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Schwan: Patriotische Gefühle zur WM sind "momentane Aufwallungen"

Gesine Schwan, Beauftragte der Bundesregierung für die deutsch-polnische Zusammenarbeit, wertet die aktuelle Euphorie der Deutschen zur Fußball-Weltmeisterschaft nicht als Ausdruck eines neuen Patriotismus. "Wenn ich vergangene Weltmeisterschaften in Erinnerung habe, das sind immer momentane Aufwallungen", sagte die Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Das gehe wieder vorbei.

Moderation: Jochen Spengler |
    Jochen Spengler: Schaut man dieser Tage in die Zeitungen, vor allem natürlich in die des Boulevards, dann wird man Zeuge einer einzigartigen Selbstbeweihräucherung. Deutschland feiert sich selbst angesichts des gelungenen Auftakts zur Fußball-WM. Verschwunden sind alle Selbstzweifel. Patriotismus ist gefragt, der neue Patriotismus heißt es, der positive Patriotismus, überall schwarz-rot-goldene Fahnen und Fähnchen. Die "Bild-Zeitung textet "schwarz-rot-geil" und schwärmt vom neuen schönen Nationalgefühl.

    Am Telefon ist die Professorin der Europa-Universität Viadrina und Beauftragte der Bundesregierung für die deutsch-polnische Zusammenarbeit. Guten Morgen, Gesine Schwan!

    Gesine Schwan: Guten Morgen!

    Spengler: Frau Schwan, heute Abend kommen Klinsmanns Fußballer und treten an gegen Polens Nationalmannschaft. Zunächst vielleicht einmal: Stimmen Sie eigentlich ein in das allgemeine Selbstlob? Liefern wir als Deutsche der Welt eine gute Visitenkarte ab bislang?

    Schwan: Selbstlob ist immer etwas Schlechtes. Deswegen stimme ich nicht ein. Aber ich habe mich über das erste Spiel, das ich am Fernsehen verfolgt habe, gefreut. Ich hatte das Gefühl, dass die Stimmung, die Atmosphäre sehr schön war, dass es auch weitgehend ein faires Spiel war und dass es insofern ein gelungener Auftakt war. Ich glaub, das ist immer eine Freude. Wenn man Gastgeber ist und muss einen Auftakt und darf einen Auftakt bieten, dann freut man sich erstens, wenn insgesamt die Atmosphäre gut ist, und natürlich freut man sich dann schon auch, wenn man gewonnen hat. Das ist, glaube ich, ganz normal.

    Spengler: Nun haben ja vor allem die Polen im letzten Jahrhundert an den Folgen eines ich will mal sagen übersteigerten deutschen Nationalismus gelitten, eines deutschen Patriotismus. Was werden die denn heute Abend von dem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer halten, so weit Sie sie kennen?

    Schwan: Ich glaube, das schwarz-rot-goldene Fahnenmeer werden die mühelos aushalten. Was sie sicher ärgern wird ist, wenn es zum Beispiel ganz dümmliche Kommentare gibt hinterher, die nicht das Fußballspiel wirklich bestimmen, sondern wenn die auf alten Polen-Witzen herumreiten, wie das neulich passiert ist. Das finde ich einfach daneben. Aber dass Polen auch das Fahnenmeer aushalten und auch aushalten, wenn sie gewonnen haben, dass es gut ist, und wenn sie verloren haben und nicht gut gespielt haben sollten, dass sie das auch verkraften, das glaube ich. Man muss ja sehen, dass Umfragen bis in die gegenwärtige Zeit zeigen, dass die polnische Gesellschaft sich zunehmend positiv gegenüber Deutschland verhält und die Menschen die Deutschen mögen. Früher haben sie sie nur weitgehend geachtet, jetzt mögen sie sie sogar. Also, man soll nicht zu klein von den Polen denken.

    Spengler: Glauben Sie, dass das Ausland eher damit klar kommt, wenn die Deutschen selbstbewusst sind, als wenn wir in Sack und Asche gehen und zurückhaltend sind?

