Münchenberg: Herr Schulte, es soll keine Gewinner und Verlierer bei den Tarifverhandlungen geben; zumindest in diesem Punkt waren sich Arbeitgeber wie die IG Metall weitgehend einig. Nun hat aber die IG Metall, in Baden-Württemberg zumindest, mit Hilfe von Streiks das erreicht, was sie unbedingt haben wollte, nämlich eine ‚vier' vor dem Lohnkomma. Trotzdem: Die Arbeitgeber in Sachsen und Sachsen-Anhalt lehnen den Abschluss ab. Ist die IG Metall in Baden-Württemberg also nicht doch am Ende über das Ziel hinausgeschossen?
Schulte: Nein, ich glaube nicht, denn gerade, wie die Situation und die Diskussion vorher war - es war in Baden-Württemberg schwer genug, diesen Abschluss zu erzielen, denn sonst wäre der Streik ja nicht nötig gewesen. Er war aber notwendig, weil die Arbeitgeber sich da verweigert hatten. Und dass er nicht automatisch übernommen wird, ein derartiger Pilotvertrag, das ist ja auch nicht außergewöhnlich. Denn fast nach jeder Tarifrunde - wenn es darum ging, derartige Pilotabschlüsse zu übernehmen - hat es immer wieder Schwierigkeiten gegeben. Bis hin zu erneuten Streiks, denn die Arbeitgeber haben gesagt: ‚Wir übernehmen nicht automatisch'. Das ist auch nicht zu erwarten, denn wenn man einen Tarifvertrag in einer Region abschließt, dann kann man zwar empfehlen, ihn zu übernehmen, aber die Partner - sowohl Gewerkschaften als auch Arbeitgeber in den übrigen Bundesländern - sind autonom, ob sie dies tun. In dem Fall verweigern sich die Arbeitgeber. Allerdings kann ich nur dringend empfehlen, sich noch einmal mit der Chronologie auseinanderzusetzen - bis hin zu dem Abschluss in Baden-Württemberg. Ich kann nur aufgrund dessen dringend empfehlen, sich noch einmal zu überlegen, ob es nicht sinnvoller ist, diesen Tarifvertrag, der ja mehrere Möglichkeiten auch beinhaltet - wenn ich den gemeinsamen Entgelttarif, wenn ich die Laufzeitformeln sehe, die Anrechnung beim gemeinsamen Entgelt sehe -, dass man sich dem nochmal nähert, nochmal zu Verhandlungen kehrt und dann doch hoffentlich zu einer Übernahme des Ergebnisses kommt, auch wenn es im Augenblick in dem Bereich nicht so aussieht.
Münchenberg: Trotzdem - schaut man sich mal die Reaktionen an auf diesen Tarifabschluss in Baden-Württemberg, dann sind die ja alles andere als positiv. Wirtschaftsminister Werner Müller hat ihn vornehm zurückhaltend als ‚gerade noch akzeptabel' bezeichnet. Die Wirtschaft hat ihn massiv kritisiert - mit dem Verweis auf die Konjunktur. Muss man nicht trotzdem sagen: Am Ende fällt der Sieg der Gewerkschaften zu teuer aus?
Schulte: Nein, also da habe ich eine vollkommen andere Einschätzung. Dass es natürlich in dieser Gesellschaft Leute oder Gruppen gibt, die nach einem Tarifabschluss sofort wieder auftreten und sagen, was falsch war oder was unzureichend ist oder wo es überzogen ist, die wird es immer geben, die hat es in der Vergangenheit auch gegeben. Und die Urteile der Wirtschaft - oder der Wirtschaftsvertreter in dem Falle -, die sollen sich doch gefälligst endlich daran erinnern: Sie sind ja mit ihren Vertretern vertreten in diesen Verhandlungen und Beratungen, und wenn die Unterschrift geleistet worden ist, ist das auch im Sinne der Unternehmen. Wenn man daran mitgewirkt hat, dann kann man nicht hinterher das bedauern - es sei denn, dass man für eine Branche spricht, die im Augenblick scheinbar nicht betroffen ist und dass man von daher dann den Mund manchmal aufreißt. Also, dies Ergebnis selber - in der Form, auch in den Möglichkeiten - in Baden-Württemberg hat doch Komponenten, die im Grunde genommen von beiden Seiten gewollt waren. Die eine Komponente ist, eine Laufzeit zu erhalten, die über längere Zeit Berechenbarkeit herstellt: 22 Monate. Da hat man doch wohl auch dem Wunsch der Arbeitgeber Rechnung getragen. Das Zweite ist ein der Höhe vernünftiges Ergebnis. Das sind vier Prozent, wo ja auch eine nachlaufende Erwartungshaltung war. Darüber waren sich auch die Arbeitgeber vorher im klaren.
Münchenberg: Sie sagen, der Tarifabschluss war ein Erfolg, der konjunkturelle Schaden ist in jedem Fall gering. Dennoch hat ja zum Beispiel die IG Chemie gezeigt, dass man auch anders verhandeln kann, nämlich dass man eben keinen Streik braucht. Sollte nicht auch einmal die IG Metall endlich ihre Verhandlungsdramaturgie überdenken, indem man zum Beispiel das Element der Schlichtung früher einbaut?
Schulte: Lassen Sie mich einen anderen Vorschlag machen: Lassen Sie uns die Arbeitgeber mal auswechseln. Ja, wissen Sie, es wird immer der Eindruck erweckt - jetzt auch wieder durch Ihre Feststellung, durch diese These -, als wenn es die Organisation der IG Metall ist, die da so gewisse Dinge hervorgerufen hat, provoziert hat. Diesen Arbeitskampf haben die Arbeitgeber in Baden-Württemberg und hier in Berlin-Brandenburg zu vertreten gehabt . . .
Münchenberg: . . . aber auch die Gewerkschaft hatte sehr früh vom Streik gesprochen . . .
Schulte: . . . aber selbstverständlich, gerade das ist doch nicht neu. Ich erinnere mich noch an Situationen in Tarifgebieten - wenn der Tarifvertrag seinem Ende zuging, hat man gesagt: ‚Also, diesmal werde wir kräftig zulangen, und wenn es nicht auf dem Verhandlungswege möglich ist, dann wird es nicht sehr moderat zugehen.' Das war doch immer so. Und ob das bei der IG BCE anders war ? Erstens hatten doch eine andere Forderung gehabt. Das muss man doch dabei bedenken. Sie sah anders aus als die bei der IG Metall. Die Branche ist anders strukturiert und ist auch vom Finanziellen her anders ausgestattet bzw. vom wirtschaftlichen Ergebnis. Ich bin heilfroh, dass sich Tarifverträge von Branchen und innerhalb von Gewerkschaften nach wie vor unterschiedlich darstellen, differenziert gesehen werden und auch unterschiedliche Höhen haben. Das erklärt doch gerade, dass es da nicht irgendwelche pauschalen Forderungen gibt. Und was das von Ihnen skizzierte Ritual anbetrifft: Also, ich kann Ihnen nur sagen: Meine Kolleginnen und Kollegen, die bei der IG Metall direkt am Geschehen beteiligt waren, die wären liebend gerne nach zwei oder drei Verhandlungen zum Abschluss gekommen. Stellen Sie die Frage an den Arbeitgeber. Das sind diejenigen - das hat sich ja auch erwiesen -, die bis zur letzten Verhandlung vor dem Arbeitskampf eben den möglichen Kompromiss nicht eingegangen sind, obwohl die IG Metall da bereits ziemlich weit gegangen ist.
Münchenberg: Rechnen Sie denn jetzt mit einem baldigen Abschluss auch etwa in Sachsen und Sachsen-Anhalt, nachdem der Abschluss in Baden-Württemberg ein Pilotabschluss ist?
