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Schweizer Volksentscheid
Lambsdorff: "Das Votum haben wir zu respektieren"

Das Votum der Schweizer zur Zuwanderung stellt die Verträge mit der EU auf die Probe: "Die Grundfreiheiten des Binnenmarktes sind nicht voneinander zu trennen", sagte Alexander Graf Lambsdorff, Europaabgeordneter der FDP, im Deutschlandfunk. Jedoch warnte er vor vorschnellen Konsequenzen.

Alexander Graf Lambsdorff im Gespräch mit Peter Kapern | 10.02.2014
    Peter Kapern: Mitgehört hat Alexander Graf Lambsdorff, Europaabgeordneter der FDP. Guten Morgen, Graf Lambsdorff.
    Alexander Graf Lambsdorff: Guten Morgen, Herr Kapern.
    Kapern: Wie bewerten Sie das Abstimmungsergebnis in der Schweiz? Was kommt da auf das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union zu?
    Graf Lambsdorff: Zu bewerten ist so ein Ergebnis erst mal mit Respekt. Das ist ein direktdemokratisches Votum und da ist ganz klar, das haben wir zu respektieren. Was das aus Sicht der Beziehungen der Schweiz zur Europäischen Union bedeutet, das hat Herr Tschuemperlin eben schon gesagt. Hier ging es ja um ein Prinzip, das mit der Schweiz in einem bilateralen Vertrag vereinbart worden ist, dass das gilt, und es ist eines der vier Grundprinzipien der Europäischen Union: die Personenfreizügigkeit. Die Schweiz hat sich jetzt aus diesem Vertrag abgemeldet. Allerdings bis das Ganze rechtsförmig umgesetzt ist, vergeht noch einige Zeit. Die Volksabstimmung sieht ja vor, dass jetzt drei Jahre Zeit sind, um das ganze so zu organisieren, wie es dem Willen der Bevölkerung in der Schweiz entspricht. Im Zuge dieser Gestaltung wird man miteinander reden müssen. Ich rate dringend davon ab, jetzt in Panik zu verfallen.
    Kapern: Sie sprechen, Graf Lambsdorff, immer von einem Vertrag im Singular. In Wahrheit gibt es zwischen der Schweiz und der Europäischen Union ein ganzes Paket sogenannter bilateraler Verträge. Ist es hinnehmbar, dass die Schweiz da jetzt Rosinenpickerei betreibt und sagt, Personenfreizügigkeit, das wollen wir nicht mehr, aber den Zugang zum Binnenmarkt für unsere Waren auf alle Fälle?
    Drei Jahre Umsetzungszeit
    Graf Lambsdorff: Herr Kapern, da legen Sie genau den Finger in die Wunde, und wenn man jetzt hysterisch reagieren würde, müsste man sofort danach rufen, all diese Verträge auszusetzen. Aber ich glaube, das kann nicht der Sinn der Sache sein. Wir werden mit der Schweiz auch weiter ein partnerschaftliches Verhältnis pflegen wollen. Nur ganz klar ist: Die Freiheit zur eigenständigen Entscheidung, die haben die Schweizer wahrgenommen. Dazu gehört auch die Verantwortung, die Konsequenzen zu tragen. Was das jetzt für die anderen Verträge bedeutet, also für Medien, für den Schengen-Raum, für Dublin II, also die Asylpolitik, für die Wirtschaftsverträge, die wir haben, das ist eine andere Frage, und ich bin ganz sicher, dass man in Brüssel natürlich jetzt zuerst mal abwartet, wie gestaltet die Schweiz ganz konkret die Umsetzung dieser Volksabstimmung. Natürlich gibt es keine Rosinenpickerei. Die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes – und davon ist die Personenfreizügigkeit eine -, die sind nicht voneinander zu trennen, und dazu gehören auch die Warenverkehrs-, die Dienstleistungs- und die Kapitalverkehrsfreiheit. Sie haben da völlig recht. Nur jetzt würde ich nicht vorschlagen, sofort hinzugehen und alle sieben Verträge zu kündigen. Das hielte ich für eine Überreaktion.
    Kapern: Na ja, aber wenn diese Verträge jetzt im Sinne dieses Abstimmungsergebnisses geändert werden, oder die Schweizer Position sich in diesem Sinne ändert, dann muss man diese Verträge nicht mehr kündigen, weil es doch diese sogenannte Guillotine-Klausel gibt, also die Klausel, die besagt, entweder es gelten alle Verträge, oder es gilt gar keiner mehr.
