Archiv


Schwierige Nachbarn

Dreimal geriet Polen zwischen die Fronten - dreimal wurde Polen geteilt. Das erklärt das tiefe Misstrauen, das viele Polen gegenüber den beiden großen Nachbarn Russland und Deutschland hegen. Nicht einmal der Beitritt zur Europäischen Union hat das Verhältnis vieler Polen zum westlichen Nachbarn Deutschland verändert.

Eine Sendung von Ernst Ludwig von Aster und Wojtek Mroz |
    Das wurde auch beim jüngsten Streit über das "Dokumentationszentrum gegen Flucht und Vertreibung" und die Besetzung des Stiftungsrates wieder deutlich: Unter dem Druck Polens verzichtete die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, schließlich auf Sitz und Stimme in diesem Gremium.

    Erika Steinbach ist neben Kanzlerin Angela Merkel mittlerweile die bekannteste Deutsche in Polen - und avancierte dort zum kollektiven Feindbild. Dabei scheinen Auseinandersetzungen wie diese zunehmend eine Generationenfrage zu sein. Viele junge Polen blicken lieber nach vorne als zurück - sie suchen im Zeichen einer gemeinsamen europäischen Zukunft nach einem neuen, entspannteren Verhältnis jenseits der Historiker- und Täter-Opfer-Debatten.



    "Alltägliche Begegnungen"
    Brückenspaziergang über die Oder
    Im Sekundentakt schieben sich Pkw über die Brücke. Daneben Fahrräder, Fußgänger. Von Ost nach West. Von West nach Ost. Unten rauscht die Oder, der Grenzfluss, oben läuft der polnisch-deutsche Alltagsverkehr über die Stadtbrücke zwischen Slubice und Frankfurt/Oder

    "Wir treffen uns doch jeden Tag, wir haben uns an die Deutschen gewöhnt",

    sagt Sneschana. Die junge Polin ist auf dem Weg nach Frankfurt/Oder, will dort Kontaktlinsenflüssigkeit kaufen.

    "Als Polen dem Schengen-Abkommen vor eineinhalb Jahren beigetreten ist, da das gab es hier eine große Party mit Feuerwerk. Wir haben einen Umzug gemacht, die Wissenschaftler von der Uni, die Studenten, der Woiowode. Alle waren wir auf der Brücke. Einige saßen sogar auf den Pfeilern. Alle waren gut drauf."

    Sneschana lacht, sie erinnert sich noch gut daran. Weil sie am nächsten Morgen Kopfschmerzen hatte. Ein Rentnerpärchen bleibt stehen, hört interessiert zu. Auch sie haben hier schon gefeiert. Vor fünf Jahren, den EU-Beitritt.

    "Vor fünf Jahren war hier eine nette Feier."

    "Hier gab es eine Bühne mit Show, dann kamen die Regierungsvertreter, alle haben gesungen, gefeiert, es war sehr lustig."

    Das war eine nette Feier, sagt der pensionierte Lehrer. Es gab eine richtige Bühne, der deutsche und der polnische Außenminister waren da. Alle haben gesungen und gefeiert. Und es gab reichlich Essen und Bier. Seine Frau nickt zustimmend. Die Zeit danach war weniger feierlich: Die Preußische Treuhand klagte vor dem Europäischen Gerichtshof auf die Rückgabe ehemals ostpreußischen Ländereien. Die konservative Kaczynski-Regierung wetterte gegen die deutschen Revisionismus-Tendenzen. Vertriebenen-Chefin Erika Steinbach hielt dagegen. Sie sorgt in Polen immer noch für Schlagzeilen. Zuletzt beim Streit um die Besetzung des Beirates der deutschen Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung". Von den Vertriebenen wurde Steinbach als Vertreterin nominiert, die polnischen Regierung protestierte. Nun bleibt der Stuhl leer. Der Rentner schüttelt den Kopf, winkt ab

    "Politik interessiert uns nicht", sagt er. "Wir sind doch Rentner. Warum sollen wir uns über die deutschen Nachbarn ärgern, wir haben doch genug Ärger bei uns in Polen. Es ist doch schön ,dass man jetzt einfach so von hier nach da gehen kann. Ganz ohne Kontrollen." Sneschana, die Studentin nickt. 700.000 Grenzgänger passieren die Brücke jeden Monat.

    "Die Nachbarschaft ist nicht schlecht. Die Deutschen haben ein bisschen mehr im Kopf als die Polen. Die können ihre Dinge einfach gut organisieren. In politischen Fragen sind sie effizienter. Allgemein lebt man dort besser, als bei uns."