Schulte: Also, ich glaube schon. Ich hatte vorhin schon einmal darauf verwiesen, dass man, wenn man sich in Ruhe noch einmal zusammensetzt und sagt: ‚So, welches sind die einzelnen Elemente eines derartigen Tarifergebnisses, wie wichtig ist uns eine sehr lange - gegenüber normalen Abschlüssen - Laufzeit?' Dann werden hoffentlich die Klügeren und die Vernünftigen bei den Arbeitgebern siegen, die dann sagen: ‚Gut, dann lasst uns das mal machen', denn wann bekommen Sie die Möglichkeit, über zwei Jahre ihre Preise an Hand ihrer Kosten durch die Löhne so lange zu kalkulieren. Und wenn sie neu verhandeln, wenn sie einen Streik provozieren, dann müssen sie sich im klaren sein: Wenn sie nicht das Ergebnis Baden-Württemberg annehmen, dann fangen sie bei Null an. Dann steht die Frage von 6,5 Prozent . . .
Münchenberg: . . . das ist eine Drohung . . .
Schulte: . . . das ist keine Drohung, das ist eine Feststellung. Ich meine, so sind einmal die Spielregeln bei der Auseinandersetzung, denn die Drohung sprechen die Arbeitgeber aus, indem sie sagen: ‚Nein, wir übernehmen das nicht'. Und sie provozieren dadurch wieder eine Situation, die nach meiner Meinung nach nicht herbeigeführt werden muss. Aber wenn sie dann nicht auszuschließen ist, dann zwingt man die IG Metall dazu in den Bereichen, wo man den Tarifvertrag nicht übernimmt - man kann ja nicht ohne sein. Und wenn man dann in 6 - 8 Wochen darüber redet oder vielleicht in einem Jahr darüber redet, dann gibt es wahrscheinlich sehr viele Menschen auf der Arbeitgeberseite, die dann sagen: ‚Hätten wir mal lieber damals übernommen'. Dann ist es zu spät - noch besteht die Möglichkeit.
Münchenberg: Herr Schulte, wir haben bekanntlich die Tarifautonomie. Gleichzeitig finden aber auch im Herbst die Bundestagswahlen statt. Wie groß war denn der Druck aus dem Kanzleramt hinter den Kulissen?
Schulte: Nein, überhaupt nicht. Also, es ist jetzt nicht eine Pflichtaussage oder so, sondern ich habe ja zwischendurch während dieser Auseinandersetzung direkt, aber auch im Vorfeld auch Gespräche gehabt im Kanzleramt und mit dem Kanzler selber. Ich habe während des 1. Mai zur Tarifpolitik Stellung genommen im Beisein des Bundeskanzlers. Ich kenne die Position des Bundeskanzlers und ich kann nur auch heute ganz deutlich sagen: Das Verhalten war o.k.
Münchenberg: Die Umfragewerte für Rot-Grün sind bekanntlich schlecht. Rechnen Sie denn damit, dass es die Koalition noch einmal schafft?
Schulte: Ja, aber sicher rechne ich damit, weil ich hin und wieder da mal hingehe und mir vergleichbare vier Jahre - rückwärts betrachtet - mal anschaue, wie es zum Beispiel 94 oder 98 ausgesehen hat. Und da muss man feststellen: Es gibt keinen Automatismus. Es war in 94 so, dass zum gleichen Zeitpunkt - also wenige Monate vor der Wahl - für die Sozialdemokraten es absolut schon sicher war, dass sie die Regierung übernehmen. Wie wir alle wissen, ist Kohl drangeblieben. Anfang 98 hat es auch nicht definitiv danach ausgesehen, als wenn die Sozialdemokraten stärkste Partei würden. Also, insofern habe ich da im Augenblick keine Angst, sondern es mag sogar so ein bisschen heilsamer Zwang darin liegen, dass natürlich diejenigen, die vielleicht schon nach der kurzen Zeit ein bisschen satt geworden sind oder auch ein bisschen zum Normalen übergegangen sind, dass die also merken: In der Politik geht das nicht. Man muss sich den Herausforderungen permanent stellen. Es gibt weiterhin Herausforderungen, denen muss man begegnen.
Münchenberg: Können Sie da mal konkret werden? Auf dem Gewerkschafts-kongress sollen ja auch die Forderungen explizit formuliert werden. Was erwarten denn die Gewerkschaften - jetzt gerade auch von Rot-Grün - noch für die kommenden Monate, für das Wahlprogramm?
Schulte: Also, eines wird mit Sicherheit auch auf dem Kongress Priorität haben, aber auch dann in den folgenden Wochen und Monaten. Und das heißt, wir haben ein Thema behandelt: Tarifautonomie. Das, was sich durch den Tarifvertrag jetzt als gefestigt nochmal dargestellt hat, wird ja von einigen anderen Parteien in ihren Wahlprogrammen in Frage gestellt - ob ich jetzt das Wahlprogramm der CDU nehme - das der FDP will ich gar nicht beurteilen, denn sie ist eine typische Klientelpartei. Mit den Ansprüchen, die im Augenblick an sich selber von ihnen gestellt werden, steht die Frage der Ernsthaftigkeit dahinter. Und bei den Sozialdemokraten sind Bekenntnisse enthalten über die Frage Sicherung der Tarifautonomie. Ich habe eben gerade gesagt, was das Verhalten des Kanzlers in dieser Frage angeht. Aber es endet damit ja nicht, sondern dieser Druck wird ja weiterhin geschehen. Wir wissen, dass in den Schubladen bereits etwas liegt: ‚Günstigkeitsprinzip ist etwas, was disponibel sein soll'. Man spricht als Nächstes darüber, ob man nicht kaum erworbene Rechte - Betriebsverfassungsgesetz - nicht wieder zurücknehmen kann - Programm der CDU. Ich halte es für einen Skandal, wenn man jetzt nach kurzer Zeit, nachdem die Ergebnisse noch gar nicht umgesetzt worden sind durch die Wahlen in letzter Konsequenz in allen Bereichen, bereits darüber nachdenkt. Und deshalb steht da im Vordergrund unsere Forderung an die Parteien, an die Politiker, dass wir sagen: So, wer wird überzeugend uns nachweisen, dass er sich einsetzt für den Erhalt der Tarifautonomie, für die Mitbestimmung in den Betrieben und für die Novellierung, nicht für Kürzungen?
Münchenberg: Aber doch am Ende eine klare Positionierung: Rot-Grün soll nochmal eine Legislaturperiode bekommen.
Schulte: Ja, ich bilanziere auf der einen Seite und sage: Was ist in den letzten vier Jahren eingetreten? Ich sage ganz klar, es gibt uneingeschränkte positive Ergebnisse: Ich fange bei der Wiederherstellung der Lohnfortzahlung an. Das war vollkommen in Ordnung, ist vorher zugesagt worden, man hat es umgesetzt. Ist das nicht normal? Man hat es also umgesetzt, man hat's getan. Man hat uns zugesagt gehabt, dass man die Betriebsverfassung reformieren will. Dies ist umgesetzt worden - selbstverständlich nicht, wie gewünscht, in all den Punkten, die wir noch zusätzlich genannt hatten, aber die Elemente sind vorhanden. Es ist drittens festgestellt worden, dass wir zur Sicherung des Sozialstaates eine neue Basis brauchen, um das System der hälftigen Finanzierung zu erhalten, eine Rentenstrukturreform eingeleitet haben. Auch hier sind wir nicht in allen Punkten unisono auf einen Nenner gekommen, aber es war gut, es verschafft also Sicherheit. Wir haben eine Steuerpolitik, die wir gefordert haben und eingeleitet haben, die zumindest temporär zur Entlastung der Arbeitnehmerhaushalte geführt hat in niedrigen und mittleren Einkommen. Dass dies zum Teil kompensiert wurde, hat andere Gründe, wie wir wissen, die nicht unbedingt voraussehbar waren. Wir habe Kröten schlucken müssen beim finanzpolitischen Teil - wenn ich an die Steuerfreiheit der Veräußerungsgewinne denke . . .
