern eine ebenso große Chance: Der Doppelauftrag des Schulsports - die Erziehung zum und durch Sport - hat seinen Ausgangspunkt in der Heterogenität."

Praxis hinkt der Theorie hinterher

Den Umgang mit dieser Vielfalt lernt man am besten in der Praxis und weniger durch pädagogische oder sportwissenschaftliche Theorie. Das ist die Überzeugung von Udo Eversheim. Der Sportlehrer hat das bei seiner Arbeit an ganz unterschiedlichen Schulen erlebt:
"Festzustellen, welche Art von Heterogenität es gibt und dass es gut ist, diese zu berücksichtigen, ist natürlich noch wenig Hilfe für den praktischen Unterricht. Grundsätzlich eine gute Entwicklung, das wahrzunehmen. Und wie man damit umgeht, ist ein Prozess."
Und der ist seiner Meinung nach beim Thema Inklusion, der Integration von Kindern mit Förderbedarf, nicht optimal gelaufen. Für den Praktiker sind inklusive Schulen ein Fortschritt:
"Aber die Umsetzung in der Praxis hat dazu geführt, dass tatsächlich ganz viele riesige Vorbehalte entwickelt haben und das hat viel von der Idee und dem Potenzial kaputtgemacht. Beispielsweise wenn Lehrer nach den Sommerferien in ihre Klasse zurückkommen und haben da plötzlich Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf und konnten sich nicht richtig darauf vorbereiten und müssen plötzlich damit umgehen. Das fördert nicht die Akzeptanz, das fördert nicht die Bereitschaft, das macht auch den Unterricht nicht besser."
Auch Studien belegen, dass die praktische Umsetzung noch ausbaufähig ist. Die "Aktion Mensch" hat 2019 zusammen mit der "Zeit" und dem infas Institut die Bevölkerung zum Thema "Schulische Inklusion" befragt: Über 50 Prozent der Befragten finden, dass die Lehrkräfte nicht gut genug für einen inklusiven Unterricht ausgebildet sind. Dass inklusive Schulen aber positive Effekte haben, davon sind die meisten, nämlich 75 Prozent, überzeugt.