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Schwerpunktthema: Forschungskooperation

Nahostexperten sind zurzeit in allen Ländern gefragt. Sie sollen die Umbrüche und Revolten im nordafrikanischen und arabischen Raum erklären. Zahlreiche Länder stellen deshalb Geld für Forschungskooperationen zur Verfügung. Auch private Stiftungen fördern gemeinsame Projekte zu den Demokratisierungsbewegungen.

Von Bettina Mittelstraß |
    Von der VolkswagenStiftung gefördert gehen fünf geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Pilotprojekte an den Start. In Leipzig organisierte die Stiftung außerdem eine Konferenz für rund 140 Wissenschaftler aus Deutschland und dem arabischen Raum, um Verbindung für weitere gemeinsame Forschungsaktivitäten aufzunehmen.

    Rückblick: der Tahrir-Platz in Kairo im Mai 2011. Ein Tag des Zorns. Aber die Menschen feierten auch. Das Schlimmste schien überstanden. Die Erwartungen der jungen Demonstranten waren hoch. Freiheit und Gerechtigkeit - was immer die Einzelnen damit meinten - schienen nah. Optimismus, Zuversicht, Aufbruchstimmung war spürbar. Inzwischen wurde in Ägypten gewählt. Der Ausgang der Wahlen enttäuschte Viele. Die Stimmung ist gedämpfter, der Militärrat ist noch immer da und mit ihm Teile des alten Regimes. Die Rede ist von der betrogenen Generation.

    "Ich fühle mich betrogen, persönlich. Und bestimmt andere Kollegen auch in meiner Generation","

    sagt die Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Hanan Badr, die in Deutschland mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes promoviert.

    ""Aber wir repräsentieren nicht alle Demonstranten auf dem Tahrir. Ein Teil fühlt sich nicht betrogen und ein Teil ist auch sehr zufrieden. Und deshalb würde ich sagen: Das ist zu einseitig zu sagen, die Generation der Revolution ist betrogen. Das bezieht sich auf die eigene Position, wie man sich fühlt, weil man natürlich eine andere Art der Demokratie erhofft hat, eine schnellere Demokratisierungsbewegung, die schneller und konsequenter und einen richtigen Rechtsstaat etabliert."

    Die Generation junger Menschen, die auf die Straße ging - und noch immer geht - um die Verhältnisse zu ändern: Wie setzt sie sich eigentlich zusammen? Wer sind die Akteure, die Diktatoren vertreiben konnten, aber in den ersten demokratisch gewählten Parlamenten unterrepräsentiert scheinen? Was treibt sie an? Welche Ziele formulieren sie? Wie kommunizieren Sie? Wie unterscheiden, organisieren, verändern sie sich? Solche Fragen stellen sich nicht nur externe Beobachter, sondern vor allem die arabischen Gesellschaften selbst und ihre Wissenschaftler. Eine ist die ägyptische Politologin Nadine Sika von der American University Cairo. Im Team mit einem deutschen Wissenschaftler und einer marokkanischen Kollegin nimmt Nadine Sika in einem von der VolkswagenStiftung geförderten Pilotprojekt einmal mehr die arabische Jugendbewegung genauer in den Blick. Die beobachtet sie bereits seit 2009 - lange bevor die westliche Welt die Aktivisten bemerkt hat.

    Nadine Sinka: "Wir sprechen über Jugendbewegungen in arabischen Ländern. Ich werde sehen, wie die Jugendbewegungen arbeiten, was die da machen, was für Hintergründe sie haben - sozio-ökonomische Hintergründe -, was sie jetzt aus der Revolution machen möchten. Wir wissen genau, welche Bewegungen es gibt. Die sind seit 2005, 2006 in Ägypten und haben so viel gearbeitet. Wir wissen, wie die Bewegungen den Rest von den jungen Leuten auf den Tahrir Square gebracht haben. Es war keine Frage für uns, wo die Movements waren. Wir wussten ganz genau, dass sie da sind. Und die Ereignisse in Tunesien haben den Ägyptern sehr geholfen."

    Oliver Schlumberger: "Die Tatsache, dass diese Gruppen in den Parlamenten jetzt unterrepräsentiert sind, macht sie gesellschaftlich nicht weniger wichtig. Im Gegenteil. Das mag dazu führen, dass es Reformstaus gibt, dass sich neue Spannungen aufbauen, und deswegen ist es gerade wichtig, diese Gruppe nicht aus dem Blick zu verlieren, auch wenn sie jetzt weniger sichtbar sind, als sie zu Hochzeiten der Proteste sichtbar waren."