Münchenberg: . . . und es bleibt das große Problem ‚Arbeitsmarkt' . . .
Schulte: . . . es bleiben zwei Probleme. Das eine ist - weil ich mit den Fragen zur Finanz- und Wirtschaftspolitik noch nicht zu Ende bin: Wir werden eine Einnahmeverwaltung durchführen müssen, denn wenn ich da nur denke, was ja zum Teil versprochen, aber was auch gesellschaftspolitisch notwendig ist: Das macht eine Verbreitung der Einnahmenseite der Bundesregierung erforderlich.
Münchenberg: Lassen Sie uns noch einmal auf das Verhältnis zwischen Bundesregierung und Gewerkschaften zu sprechen kommen. Sie haben selber gesagt, die Bilanz fällt relativ positiv aus, weil die Bundesregierung auch viel umgesetzt hat, was den Interessen der Gewerkschaften entspricht. Auf der anderen Seite gab es ja auch Verstimmungen. Nehmen wir mal das Bündnis für Arbeit, wo man sich ja zum Schluss nicht mehr geeinigt hat, wo auch kaum noch Ergebnisse herausgekommen sind. Wie hat sich dieses Verhältnis verändert, hat es sich überhaupt ins Negative verändert?
Schulte: Nein, ich glaube, wenn man das Ergebnis des letzten Bündnisgespräches nehmen, in dem es ja kein Ergebnis gegeben hat, das aber auch ein Ergebnis war, denn die Forderung der Arbeitgeber war, eine klare Aussage zur Tarifpolitik zu erhalten, dass die Bundesregierung sich einmischt, über Indexklauseln und über Lohnleitlinien redet. Die Bundesregierung hat gesagt ‚nein', der Bundeskanzler hat gesagt ‚nein'. Und deshalb hat es kein Ergebnis gegeben. Und deshalb sage ich: Es war schon wichtig, man hat natürlich eine andere Erwartungshaltung gehabt, aber nochmal deutlich gesagt: Man hat auch gesagt, für was man sich nicht zuständig erklärt. Und das, was im Vorfeld gelaufen ist in den Bündnisrunden, das mag bei der Erwartungshaltung des einen oder anderen vielleicht nicht genügend aussehen. Aber wenn ich mir die Situation - Beginn der Gespräche Dezember 1998 bis zum heutigen Tage, bis zu diesem Jahr - ansehe, welche Impulse ausgelöst wurden, welche Dinge eingeleitet wurden: Wir sprechen über das Job-Aktiv-Gesetz, um zu mehr Beschäftigung zu kommen im Konkreten. Wo war denn der Auslöser? Er lag im Bündnis für Arbeit - durch gemeinsame Auffassung, Dinge verändern zu müssen.
Münchenberg: Trotzdem - Sie wissen, das Bündnis ist für den Kanzler ein Lieblingsprojekt. Da hat er sehr viel Energie investiert, und es ist natürlich auch ein Prestigeobjekt für die Regierung. Es kam wenig raus in der letzten Runde, das haben Sie selber gesagt. Hat es nicht doch zu einer gewissen Entfremdung geführt zwischen beiden Seiten?
Schulte: Nein, nein. Ich gehöre zu den wenigen, die ja im Grunde genommen sowohl die Gespräche, die nicht unbedingt ‚Bündnis für Arbeit'-Gespräche hießen, aber diese sogenannten ‚Elefantenrunden' zwischen 1994 und 96 - und den Ergebnissen 98 bis jetzt mitgemacht haben. Und selbstverständlich - ich habe vorhin schon einmal von der Erwartungshaltung gesprochen - sind verschiedene Dinge, wo wir stärkeren Druck erwartet haben. Wenn ich an beschäftigungspolitische Situationen denke, dann hätte ich mir von dieser Bundesregierung nicht nur vielleicht, sondern auch von diesem Bundeskanzler im vergangenen Jahr mehr Druck auf die Arbeitgeber versprochen. Das es zum Beispiel im Fall der Frage der Überstunden konkretere Hinweise auf Abbau von Überstunden und damit auch auf Beschäftigungswirksamkeit gegeben hätte. Insofern hat es Impulse gegeben im Bündnis für Arbeit, die hervorragend waren. Aber dann hat der Druck nachgelassen, und ohne Druck reagieren die Arbeitgeber nicht.
Münchenberg: Lassen Sie uns mal in die Zukunft schauen. Ich meine, egal, unter welcher Regierung: Es wird ja ein Bündnis geben. Werden die Gewerkschaften weiter daran teilnehmen, egal ob die Regierung jetzt CDU/CSU-FDP heißt oder Rot-Grün?
Schulte: Aber ich habe da eine - ich glaube - bekannte Position. Ich habe gesagt: Ein Bündnis ist der Versuch, gesellschaftspolitische Entscheidungen, die notwendig sind, gemeinsam herbeizuführen. Das kann nicht jeder für sich, dazu muss man Allianzen eingehen. Und da reden wir mit denen, die die Regierungsverantwortung haben - ob das von der Farbenlehre rot-grün ist, ob es gelb-schwarz sein wird oder welche Konstellation da immer möglich sein wird. Wir tun das nicht zum Selbstzweck, sondern wir halten es für dringend erforderlich, die Gespräche auch weiterhin zu führen, unabhängig von der jeweiligen Einschätzung. Wir müssen es lösen, und ich glaube auch, innerhalb der Gesellschaft bei Umfragen stellt man also fest, dass die Mehrheit der Menschen sagt: ‚Jawohl, Ihr müsst aufeinander zugehen'. Diese absolute Polarisierung, die scheinbar von einigen gewünscht wird, ist in der Minderheit . . .
Münchenberg: . . . aber macht denn eine neue Bündnisrunde kurz vor den Wahlen noch Sinn - die ja jetzt im Gespräch ist?
Schulte: Ich glaube schon, denn wir hatten uns ja vorgenommen gehabt im vergangenen Jahr noch - ich lasse mal die Runde im Frühjahr diesen Jahres außen vor -, wir hatten uns vorgenommen gehabt, die miteinander besprochenen Instrumente - festgeschriebenen Instrumente - umzusetzen und dann festzustellen: Wo sind noch Defizite, wo muss man noch Zusätzliches tun? Und das war eine Erkenntnis dann auch in der letzten Runde, in der wir kein Ergebnis, aber ein klares Bekenntnis - Tarifautonomie hat dort nichts zu suchen - festgestellt haben. Wir haben gesagt - beschäftigungspolitisch -: Bei vier Millionen Arbeitslosen sind wir nicht in einer so komfortablen Lage, als wenn wir im Rahmen des Wahlkampfes jetzt Stillstand bis September oder darüber hinaus üben können.
Münchenberg: Aber da kommt doch nur Propaganda raus.
Schulte: Ich weiß es nicht. Es liegt daran, wie man das vorbereitet. Wenn wir sagen: Nun lasst uns das Job-Aktiv-Gesetz - ob jetzt nun in Deutschland 1,2 Millionen offene Stellen sind, wie von einigen behauptet, oder 800.000, das soll mir erst einmal egal sein - lasst uns darauf verständigen, wie wir das Instrument konkret anwenden. Wenn es nur 400.000 offene Stellen sind, die wir in vier Monaten besetzen können, würde das eine Reduzierung von 10 Prozent der Arbeitslosigkeit bedeuten.
Münchenberg: Eine klare Aussage: Die Gewerkschaften werden an einer neuen Runde auch kurz vor den Wahlen nochmal teilnehmen?