    Schwan: Ich denke, das Ausland kommt mit allen Haltungen klar, die reflektiert und zugleich authentisch sind. In Sack und Asche zu gehen, das ist nur etwas für ganz wenige Heilige, dass sie es wirklich authentisch machen. Sonst hat es irgendetwas Gekrümmtes und das wird nie gut gehen. Ein Selbstbewusstsein, das sich sagt, wir haben viele Dinge in unserer Geschichte, die positiv sind, wir haben ganz fürchterliche Verbrechen und wir stehen im Grunde auch für ein sensationales Verbrechen wie Auschwitz, ein solches Selbstbewusstsein, das reflektiert, dass man die Geschichte im Blick hat, ist immer fürs Ausland, denke ich, besser akzeptabel, als in Sack und Asche zu gehen.

    Spengler: Nun ist diese Fußball-Begeisterung sicher authentisch, aber nicht unbedingt reflektiert, oder?

    Schwan: Ja. Man muss sich dann auch fragen, was bedeutet die Fußball-Begeisterung? Wenn ich vergangene Weltmeisterschaften in Erinnerung habe, das sind immer momentane Aufwallungen. Das ist überall so. Ich habe das auch mal in Italien erlebt. Und dann geht das wieder vorbei. Wenn fair gespielt wird und mit Erfolg gespielt wird, dann ist das ja auch schön. Dann kann man sich ja daran freuen. Unangenehm wäre es, wenn man eben zugleich negativ über andere spricht oder sich unfair verhält.

    Spengler: Aber Ihrer Beobachtung nach, gibt es nicht doch so etwas wie eine Art neuen Patriotismus, nicht nur weil die ganzen Zeitungsschreiber, die Journalisten davon schreiben?

    Schwan: Jedenfalls sicher nicht durch oder wegen der Weltmeisterschaft. Ein neuer Patriotismus, wenn er von Nationalismus unterschieden sein soll, wäre etwas sehr viel Differenzierteres und etwas sehr viel länger sich Anbahnendes und dann auch wieder länger Dauerndes. Ich glaube, die Fußball-Weltmeisterschaft ist ein Sensationsereignis, so wie sie immer mal ausgesprochen wichtige Sensationsereignisse haben. Ich möchte an ein möglicherweise für Sie etwas verwunderndes anderes Beispiel erinnern. Als der heilige Vater Johannes Paul starb, war die ganze Welt voller Artikel darüber. Dann bin ich gefragt worden, ob die Deutschen daraufhin katholischer werden. Das habe ich bezweifelt und, ich glaube, dass ich Recht hatte.

    Spengler: Also Sie sagen, es ist ein momentanes Gefühl? Das ist nicht etwas, was sich jetzt auf Dauer niederschlagen wird?

    Schwan: Nein. Die Fähnchen sind mir aufgefallen an den Autos. So furchtbar viele sind es nicht, aber es ist immerhin auffällig. Das macht man in anderen Ländern, zum Beispiel in Amerika, auch. Ich frage mich - ich habe noch nicht mit Personen gesprochen, die sich diese Fähnchen ans Auto klemmen -, was sie damit sagen wollen. Ich weiß es nicht genau. Aber ich warne einerseits vor größerer Sorge oder gar Alarmierung, wenn so etwas geschieht, und andererseits davor zu meinen, man könne ein wirklich gutes Selbstbewusstsein über den Sieg einer Fußballmannschaft gewinnen. Das ist doch sehr naiv.

    Spengler: Das ist wohl wahr. Und trotzdem diese Haltung von vielen Alt-68ern, so nach dem Motto "liebe Ausländer, lasst uns nicht allein mit den Deutschen". Die scheint wirklich vorbei zu sein?