    Graf Lambsdorff: Die steht im Vertrag über den Beitritt der Schweiz zum Schengen-Raum. Da ist das tatsächlich so. Wenn die Schweiz am Abkommen zu Schengen etwas geändert hätte, dann wäre diese Guillotine-Klausel in Kraft getreten. Hier ist es jetzt so, dass die Schweiz implizit quasi gekündigt hat, die Personenfreizügigkeit, es ging ja in allererster Linie um EU-Bürger - somalische Flüchtlinge sind eine andere Frage - und da dürfen wir uns nichts vormachen. Nur wir haben drei Jahre Zeit zu sehen, wie die Schweiz jetzt mit diesem Ergebnis umgeht. Wir müssen das Ergebnis respektieren, wir müssen als Europäische Union dann die Konsequenzen ziehen. Nur halte ich es noch nicht einmal 24 Stunden nach dem Eintreffen des Ergebnisses für falsch, jetzt grundsätzlich die Guillotine, wie Sie es nennen, rauszuholen und sämtliche Beziehungen zur Schweiz zu kappen.
    Kapern: Steckt in dieser Schweizer Abstimmung ein Virus, Graf Lambsdorff, ein Virus, das sich ausbreiten könnte auch innerhalb der Europäischen Union? In England wird über Zuwanderungsbegrenzung gesprochen, in Deutschland wird Stimmung gemacht gegen die sogenannte Armutszuwanderung. Wird das weiter grassieren?
    Graf Lambsdorff: Ja, und man sieht es ja, wenn man ein bisschen analysiert, wer in der Schweiz wie abgestimmt hat. Das Schlagwort war ja der sogenannte Dichtestress, das heißt eine Verdichtung in städtischen Ballungszentren, im öffentlichen Personen-Nahverkehr, bei den Mieten, auf dem Arbeitsmarkt. Wenn man sich mal anschaut, dass es ausgerechnet die Zentren waren, in denen der Dichtestress am höchsten gewesen ist, Zürich und die anderen Großstädte, die haben alle für die Beibehaltung der Weltoffenheit gestimmt, während es ländliche Gebiete waren, in denen Populisten leichtes Spiel haben, in denen mit Ängsten gearbeitet wird, die keine Grundlage in den Tatsachen haben. Dort hat es deutlich über 60 Prozent zum Teil gegeben für die Abschottung. Mit anderen Worten: Der Virus, den Sie erwähnen, das ist der Virus des Populismus, der Virus der Ausländerfeindlichkeit, der Virus der Abschottung. Das ist in der Tat ein Problem, das auch bei uns in Deutschland eine Rolle spielt. Die CSU spielt ja ganz offen mit diesem Virus.
    "Es gibt kein perfektes Regierungssystem"
    Kapern: Was denken Sie, wie die Schweizer Abstimmung in Deutschland ausgehen würde, wenn man dieselbe Frage den Bürgern in Deutschland vorlegen würde?
    Graf Lambsdorff: Ich will da nicht spekulieren. Ich würde hoffen, dass Deutschland mit ja neun Nachbarländern als Teil der Europäischen Union, als integrierter Teil der Weltwirtschaft und als Exportweltmeister …
    Kapern: Was ja alles auch auf die Schweiz zutrifft.
    Graf Lambsdorff: Na ja, Exportweltmeister nicht ganz und neun Nachbarn sind es auch nicht und ich glaube auch, dass das Verständnis in Deutschland, dass die Wiedervereinigung in Deutschland nur gelungen ist, weil wir eingebettet waren in die Europäische Union, dass wir deswegen die Personenfreizügigkeit für EU-Bürger einschränken sollten - ich würde mir wünschen, dass es im Falle einer Abstimmung nicht zu einem Ergebnis kommt wie in der Schweiz. Ich bedauere das Ergebnis in der Schweiz. Allerdings ist das Spekulation, wir sind fester Bestandteil, Gründungsmitglied der Europäischen Union. Ich glaube, dass niemand daran denkt, eine solche Abstimmung in Deutschland aufs Gleis zu setzen.
    Kapern: Sind Sie froh, dass es solche Abstimmungen in Deutschland nicht gibt?
    Graf Lambsdorff: Ich bin ein Anhänger der repräsentativen Demokratie mit Elementen der direkten Demokratie. Ich finde, es gibt bestimmte Grundprinzipien, die eignen sich besser zur Diskussion in Parlamenten. Ich glaube deswegen, es ist schon ganz gut, dass wir nicht alles direkten Volksabstimmungen zugänglich machen. Das gilt nicht für Planungsprojekte, das gilt nicht für große Bauvorhaben, für Industrievorhaben oder solche Dinge, aber Grundprinzipien des Staates, denken wir mal an die Abschaffung der Todesstrafe – wissen Sie, nach einem schrecklichen Mord an einem Kind kann es auch eine Bevölkerungsmehrheit für die Wiedereinführung der Todesstrafe geben -, da zeigen sich auch die Grenzen der direkten Demokratie. Es gibt kein perfektes Regierungssystem. Ich glaube, dass es ganz richtig ist, solche Grundfragen in Parlamenten zu entscheiden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.