Schulte: Ich bin der festen Überzeugung. Wir haben uns unmittelbar danach einvernehmlich dazu geäußert und haben gesagt: Wenn es sinnvoll erscheint - und das ist sinnvoll, wenn es um die Umsetzung eingeleiteter Maßnahmen geht -, dann stehen wir zur Verfügung.
Münchenberg: Sie haben vorhin schon mal das Wahlprogramm der Union angesprochen und eigentlich wenig Gutes dran gelassen. Gibt es denn irgend etwas, wo sie über das Wahlprogramm der Union sagen - das gefällt mir auch als Gewerkschafter?
Schulte: Das gilt nicht nur für das Wahlprogramm der CDU, ich habe auch zum Wahlprogramm der SPD natürlich kritische Punkte. Ich beschäftige mich deshalb in erster Linie damit, wo ich erkennbar sehe, dass man sich entfernen will. Was positiv ist: Dass sie sagen, wir müssen bei der Frage zusätzlicher Beschäftigungsmöglichkeiten neue Wege gehen. Wenn dann aber nur Niedriglohn dahinter steht, dann sage ich, das ist nicht o.k. Wenn man sagt, wir gehen neue Wege, dann muss man vielleicht auch Formen finden - Klammer auf - (‚Mainzer Modell') - also Formen finden der Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen oder Alleinstehenden oder wie auch immer. Da sage ich: Ja, da gehen wir mit. Da gibt es Ansätze, und auch in einem Gespräch, das ich in dieser Woche mit der Parteivorsitzenden Frau Merkel geführt habe, haben wir gesagt: An der Stelle werden wir uns näherkommen. Die zweite Frage: Die grundsätzlichen Fragen der Mitbestimmung. Natürlich muss die Formen der Partizipation müssen erhalten bleiben. Nur, wenn wir in die Details hineinkommen, dann stellt man also sehr schnell fest, dass da Unterschiede sind. Wenn ich das Programm der Sozialdemokraten nehme, wo wir ja versucht haben, genau wie bei der CDU auch, gewerkschaftspolitische Überlegungen hineinzubekommen - wir können nicht die Feder halten - aber wir haben versucht, da Einfluss zu nehmen. Wir vermissen in dem Programm, dass - weil wir den Streik vorhin kurz miteinander besprochen haben - zur Frage der Aussperrung etwas gesagt wird. Es steht nicht mehr im Programm. Es ist eine Vereinfachung, die Möglichkeiten der Einführung des Verbandsklagerechtes, damit wir auch Zusammenhalt bei den Tarifverträgen erhalten. Das war zugesagt, oder zumindest hat man's nicht außerhalb gestellt. Das steht auch nicht mehr drin. Also, ich habe da auch kritische Punkte, aber wenn ich abwäge zwischen den Dingen, die die Zustimmung der Gewerkschaften findet und ihre Ablehnung - wenn explizit bei der CDU drin steht, dass man erneut über das Betriebsverfassungsgesetz reden will und will es schleifen, dann wird weniger daraus; ich kenne keinen Prozess aus der Physik, dass nach dem Schleifen mehr besteht.
Münchenberg: Herr Schulte, es war in dieser Woche auch sehr viel die Rede von der Globalisierung und auch von den Ängsten der Menschen gegenüber des internationalen Wettbewerbsdrucks, gegenüber der Globalisierung. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in diesem Zusammenhang auch vor einem ‚neuen Gespenst' gewarnt, das in Europa umgeht, nämlich das Gespenst des Rechtsextremismus. Ist das nicht aber auch auf der anderen Seite ein Eingeständnis, dass die demokratischen Parteien in vielen Bereichen versagt haben?
Schulte: Ich glaube, das wäre zu einfach. Ich möchte mal beginnen mit der Rede des Bundespräsidenten, der ja auch jetzt gerade zum Thema der Globalisierung gesprochen hat. Und ich muss Ihnen sagen, dass 70 bis 80 Prozent der Aussagen, die er gemacht hat, nicht neu waren - das war auch kaum zu erwarten -, aber die von der Tendenz her die volle Zustimmung und Unterstützung der Gewerkschaften gefunden haben. Ich muss sagen: Globalisierung ist eine Chance, wir müssen die Menschen nur mitnehmen können, dann reduziert sich die Anzahl der Verlierer in dieser Sache. Das setzt aber auch voraus, dass man neue Stellenwerte bekommt - ich will nun keine neue Wertedebatte bekommen, aber es hebt natürlich daraufhin ab. Das heißt, eines der elementaren Punkte ist die Frage der Glaubwürdigkeit. Wenn die Menschen keine Glaubwürdigkeit mehr in die Politik haben, dann werden sie sich Extremen zuwenden.
Münchenberg: Müssen sich denn nicht auch die Gewerkschaften zum Teil den Vorwurf gefallen lassen, dass sie immer weniger die richtigen Antworten haben auf die Fragen. Nehmen wir nur den Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften: In den letzten 10 Jahren gab es einen Mitgliederverlust von drei Millionen. Ist das nicht auch ein Indiz dafür, dass auch die Gewerkschaften ein Stück weit den Bezug zur Basis verloren haben?
Schulte: Ich meine, eines ist sicher - dass nicht in dem Umfang auch von uns auf die offenen Fragen sofort Antworten gegeben wurden oder gegeben werden können. Ich halte das nicht einmal für eine Schwäche, sondern vielleicht ist das eher der Beweis dafür, dass wir zu lange versucht haben, auf alle Möglichkeiten sofort zu antworten, auf alle Fragen sofort zu antworten. Das erklärt für mich auch so ein bisschen das distanzierte Verhältnis zur Jugend. Denn wenn die gefragt haben, haben wir denen irgend etwas erzählt, haben gesagt: ‚Beschäftigt Euch mal damit', sind aber nicht tiefer darauf eingegangen. Es gibt auf bestimmte Fragestellungen eben nicht ‚die' Antwort. Und deshalb ist mit dem Fragestellenden in einen Dialog zu treten und zu sagen: Wo können mögliche Ansätze liegen - auch für uns als Gewerkschaften.
Münchenberg: Wird das eine zentrale Aufgabe für Michael Sommer sein, der ja den DGB-Vorsitz nächste Woche übernehmen wird?
Schulte: Michael wird mit Sicherheit erst einmal mit den normalen Aufgaben, die alltäglich anstehen, mit denen man sich kurzfristig auseinandersetzen muss - als Teil seiner zukünftigen Arbeit auseinandersetzen. Ansonsten wird er, und das ist das Phantastische dabei, als neuer Vorsitzender die Situation, die ich versucht habe, gerade zu schildern, mit seinen Überlegungen in Übereinstimmung bringen und strategisch entwickeln müssen. Denn die Situation, die hier in Deutschland und in Europa herrscht, die ist - ob jetzt Schulte da ist oder Sommer da ist - gleich, die ist unveränderlich. Aber vielleicht neue Antworten zu finden, neue Aspekte herauszufinden, die Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der Beschäftigungspolitik vielleicht noch schneller und noch näher kommen lassen - ich glaube, das wird die zukünftige Aufgabe sein an erster Stelle. Und daran wird sich dann in der Konsequenz auch messen lassen, dass die Gewerkschaften nach meiner Überzeugung nach wie vor den Stellenwert haben, auch wenn Mitgliederstärke natürlich Mächtigkeit ist.
Münchenberg: Was macht denn der Rentner Schulte nach dem Gewerkschaftskongress?
Schulte: Sich sehr viele Gedanken über die Fehler zu machen, die ich in meinem Leben begangen habe. Schau'n wir mal. Also, auf jeden Fall gibt es keinen Job in irgendeiner Art mehr, sondern ich werde das tun, zu dem ich in der Vergangenheit wenig Zeit hatte. Ich habe fast 50 Jahre meines Lebens gearbeitet, das war gut so. Und es ist aber auch gut so, dass man irgendwo dann damit sein Ende findet. Ich gehe mit ruhigem Gewissen und ich bin auch ein bisschen zuversichtlich. Und die Frage, ob man die an sich selber gestellten Aufgaben hat bewältigen können, werden die Historiker irgendwann beurteilen müssen. Ich habe zumindest das Gefühl, dass ich nicht allzu viele Näpfe erwischt habe. Das ist ja manchmal schon ein gutes Zeichen.