    Der Politologe Oliver Schlumberger, Professor an der Universität Tübingen arbeitet mit Nadine Sika zusammen - die widerspricht: Sie seien noch immer in Ägypten auf dem Tahrir-Platz sichtbar, diese Jugendgruppen, und die Machthabenden reagierten auf sie. Darum geht es: um Austausch und das Bündeln von Kompetenz. Der gemeinsame Blick und die unvoreingenommene Analyse auf die sich neu formierenden politischen Gruppierungen sollen helfen zu verstehen, was passiert. Hanan Badr:

    "Wir haben jetzt keine empirischen handfesten konkreten Daten, wer zum Beispiel Salafies sind. Die sind jetzt neu auf der politischen Bühne. Wer sind die? Wie viel sind die? Wie viel Geld haben die zum Beispiel in die Kampagnen reingesteckt? Das sind Daten, die sagt auch keiner. Und dazu brauchen wir sozialwissenschaftliche Forscher. Es kann ein schwieriges Thema sein, aber das brauchen wir einfach, damit man auch jetzt für die Zukunft in der Politikwissenschaft oder auch in der politischen Kommunikation - mein Schwerpunkt - bessere Informationen anbieten kann, die nicht von der eigenen Meinung beeinflusst, sondern wirklich objektiv sind."

    Und das ist gar nicht leicht. Denn die überall neu auftauchenden gesellschaftlichen Gruppen lassen sich nicht "labeln". Die Grenzen sind fließend, betont Hanan Badr:

    "Es gibt zum Beispiel, vor allem bei den Jugendlichen, so richtig Mischtypen. Es ist nicht der eine Linke, der eine Islamist und der andere irgendwie pro Regime. Es gibt den pragmatischen Islamisten oder den pragmatischen Revolutionär oder den islamistisch orientierten Linken."

    Die Flexibilität in der Identität arabischer Jugendlicher zu erkennen sei sehr wichtig, sagt die junge Wissenschaftlerin, denn es bedeutet, dass die Akteure beständig lernen. Auch Rachid Ouaissa, Professor an der Universität Marburg für die Politik des Nahen und Mittleren Ostens, sieht darin eine Chance:

    "Ich glaube, es gibt einen Lernprozess aufseiten der Islamisten hin zu realpolitischen Akteuren, die die Lage realistisch einschätzen und die inzwischen getragen sind von einer Mittelschicht, die nicht bereit ist, zu konfligieren - sei es mit dem Westen oder mit dem Militär. Insofern sind die eher kompromissbereiter. Natürlich hat man extremistische Gruppierungen. Und da muss man schauen, dass man die strategisch in die Minderheit bringt. Aber dieser Lernprozess muss von innen kommen."

    Für die Forschung geht es darum, diesen Prozess zu verstehen, indem man ihn begleitet und dokumentiert. Auch im Jemen ist die Neuverhandlung von Interessen oder Macht zwischen den gesellschaftlichen Gruppen nicht abgeschlossen. In der Hauptstadt Sanaa auf dem Platz des Wandels ist eine Zeltstadt entstanden. Dort trifft sich, wer zuvor noch nie auf die Idee kam, miteinander zu kommunizieren, sagt die Islamwissenschaftlerin Marie-Christine Heinze:

    "Wir sehen, dass aus diesem Platz des Wandels praktisch ein Marktplatz der Ideen geworden ist. Ein Marktplatz von Debatten und Ideen und Ideologien und ein wirklich permanenter Austausch und eine permanente Diskussion. Es gibt Zelte wie das akademische Zelt oder das Medienzelt, wo die Leute zusammenkommen und Vorträge hören und debattieren oder sich einfach auch auf der Straße selbst austauschen und diskutieren. Es gibt Jugendgruppen, die sich dort gegründet haben von Jugendlichen, die sich vorher eigentlich noch nie gemeinsam irgendwas organisiert haben oder organisiert waren, die jetzt eigene Zeitungen herausgeben, die nur auf dem Platz des Wandels produziert und verteilt werden, um dort die Diskussion zu beeinflussen."

    Das am Institut für Orient- und Asienforschung der Universität Bonn angesiedelte Projekt verfolgt gemeinsam mit dem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Yemen Polling Center, wie diese Gruppen auf die politischen Ereignisse reagierten und reagieren - die Ausreise des Präsidenten nach Saudi Arabien, seine Rückkehr, die Wahlen, die Erarbeitung der neuen Verfassung. Marie-Christine Heinze:

    "Wie argumentieren sie? Und wie verändern sich die Ideen, die sie haben, und bestimmte Schlagwörter, die wir immer wieder hören, wie Demokratie, Freiheit, ziviler Staat. Wie verändern sich diese Begriffe und Ideen im Laufe dieser Debatte und des Abgrenzungsprozesses der verschiedenen Gruppen untereinander?"