    Schwan: Na ja, die 68er, deren Jahrgang ich ja auch bin, hatten sicher eine sehr komplizierte Haltung. Und meine Deutung dieser ganzen Bewegung ist ja, dass es vor allen Dingen eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vätergeneration war, die im Übrigen dabei auch sich selbst sehr stark als Opfer betrachtet hat und die wirklichen Opfer, die Juden zum Beispiel, damals gar nicht so furchtbar im Blick hatte. Das muss man auch immer in Erinnerung behalten. Viele von den 68ern haben jetzt übrigens auch wieder ein schlechtes Gewissen darüber und überziehen in meiner Sicht in die andere Richtung. Immer wenn man sich sozusagen seine Haltung aus einer Gegenposition gegen irgendetwas erwirbt, dann ist das noch keine reife Haltung. Insofern hatten die 68er keine reife Haltung. Sie haben insgesamt, wie ich meine, für einen Liberalisierungsschub gesorgt, aber sie hatten keine wirklich ruhig reflektierte, selbstbewusste Haltung.

    Was dann heute daraus geworden ist, das erlebe ich in verschiedenen Teilen. Zum Teil ist daraus eine richtig ruhige und im guten Sinne liberale Position geworden. Zum Teil haben sie ein schlechtes Gewissen darüber bekommen, dass sie ihre Eltern so attackiert haben, und sind deutscher oder deutsch-nationaler als so manche andere vorher und übrigens auch autoritärer als so manche andere vorher. Das ist unterschiedlich.

    Spengler: Aber diese Zeit der nationalen, der patriotischen Zurückhaltung nach dem Krieg, die war nötig?

    Schwan: Da ich ja eine ganze Menge Studien zur politischen Kultur gemacht habe, weiß ich, dass die Zeit nach 1945 im Bewusstsein der Deutschen keine Zeit der patriotischen oder der nationalen Zurückhaltung war. Im Gegenteil: Da hat es Demonstrationen gegeben Anfang der 50er Jahre, um verurteilte SS-Mörder wieder freizulassen. Das war ja ein ganz anderes Bewusstsein. Es ist nur offiziell natürlich nicht die Rede gewesen von irgendwelchen großen deutschen Werten, weil Adenauer und auch die SPD - Schumacher übrigens weniger - sehr zurückhaltend waren in dieser Hinsicht. Aber das allgemeine Bewusstsein der Deutschen war ja nicht in Sack und Asche. Davon kann ja gar keine Rede sein. Im Gegenteil: Sie haben sich in dieser Zeit weitgehend als Opfer des Krieges, von einigen Verführern wie Hitler und dann irgendwelcher falscher Anschuldigungen gefunden. Da ist das heutige Bewusstsein, denke ich, selbst wenn Sie es jetzt patriotischer nennen, was ich gar nicht tun würde, aber eher gelassener und ausgewogener als damals.

    Spengler: Was ist denn positiver Patriotismus heute?

    Schwan: Ich verstehe unter einem positiven Patriotismus das Verantwortungsbewusstsein für das Land, in dem man lebt, aus dem man viele positive Erfahrungen gewonnen hat, das man in seiner Geschichte gut kennt, aber für das man sich in erster Linie verantwortlich fühlt. Ich will Ihnen das ganz knapp sagen: Als ich Schülerin am französischen Gymnasium war in den 50er Jahren in Berlin, da fühlte ich mich für Auschwitz und für die Konzentrationslager verantwortlich und fand, dass die französischen Mitschüler sich für den Algerien-Krieg verantwortlich fühlen sollten. Das ist, wenn Sie wollen, eine negative Identifikation, aber sie kommt aus einer positiven. Ich identifiziere mich mit diesem Land und natürlich bekümmern mich dann schwierige Handlungsweisen, unangenehme Handlungsweisen, unmoralische Handlungsweisen mehr, als wenn ich mich mit dem Land nicht identifizierte. Das nenne ich einen positiven Patriotismus.

    Spengler: Das war Professor Gesine Schwan, Beauftragte der Bundesregierung für die deutsch-polnische Zusammenarbeit. Danke, Frau Schwan.

    Schwan: Ich danke Ihnen.
    Gesine Schwan, Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder
    Gesine Schwan, Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. (AP)