Schulte: Nein, ich glaube nicht, denn gerade, wie die Situation und die Diskussion vorher war - es war in Baden-Württemberg schwer genug, diesen Abschluss zu erzielen, denn sonst wäre der Streik ja nicht nötig gewesen. Er war aber notwendig, weil die Arbeitgeber sich da verweigert hatten. Und dass er nicht automatisch übernommen wird, ein derartiger Pilotvertrag, das ist ja auch nicht außergewöhnlich. Denn fast nach jeder Tarifrunde - wenn es darum ging, derartige Pilotabschlüsse zu übernehmen - hat es immer wieder Schwierigkeiten gegeben. Bis hin zu erneuten Streiks, denn die Arbeitgeber haben gesagt: ‚Wir übernehmen nicht automatisch'. Das ist auch nicht zu erwarten, denn wenn man einen Tarifvertrag in einer Region abschließt, dann kann man zwar empfehlen, ihn zu übernehmen, aber die Partner - sowohl Gewerkschaften als auch Arbeitgeber in den übrigen Bundesländern - sind autonom, ob sie dies tun. In dem Fall verweigern sich die Arbeitgeber. Allerdings kann ich nur dringend empfehlen, sich noch einmal mit der Chronologie auseinanderzusetzen - bis hin zu dem Abschluss in Baden-Württemberg. Ich kann nur aufgrund dessen dringend empfehlen, sich noch einmal zu überlegen, ob es nicht sinnvoller ist, diesen Tarifvertrag, der ja mehrere Möglichkeiten auch beinhaltet - wenn ich den gemeinsamen Entgelttarif, wenn ich die Laufzeitformeln sehe, die Anrechnung beim gemeinsamen Entgelt sehe -, dass man sich dem nochmal nähert, nochmal zu Verhandlungen kehrt und dann doch hoffentlich zu einer Übernahme des Ergebnisses kommt, auch wenn es im Augenblick in dem Bereich nicht so aussieht.
Münchenberg: Trotzdem - schaut man sich mal die Reaktionen an auf diesen Tarifabschluss in Baden-Württemberg, dann sind die ja alles andere als positiv. Wirtschaftsminister Werner Müller hat ihn vornehm zurückhaltend als ‚gerade noch akzeptabel' bezeichnet. Die Wirtschaft hat ihn massiv kritisiert - mit dem Verweis auf die Konjunktur. Muss man nicht trotzdem sagen: Am Ende fällt der Sieg der Gewerkschaften zu teuer aus?
Schulte: Nein, also da habe ich eine vollkommen andere Einschätzung. Dass es natürlich in dieser Gesellschaft Leute oder Gruppen gibt, die nach einem Tarifabschluss sofort wieder auftreten und sagen, was falsch war oder was unzureichend ist oder wo es überzogen ist, die wird es immer geben, die hat es in der Vergangenheit auch gegeben. Und die Urteile der Wirtschaft - oder der Wirtschaftsvertreter in dem Falle -, die sollen sich doch gefälligst endlich daran erinnern: Sie sind ja mit ihren Vertretern vertreten in diesen Verhandlungen und Beratungen, und wenn die Unterschrift geleistet worden ist, ist das auch im Sinne der Unternehmen. Wenn man daran mitgewirkt hat, dann kann man nicht hinterher das bedauern - es sei denn, dass man für eine Branche spricht, die im Augenblick scheinbar nicht betroffen ist und dass man von daher dann den Mund manchmal aufreißt. Also, dies Ergebnis selber - in der Form, auch in den Möglichkeiten - in Baden-Württemberg hat doch Komponenten, die im Grunde genommen von beiden Seiten gewollt waren. Die eine Komponente ist, eine Laufzeit zu erhalten, die über längere Zeit Berechenbarkeit herstellt: 22 Monate. Da hat man doch wohl auch dem Wunsch der Arbeitgeber Rechnung getragen. Das Zweite ist ein der Höhe vernünftiges Ergebnis. Das sind vier Prozent, wo ja auch eine nachlaufende Erwartungshaltung war. Darüber waren sich auch die Arbeitgeber vorher im klaren.
Münchenberg: Sie sagen, der Tarifabschluss war ein Erfolg, der konjunkturelle Schaden ist in jedem Fall gering. Dennoch hat ja zum Beispiel die IG Chemie gezeigt, dass man auch anders verhandeln kann, nämlich dass man eben keinen Streik braucht. Sollte nicht auch einmal die IG Metall endlich ihre Verhandlungsdramaturgie überdenken, indem man zum Beispiel das Element der Schlichtung früher einbaut?
Schulte: Lassen Sie mich einen anderen Vorschlag machen: Lassen Sie uns die Arbeitgeber mal auswechseln. Ja, wissen Sie, es wird immer der Eindruck erweckt - jetzt auch wieder durch Ihre Feststellung, durch diese These -, als wenn es die Organisation der IG Metall ist, die da so gewisse Dinge hervorgerufen hat, provoziert hat. Diesen Arbeitskampf haben die Arbeitgeber in Baden-Württemberg und hier in Berlin-Brandenburg zu vertreten gehabt . . .
Münchenberg: . . . aber auch die Gewerkschaft hatte sehr früh vom Streik gesprochen . . .
Schulte: . . . aber selbstverständlich, gerade das ist doch nicht neu. Ich erinnere mich noch an Situationen in Tarifgebieten - wenn der Tarifvertrag seinem Ende zuging, hat man gesagt: ‚Also, diesmal werde wir kräftig zulangen, und wenn es nicht auf dem Verhandlungswege möglich ist, dann wird es nicht sehr moderat zugehen.' Das war doch immer so. Und ob das bei der IG BCE anders war ? Erstens hatten doch eine andere Forderung gehabt. Das muss man doch dabei bedenken. Sie sah anders aus als die bei der IG Metall. Die Branche ist anders strukturiert und ist auch vom Finanziellen her anders ausgestattet bzw. vom wirtschaftlichen Ergebnis. Ich bin heilfroh, dass sich Tarifverträge von Branchen und innerhalb von Gewerkschaften nach wie vor unterschiedlich darstellen, differenziert gesehen werden und auch unterschiedliche Höhen haben. Das erklärt doch gerade, dass es da nicht irgendwelche pauschalen Forderungen gibt. Und was das von Ihnen skizzierte Ritual anbetrifft: Also, ich kann Ihnen nur sagen: Meine Kolleginnen und Kollegen, die bei der IG Metall direkt am Geschehen beteiligt waren, die wären liebend gerne nach zwei oder drei Verhandlungen zum Abschluss gekommen. Stellen Sie die Frage an den Arbeitgeber. Das sind diejenigen - das hat sich ja auch erwiesen -, die bis zur letzten Verhandlung vor dem Arbeitskampf eben den möglichen Kompromiss nicht eingegangen sind, obwohl die IG Metall da bereits ziemlich weit gegangen ist.
Münchenberg: Rechnen Sie denn jetzt mit einem baldigen Abschluss auch etwa in Sachsen und Sachsen-Anhalt, nachdem der Abschluss in Baden-Württemberg ein Pilotabschluss ist?