    Der Bedarf an Antworten auf diese Fragen ist enorm. Zur Konferenz, die die Volkswagenstiftung an der Universität Leipzig organisierte, kamen 140 Wissenschaftler - beinahe doppelt so viele wie geplant, etwa 50 davon aus nordafrikanischen und arabischen Ländern.

    Schlumberger: "Es kommt nicht so oft vor, dass Geldgeber Wissenschaftler fragen: Was sollen wir denn finanzieren? Und insofern müssen die Wissenschaftler das jetzt auch als eine Chance begreifen, zu sagen: Wir nutzen die Chance, jetzt einen Input zu geben."

    Auf diesem Marktplatz für Forschungsideen wurde immer wieder klar, dass besonders der neue offene Raum für politische Artikulation das Interesse der Wissenschaftler weckt. Wer wird in diesem Prozess ausgeschlossen? Wer kommt hinzu? Mobilisiert wen? Wer setzt sich durch? Und wie? Rachid Ouaissa:

    "Die neuen Arten, sich zu mobilisieren, die neuen Arten sich zu artikulieren! Jetzt mobilisiert man sich nicht wie in den 60er Jahren in Form von großen Aufmärschen, großen Parolen. Jetzt ist das eine Revolution ohne große Parolen, ohne große leitende Ideologie. Das Internet scheint zu mobilisieren, individuell Leute zu mobilisieren. Und das ist das Novum, das muss man erforschen."

    Denn diese Art der Mobilisierung geht möglicherweise weit über die Region hinaus, sagt der in Algerien geborene Politikwissenschaftler:

    "Das andere ist die internationale Dimension. Wenn wir schauen: Die Occupy - gibt es da einen Zusammenhang? Ist das möglicherweise eine globale Expression von einer Generation, die von den internationalen, ökonomischen politischen Voraussetzungen einfach die Nase voll hat? "

    Die Neuverteilung von Geld in den Umbrüchen ist ein anderes großes Thema, das die Sozialforschung schnell angehen will. Das ist und wird nicht einfach in diesen dynamischen Zeiten. Wer nimmt dabei welchen Einfluss in Ägypten, Syrien, Jordanien und im Norden des Sudans? Darüber will am Bonn International Center for Conversion die Politikwissenschaftlerin Elke Grawert forschen:

    "Mit Kooperationspartnern aus diesen vier Ländern, die auch aus Friedens- und Konfliktforschung, aber auch aus der Ökonomie kommen, wollten wir dann uns besonders die wirtschaftlichen Akteure, die Wirtschaftseliten und ihre Interessen - wie die sich gestalten in diesem Umbruchprozess - untersuchen."

    Ouaissa: "Es gibt eine Forschung, die nur in den nächsten zwei Jahren gemacht werden kann: wie der Besitz den Herrn wechselt. Das ist das A und O von Demokratie. Wohin gehen die Milliarden? Wie wird das neue Ägypten aufgeteilt? Weil die alten Herren allmählich enteignet werden und Besitz und Nicht-Besitz noch eine Rolle spielt. Auch im künftigen Ägypten. Und die Milliarden, die die Trabelsi-Familie (Tunesien) hinterlassen hat, und wie die Grundstücke verteilt werden? Das wird schnell passieren. Und das definiert die künftige Struktur. Und diese Forschung muss schnell gemacht werden."

    Nicht ungefährlich - besonders für die Kooperationspartner aus den arabischen Ländern, sagt Elke Grawert. Denn noch ist die Freiheit der Forschung in den arabischen Staaten nicht das, was hierzulande darunter verstanden wird.

    "Damit müssen Wissenschaftler leben und sich arrangieren und müssen immer diesen Rahmen ausloten: Was kann ich in diesem Rahmen machen, ohne dass ich meine Stelle riskiere? Ohne dass ich plötzlich verhaftet werde, oder vor Gericht lande? Das waren oft die Diskussionen, die wir mit den anderen Partnern auch hatten. Wie können wir dieses Projekt machen, das natürlich kritisch beleuchtet einerseits: Wie funktioniert Wirtschaft? Da jeder weiß, dass es eine Menge Korruption gibt innerhalb der Staatsbürokratie, die eben mit der Wirtschaft zusammenhängt. Und dann diese Abhängigkeiten, also diese großen massiven Waffenexporte aus den USA und der Europäischen Union in diese Länder, die alle hoch aufgerüstet sind. Nicht so der Sudan, aber die anderen drei Länder, die wir einbeziehen. Das sind alles auch Wirtschaftsfaktoren natürlich, und das macht dieses Projekt natürlich aus vieler Richtung sehr, sehr sensibel."