Schulte: Also, ich glaube schon. Ich hatte vorhin schon einmal darauf verwiesen, dass man, wenn man sich in Ruhe noch einmal zusammensetzt und sagt: ‚So, welches sind die einzelnen Elemente eines derartigen Tarifergebnisses, wie wichtig ist uns eine sehr lange - gegenüber normalen Abschlüssen - Laufzeit?' Dann werden hoffentlich die Klügeren und die Vernünftigen bei den Arbeitgebern siegen, die dann sagen: ‚Gut, dann lasst uns das mal machen', denn wann bekommen Sie die Möglichkeit, über zwei Jahre ihre Preise an Hand ihrer Kosten durch die Löhne so lange zu kalkulieren. Und wenn sie neu verhandeln, wenn sie einen Streik provozieren, dann müssen sie sich im klaren sein: Wenn sie nicht das Ergebnis Baden-Württemberg annehmen, dann fangen sie bei Null an. Dann steht die Frage von 6,5 Prozent . . .
Münchenberg: . . . das ist eine Drohung . . .
Schulte: . . . das ist keine Drohung, das ist eine Feststellung. Ich meine, so sind einmal die Spielregeln bei der Auseinandersetzung, denn die Drohung sprechen die Arbeitgeber aus, indem sie sagen: ‚Nein, wir übernehmen das nicht'. Und sie provozieren dadurch wieder eine Situation, die nach meiner Meinung nach nicht herbeigeführt werden muss. Aber wenn sie dann nicht auszuschließen ist, dann zwingt man die IG Metall dazu in den Bereichen, wo man den Tarifvertrag nicht übernimmt - man kann ja nicht ohne sein. Und wenn man dann in 6 - 8 Wochen darüber redet oder vielleicht in einem Jahr darüber redet, dann gibt es wahrscheinlich sehr viele Menschen auf der Arbeitgeberseite, die dann sagen: ‚Hätten wir mal lieber damals übernommen'. Dann ist es zu spät - noch besteht die Möglichkeit.
Münchenberg: Herr Schulte, wir haben bekanntlich die Tarifautonomie. Gleichzeitig finden aber auch im Herbst die Bundestagswahlen statt. Wie groß war denn der Druck aus dem Kanzleramt hinter den Kulissen?
Schulte: Nein, überhaupt nicht. Also, es ist jetzt nicht eine Pflichtaussage oder so, sondern ich habe ja zwischendurch während dieser Auseinandersetzung direkt, aber auch im Vorfeld auch Gespräche gehabt im Kanzleramt und mit dem Kanzler selber. Ich habe während des 1. Mai zur Tarifpolitik Stellung genommen im Beisein des Bundeskanzlers. Ich kenne die Position des Bundeskanzlers und ich kann nur auch heute ganz deutlich sagen: Das Verhalten war o.k.
Münchenberg: Die Umfragewerte für Rot-Grün sind bekanntlich schlecht. Rechnen Sie denn damit, dass es die Koalition noch einmal schafft?
Schulte: Ja, aber sicher rechne ich damit, weil ich hin und wieder da mal hingehe und mir vergleichbare vier Jahre - rückwärts betrachtet - mal anschaue, wie es zum Beispiel 94 oder 98 ausgesehen hat. Und da muss man feststellen: Es gibt keinen Automatismus. Es war in 94 so, dass zum gleichen Zeitpunkt - also wenige Monate vor der Wahl - für die Sozialdemokraten es absolut schon sicher war, dass sie die Regierung übernehmen. Wie wir alle wissen, ist Kohl drangeblieben. Anfang 98 hat es auch nicht definitiv danach ausgesehen, als wenn die Sozialdemokraten stärkste Partei würden. Also, insofern habe ich da im Augenblick keine Angst, sondern es mag sogar so ein bisschen heilsamer Zwang darin liegen, dass natürlich diejenigen, die vielleicht schon nach der kurzen Zeit ein bisschen satt geworden sind oder auch ein bisschen zum Normalen übergegangen sind, dass die also merken: In der Politik geht das nicht. Man muss sich den Herausforderungen permanent stellen. Es gibt weiterhin Herausforderungen, denen muss man begegnen.
Münchenberg: Können Sie da mal konkret werden? Auf dem Gewerkschafts-kongress sollen ja auch die Forderungen explizit formuliert werden. Was erwarten denn die Gewerkschaften - jetzt gerade auch von Rot-Grün - noch für die kommenden Monate, für das Wahlprogramm?
Schulte: Also, eines wird mit Sicherheit auch auf dem Kongress Priorität haben, aber auch dann in den folgenden Wochen und Monaten. Und das heißt, wir haben ein Thema behandelt: Tarifautonomie. Das, was sich durch den Tarifvertrag jetzt als gefestigt nochmal dargestellt hat, wird ja von einigen anderen Parteien in ihren Wahlprogrammen in Frage gestellt - ob ich jetzt das Wahlprogramm der CDU nehme - das der FDP will ich gar nicht beurteilen, denn sie ist eine typische Klientelpartei. Mit den Ansprüchen, die im Augenblick an sich selber von ihnen gestellt werden, steht die Frage der Ernsthaftigkeit dahinter. Und bei den Sozialdemokraten sind Bekenntnisse enthalten über die Frage Sicherung der Tarifautonomie. Ich habe eben gerade gesagt, was das Verhalten des Kanzlers in dieser Frage angeht. Aber es endet damit ja nicht, sondern dieser Druck wird ja weiterhin geschehen. Wir wissen, dass in den Schubladen bereits etwas liegt: ‚Günstigkeitsprinzip ist etwas, was disponibel sein soll'. Man spricht als Nächstes darüber, ob man nicht kaum erworbene Rechte - Betriebsverfassungsgesetz - nicht wieder zurücknehmen kann - Programm der CDU. Ich halte es für einen Skandal, wenn man jetzt nach kurzer Zeit, nachdem die Ergebnisse noch gar nicht umgesetzt worden sind durch die Wahlen in letzter Konsequenz in allen Bereichen, bereits darüber nachdenkt. Und deshalb steht da im Vordergrund unsere Forderung an die Parteien, an die Politiker, dass wir sagen: So, wer wird überzeugend uns nachweisen, dass er sich einsetzt für den Erhalt der Tarifautonomie, für die Mitbestimmung in den Betrieben und für die Novellierung, nicht für Kürzungen?
Münchenberg: Aber doch am Ende eine klare Positionierung: Rot-Grün soll nochmal eine Legislaturperiode bekommen.
Schulte: Ja, ich bilanziere auf der einen Seite und sage: Was ist in den letzten vier Jahren eingetreten? Ich sage ganz klar, es gibt uneingeschränkte positive Ergebnisse: Ich fange bei der Wiederherstellung der Lohnfortzahlung an. Das war vollkommen in Ordnung, ist vorher zugesagt worden, man hat es umgesetzt. Ist das nicht normal? Man hat es also umgesetzt, man hat's getan. Man hat uns zugesagt gehabt, dass man die Betriebsverfassung reformieren will. Dies ist umgesetzt worden - selbstverständlich nicht, wie gewünscht, in all den Punkten, die wir noch zusätzlich genannt hatten, aber die Elemente sind vorhanden. Es ist drittens festgestellt worden, dass wir zur Sicherung des Sozialstaates eine neue Basis brauchen, um das System der hälftigen Finanzierung zu erhalten, eine Rentenstrukturreform eingeleitet haben. Auch hier sind wir nicht in allen Punkten unisono auf einen Nenner gekommen, aber es war gut, es verschafft also Sicherheit. Wir haben eine Steuerpolitik, die wir gefordert haben und eingeleitet haben, die zumindest temporär zur Entlastung der Arbeitnehmerhaushalte geführt hat in niedrigen und mittleren Einkommen. Dass dies zum Teil kompensiert wurde, hat andere Gründe, wie wir wissen, die nicht unbedingt voraussehbar waren. Wir habe Kröten schlucken müssen beim finanzpolitischen Teil - wenn ich an die Steuerfreiheit der Veräußerungsgewinne denke . . .
Münchenberg: . . . und es bleibt das große Problem ‚Arbeitsmarkt' . . .