    Mindestens so sensibel ist die Frage nach der Aufteilung von Macht in Bahrain, Syrien, Libanon oder Irak, wie sie am GIGA Institut für Nahost-Studien in Hamburg jetzt angegangen wird. Der Politikwissenschaftler Stephan Rosiny:

    "Die Fragestellung ist, warum im ostarabischen Raum der arabische Frühling ins Stocken geraten ist, und es in einigen Ländern zu Eskalationen kam - in Bahrain und Syrien vor allen Dingen -, in anderen Ländern zu gar keinen Protesten oder nur marginalen wie im Libanon und Irak. Und die vorläufige Antwort, die wir gefunden haben, ist, dass es auch an der Fragmentierung der Gesellschaften liegt. Weil die Länder ethnisch und konfessionell fragmentiert sind, haben sich keine nationalen Oppositionsbewegungen etabliert wie in Nordafrika, die dann eben gemeinsam gegen den Herrscher gekämpft haben."

    Wo aber Ethnien und Konfessionen und ihre Beteiligung an der Macht in den Blick geraten, wird mitunter das Eis für die Forscher sehr dünn. Auch wenn das Ziel letztlich ein Beitrag zur friedlichen Konfliktlösung sein soll, ist die Suche nach wissenschaftlicher Beteilung in den Ländern schwer. Zunächst startet das Projekt daher mit Partnern im Libanon. Denn dort ist das wissenschaftliche Umfeld freizügiger, sagt Stephan Rosiny:

    "Möglicherweise finden wir im Libanon schon mal Wissenschaftler und Akademiker aus den verschiedenen Ländern, die uns helfen können. Und sagen wir mal, der Idealfall wäre, wenn wir wirklich Studierende finden in den anderen Ländern, die vor Ort sind und regelmäßig in den Libanon kommen, damit wir dort unseren eigentlichen Austausch machen. Aber im Moment ist es politisch noch zu heikel. Man kann im Moment niemanden in Syrien zum Beispiel mit Feldforschung beauftragen. Im Irak ist es auch gefährlich und in Bahrain ist es extrem gefährlich. Denn das Thema dieser ethnischen Vielfalt oder konfessionellen Vielfalt ist ein Tabuthema in Ländern, in denen es bisher eben diese monoethnischen Diktaturen gab."

    Um so wichtiger sei es, dass Wissenschaftler aus der arabischen Welt auf Einladung zum Austausch nach Deutschland kommen, sagt Professor Stefan Reichmuth von der Ruhr Universität Bochum. Dafür könne von Deutschland aus aber noch einiges mehr getan werden, meint der Islamwissenschaftler:

    "Viele Partner, die wir haben, haben große Schwierigkeiten derzeit überhaupt Visa zu kriegen nach Deutschland. Wenn sich da die deutsche Visa-Politik nicht ein bisschen ändert, dann sind alle unsere Bemühungen eigentlich zum Scheitern verurteilt."

    Reichmuth selbst untersucht mit einem internationalen Team, wie weit es mit der Freiheit der Forschung an arabischen Universitäten steht:

    "Es geht um die Autonomie der Verfügung über das Geld, über Funding. Es geht um die Autonomie über den Lehrinhalt, über Curricula und dann auch in der Forschung."

    Ganz nah an der Entwicklung wollen alle forschen, die sich in Leipzig getroffen haben und sich gegenseitig ihre Forschungsideen präsentierten. 500 Seiten dick war allein der Reader, der die Ansätze aller Beteiligten auflistete. Die Themen gehen den Sozialwissenschaftlern also so schnell nicht aus - was auch immer noch passiert.

    Ouaissa: "Die Revolutionsforschung seit 200 Jahren mindestens hat gezeigt: Jede Revolution geht sowieso schief. Das ist die Erfahrung. Die ersten Gewinner sind immer die Reaktionärsten. Aber dann braucht es Zeit. Deswegen: Ich freue mich, dass die Jungs und Mädels am Platz Tahrir nicht im Parlament sitzen, sondern da draußen!"