Schulte: . . . es bleiben zwei Probleme. Das eine ist - weil ich mit den Fragen zur Finanz- und Wirtschaftspolitik noch nicht zu Ende bin: Wir werden eine Einnahmeverwaltung durchführen müssen, denn wenn ich da nur denke, was ja zum Teil versprochen, aber was auch gesellschaftspolitisch notwendig ist: Das macht eine Verbreitung der Einnahmenseite der Bundesregierung erforderlich.
Münchenberg: Lassen Sie uns noch einmal auf das Verhältnis zwischen Bundesregierung und Gewerkschaften zu sprechen kommen. Sie haben selber gesagt, die Bilanz fällt relativ positiv aus, weil die Bundesregierung auch viel umgesetzt hat, was den Interessen der Gewerkschaften entspricht. Auf der anderen Seite gab es ja auch Verstimmungen. Nehmen wir mal das Bündnis für Arbeit, wo man sich ja zum Schluss nicht mehr geeinigt hat, wo auch kaum noch Ergebnisse herausgekommen sind. Wie hat sich dieses Verhältnis verändert, hat es sich überhaupt ins Negative verändert?
Schulte: Nein, ich glaube, wenn man das Ergebnis des letzten Bündnisgespräches nehmen, in dem es ja kein Ergebnis gegeben hat, das aber auch ein Ergebnis war, denn die Forderung der Arbeitgeber war, eine klare Aussage zur Tarifpolitik zu erhalten, dass die Bundesregierung sich einmischt, über Indexklauseln und über Lohnleitlinien redet. Die Bundesregierung hat gesagt ‚nein', der Bundeskanzler hat gesagt ‚nein'. Und deshalb hat es kein Ergebnis gegeben. Und deshalb sage ich: Es war schon wichtig, man hat natürlich eine andere Erwartungshaltung gehabt, aber nochmal deutlich gesagt: Man hat auch gesagt, für was man sich nicht zuständig erklärt. Und das, was im Vorfeld gelaufen ist in den Bündnisrunden, das mag bei der Erwartungshaltung des einen oder anderen vielleicht nicht genügend aussehen. Aber wenn ich mir die Situation - Beginn der Gespräche Dezember 1998 bis zum heutigen Tage, bis zu diesem Jahr - ansehe, welche Impulse ausgelöst wurden, welche Dinge eingeleitet wurden: Wir sprechen über das Job-Aktiv-Gesetz, um zu mehr Beschäftigung zu kommen im Konkreten. Wo war denn der Auslöser? Er lag im Bündnis für Arbeit - durch gemeinsame Auffassung, Dinge verändern zu müssen.
Münchenberg: Trotzdem - Sie wissen, das Bündnis ist für den Kanzler ein Lieblingsprojekt. Da hat er sehr viel Energie investiert, und es ist natürlich auch ein Prestigeobjekt für die Regierung. Es kam wenig raus in der letzten Runde, das haben Sie selber gesagt. Hat es nicht doch zu einer gewissen Entfremdung geführt zwischen beiden Seiten?
Schulte: Nein, nein. Ich gehöre zu den wenigen, die ja im Grunde genommen sowohl die Gespräche, die nicht unbedingt ‚Bündnis für Arbeit'-Gespräche hießen, aber diese sogenannten ‚Elefantenrunden' zwischen 1994 und 96 - und den Ergebnissen 98 bis jetzt mitgemacht haben. Und selbstverständlich - ich habe vorhin schon einmal von der Erwartungshaltung gesprochen - sind verschiedene Dinge, wo wir stärkeren Druck erwartet haben. Wenn ich an beschäftigungspolitische Situationen denke, dann hätte ich mir von dieser Bundesregierung nicht nur vielleicht, sondern auch von diesem Bundeskanzler im vergangenen Jahr mehr Druck auf die Arbeitgeber versprochen. Das es zum Beispiel im Fall der Frage der Überstunden konkretere Hinweise auf Abbau von Überstunden und damit auch auf Beschäftigungswirksamkeit gegeben hätte. Insofern hat es Impulse gegeben im Bündnis für Arbeit, die hervorragend waren. Aber dann hat der Druck nachgelassen, und ohne Druck reagieren die Arbeitgeber nicht.
Münchenberg: Lassen Sie uns mal in die Zukunft schauen. Ich meine, egal, unter welcher Regierung: Es wird ja ein Bündnis geben. Werden die Gewerkschaften weiter daran teilnehmen, egal ob die Regierung jetzt CDU/CSU-FDP heißt oder Rot-Grün?
Schulte: Aber ich habe da eine - ich glaube - bekannte Position. Ich habe gesagt: Ein Bündnis ist der Versuch, gesellschaftspolitische Entscheidungen, die notwendig sind, gemeinsam herbeizuführen. Das kann nicht jeder für sich, dazu muss man Allianzen eingehen. Und da reden wir mit denen, die die Regierungsverantwortung haben - ob das von der Farbenlehre rot-grün ist, ob es gelb-schwarz sein wird oder welche Konstellation da immer möglich sein wird. Wir tun das nicht zum Selbstzweck, sondern wir halten es für dringend erforderlich, die Gespräche auch weiterhin zu führen, unabhängig von der jeweiligen Einschätzung. Wir müssen es lösen, und ich glaube auch, innerhalb der Gesellschaft bei Umfragen stellt man also fest, dass die Mehrheit der Menschen sagt: ‚Jawohl, Ihr müsst aufeinander zugehen'. Diese absolute Polarisierung, die scheinbar von einigen gewünscht wird, ist in der Minderheit . . .
Münchenberg: . . . aber macht denn eine neue Bündnisrunde kurz vor den Wahlen noch Sinn - die ja jetzt im Gespräch ist?
Schulte: Ich glaube schon, denn wir hatten uns ja vorgenommen gehabt im vergangenen Jahr noch - ich lasse mal die Runde im Frühjahr diesen Jahres außen vor -, wir hatten uns vorgenommen gehabt, die miteinander besprochenen Instrumente - festgeschriebenen Instrumente - umzusetzen und dann festzustellen: Wo sind noch Defizite, wo muss man noch Zusätzliches tun? Und das war eine Erkenntnis dann auch in der letzten Runde, in der wir kein Ergebnis, aber ein klares Bekenntnis - Tarifautonomie hat dort nichts zu suchen - festgestellt haben. Wir haben gesagt - beschäftigungspolitisch -: Bei vier Millionen Arbeitslosen sind wir nicht in einer so komfortablen Lage, als wenn wir im Rahmen des Wahlkampfes jetzt Stillstand bis September oder darüber hinaus üben können.
Münchenberg: Aber da kommt doch nur Propaganda raus.
Schulte: Ich weiß es nicht. Es liegt daran, wie man das vorbereitet. Wenn wir sagen: Nun lasst uns das Job-Aktiv-Gesetz - ob jetzt nun in Deutschland 1,2 Millionen offene Stellen sind, wie von einigen behauptet, oder 800.000, das soll mir erst einmal egal sein - lasst uns darauf verständigen, wie wir das Instrument konkret anwenden. Wenn es nur 400.000 offene Stellen sind, die wir in vier Monaten besetzen können, würde das eine Reduzierung von 10 Prozent der Arbeitslosigkeit bedeuten.
Münchenberg: Eine klare Aussage: Die Gewerkschaften werden an einer neuen Runde auch kurz vor den Wahlen nochmal teilnehmen?
Schulte: Ich bin der festen Überzeugung. Wir haben uns unmittelbar danach einvernehmlich dazu geäußert und haben gesagt: Wenn es sinnvoll erscheint - und das ist sinnvoll, wenn es um die Umsetzung eingeleiteter Maßnahmen geht -, dann stehen wir zur Verfügung.
Münchenberg: Sie haben vorhin schon mal das Wahlprogramm der Union angesprochen und eigentlich wenig Gutes dran gelassen. Gibt es denn irgend etwas, wo sie über das Wahlprogramm der Union sagen - das gefällt mir auch als Gewerkschafter?
Schulte: Das gilt nicht nur für das Wahlprogramm der CDU, ich habe auch zum Wahlprogramm der SPD natürlich kritische Punkte. Ich beschäftige mich deshalb in erster Linie damit, wo ich erkennbar sehe, dass man sich entfernen will. Was positiv ist: Dass sie sagen, wir müssen bei der Frage zusätzlicher Beschäftigungsmöglichkeiten neue Wege gehen. Wenn dann aber nur Niedriglohn dahinter steht, dann sage ich, das ist nicht o.k. Wenn man sagt, wir gehen neue Wege, dann muss man vielleicht auch Formen finden - Klammer auf - (‚Mainzer Modell') - also Formen finden der Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen oder Alleinstehenden oder wie auch immer. Da sage ich: Ja, da gehen wir mit. Da gibt es Ansätze, und auch in einem Gespräch, das ich in dieser Woche mit der Parteivorsitzenden Frau Merkel geführt habe, haben wir gesagt: An der Stelle werden wir uns näherkommen. Die zweite Frage: Die grundsätzlichen Fragen der Mitbestimmung. Natürlich muss die Formen der Partizipation müssen erhalten bleiben. Nur, wenn wir in die Details hineinkommen, dann stellt man also sehr schnell fest, dass da Unterschiede sind. Wenn ich das Programm der Sozialdemokraten nehme, wo wir ja versucht haben, genau wie bei der CDU auch, gewerkschaftspolitische Überlegungen hineinzubekommen - wir können nicht die Feder halten - aber wir haben versucht, da Einfluss zu nehmen. Wir vermissen in dem Programm, dass - weil wir den Streik vorhin kurz miteinander besprochen haben - zur Frage der Aussperrung etwas gesagt wird. Es steht nicht mehr im Programm. Es ist eine Vereinfachung, die Möglichkeiten der Einführung des Verbandsklagerechtes, damit wir auch Zusammenhalt bei den Tarifverträgen erhalten. Das war zugesagt, oder zumindest hat man's nicht außerhalb gestellt. Das steht auch nicht mehr drin. Also, ich habe da auch kritische Punkte, aber wenn ich abwäge zwischen den Dingen, die die Zustimmung der Gewerkschaften findet und ihre Ablehnung - wenn explizit bei der CDU drin steht, dass man erneut über das Betriebsverfassungsgesetz reden will und will es schleifen, dann wird weniger daraus; ich kenne keinen Prozess aus der Physik, dass nach dem Schleifen mehr besteht.
Münchenberg: Herr Schulte, es war in dieser Woche auch sehr viel die Rede von der Globalisierung und auch von den Ängsten der Menschen gegenüber des internationalen Wettbewerbsdrucks, gegenüber der Globalisierung. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in diesem Zusammenhang auch vor einem ‚neuen Gespenst' gewarnt, das in Europa umgeht, nämlich das Gespenst des Rechtsextremismus. Ist das nicht aber auch auf der anderen Seite ein Eingeständnis, dass die demokratischen Parteien in vielen Bereichen versagt haben?
Schulte: Ich glaube, das wäre zu einfach. Ich möchte mal beginnen mit der Rede des Bundespräsidenten, der ja auch jetzt gerade zum Thema der Globalisierung gesprochen hat. Und ich muss Ihnen sagen, dass 70 bis 80 Prozent der Aussagen, die er gemacht hat, nicht neu waren - das war auch kaum zu erwarten -, aber die von der Tendenz her die volle Zustimmung und Unterstützung der Gewerkschaften gefunden haben. Ich muss sagen: Globalisierung ist eine Chance, wir müssen die Menschen nur mitnehmen können, dann reduziert sich die Anzahl der Verlierer in dieser Sache. Das setzt aber auch voraus, dass man neue Stellenwerte bekommt - ich will nun keine neue Wertedebatte bekommen, aber es hebt natürlich daraufhin ab. Das heißt, eines der elementaren Punkte ist die Frage der Glaubwürdigkeit. Wenn die Menschen keine Glaubwürdigkeit mehr in die Politik haben, dann werden sie sich Extremen zuwenden.
Münchenberg: Müssen sich denn nicht auch die Gewerkschaften zum Teil den Vorwurf gefallen lassen, dass sie immer weniger die richtigen Antworten haben auf die Fragen. Nehmen wir nur den Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften: In den letzten 10 Jahren gab es einen Mitgliederverlust von drei Millionen. Ist das nicht auch ein Indiz dafür, dass auch die Gewerkschaften ein Stück weit den Bezug zur Basis verloren haben?
Schulte: Ich meine, eines ist sicher - dass nicht in dem Umfang auch von uns auf die offenen Fragen sofort Antworten gegeben wurden oder gegeben werden können. Ich halte das nicht einmal für eine Schwäche, sondern vielleicht ist das eher der Beweis dafür, dass wir zu lange versucht haben, auf alle Möglichkeiten sofort zu antworten, auf alle Fragen sofort zu antworten. Das erklärt für mich auch so ein bisschen das distanzierte Verhältnis zur Jugend. Denn wenn die gefragt haben, haben wir denen irgend etwas erzählt, haben gesagt: ‚Beschäftigt Euch mal damit', sind aber nicht tiefer darauf eingegangen. Es gibt auf bestimmte Fragestellungen eben nicht ‚die' Antwort. Und deshalb ist mit dem Fragestellenden in einen Dialog zu treten und zu sagen: Wo können mögliche Ansätze liegen - auch für uns als Gewerkschaften.
Münchenberg: Wird das eine zentrale Aufgabe für Michael Sommer sein, der ja den DGB-Vorsitz nächste Woche übernehmen wird?
Schulte: Michael wird mit Sicherheit erst einmal mit den normalen Aufgaben, die alltäglich anstehen, mit denen man sich kurzfristig auseinandersetzen muss - als Teil seiner zukünftigen Arbeit auseinandersetzen. Ansonsten wird er, und das ist das Phantastische dabei, als neuer Vorsitzender die Situation, die ich versucht habe, gerade zu schildern, mit seinen Überlegungen in Übereinstimmung bringen und strategisch entwickeln müssen. Denn die Situation, die hier in Deutschland und in Europa herrscht, die ist - ob jetzt Schulte da ist oder Sommer da ist - gleich, die ist unveränderlich. Aber vielleicht neue Antworten zu finden, neue Aspekte herauszufinden, die Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der Beschäftigungspolitik vielleicht noch schneller und noch näher kommen lassen - ich glaube, das wird die zukünftige Aufgabe sein an erster Stelle. Und daran wird sich dann in der Konsequenz auch messen lassen, dass die Gewerkschaften nach meiner Überzeugung nach wie vor den Stellenwert haben, auch wenn Mitgliederstärke natürlich Mächtigkeit ist.
Münchenberg: Was macht denn der Rentner Schulte nach dem Gewerkschaftskongress?
Schulte: Sich sehr viele Gedanken über die Fehler zu machen, die ich in meinem Leben begangen habe. Schau'n wir mal. Also, auf jeden Fall gibt es keinen Job in irgendeiner Art mehr, sondern ich werde das tun, zu dem ich in der Vergangenheit wenig Zeit hatte. Ich habe fast 50 Jahre meines Lebens gearbeitet, das war gut so. Und es ist aber auch gut so, dass man irgendwo dann damit sein Ende findet. Ich gehe mit ruhigem Gewissen und ich bin auch ein bisschen zuversichtlich. Und die Frage, ob man die an sich selber gestellten Aufgaben hat bewältigen können, werden die Historiker irgendwann beurteilen müssen. Ich habe zumindest das Gefühl, dass ich nicht allzu viele Näpfe erwischt habe. Das ist ja manchmal schon ein gutes Zeichen.