    Nein, deutsche Freunde hat sie nicht. Sie kennt ein paar Studenten. Mit denen geht sie manchmal Kaffee trinken. Dann reden sie auf Englisch miteinander. Jetzt aber muss sie weiter. Sneschana verabschiedet sich. Geht ein paar Schritte Richtung Westen, dreht dann noch einmal um. Ihr ist noch etwas eingefallen.

    "Es ärgert mich ein wenig, dass die Deutschen Ansprüche auf Gebiete stellen, die sie angeblich verloren haben. Das ist nicht in Ordnung. Wir sind hier nicht von alleine hergekommen. Das war die Aufteilung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Polen könnten auch Ansprüche auf ihre Ostgebiete stellen, aber das ist doch Geschichte."




    Andrzej Stasiuk ist einer der bekanntesten polnischen Autoren der jüngeren Generation. Ob die Tristesse der Warschauer Plattenbau-Bezirken oder das pralle Leben in der ungarisch-rumänischen Grenzregion, der 49-Jährige fasziniert durch seine präzisen Alltagsbeschreibungen. "Dojzland" heißt sein neuestes hierzulande veröffentlichtes Buch. Es sind Beobachtungen von einer Lesereise, die den polnischen Autor - von Greifswald bis Freiburg - quer durch die Republik führte.


    Warten auf Erika
    Eine polnische Rentnerin und ihre deutsche Freundin aus Kindheitstagen
    Auf der Landstraße rollt der Berufsverkehr Richtung Danzig. Schnurgerade zieht sich das Asphaltband durch die Landschaft, links und rechts gehen Kleinstädte ineinander über, nur an den Ortschildern erkennt man die Gemeindegrenzen. Erst kommt Reda, dann Rumia.

    "Tlumiki Haki Hol", "Auspuffe und Anhängerkupplungen" wirbt ein großes Schild über einer Hof-Einfahrt. Darunter stemmt sich eine zierliche Frau mit aller Kraft gegen ein großes rotes Eisentor. Schiebt es langsam zur Seite. Hildegarda Dawidowska wischt sich mit dem Ärmel ihrer weißen Windjacke den Schweiß von der Stirn. Dann geht die Rentnerin langsam auf den gepflasterten Hof:

    "Mein Vater war Metzger, hier wurden die Schweine geschlachtet und Wurst gemacht. Und meine Mutter hat das dann verkauft. Und dann war hier noch ein großer Garten."

    Braunrot leuchten die Fassaden der Gebäude in der Sonne. Vorne, zur Straße hin, ein Lebensmittelgeschäft, links auf dem Hof in der ehemaligen Fleischerei ein Auspuffhandel:

    "Hier auf der rechten Seite haben die Hermanns gewohnt.

    sagt Dawidowska. Und deutet nach rechts auf einen Flachbau, mit zwei großen Metalltoren. Von den Hermanns hat ihr Vater viel erzählt. Eine deutsche Soldatenfamilie, nach dem Nazi-Überfall auf Polen nach Rumia abkommandiert, was bei den Nationalsozialisten fortan Rahmel hieß. Hildegarda lebte mit ihren Eltern hier im Haus. Die Hermanns im kleinen Nebengebäude.

    ""Meine Mutter sagte damals zu mir, dass da drüben ein Kind zur Welt kommen sollte. Und das es besser wäre, wenn das Kind in unserem Zimmer zur Welt käme. Es ist dann bei uns geboren worden. Danach ist Frau Hermann mit dem Kind nachhause gegangen."

    Drei Jahre ist Hildegarda damals alt. Sie erinnert sich so gut, weil ihr Vater die Geschichte immer wieder erzählt hat. Das Kind, das bei ihnen in der Wohnung zur Welt kommt, taufen die Hermanns auf den Namen Erika. Fast jeden Tag besucht Hildegarda die kleine Deutsche, wiegt sie in den Armen. Eines Morgens aber, im Januar 1945, ist die Familie verschwunden:

    "Ich erinnere mich noch, ich bin immer morgens früh zu Hermanns gegangen. Und eines Morgens waren sie weg. Von allen haben sie sich verabschiedet. Nur von mir nicht. Mein Vater sagte, sie wollten mir nicht weh tun."

    Die Hermanns flüchten vor der heranrückenden Sowjetarmee. Mein Vater dachte, dass die Familie an Bord der "Gustloff" gewesen wäre, sagt die Rentnerin. Die "Wilhelm Gustloff" wurde am 30. Januar 1945 von einem sowjetischen U-Boot versenkt, rund 9000 Flüchtlingen starben. Vor allem Frauen und Kinder. Dawidowska schüttelt den Kopf. Blickt betrübt durch die großen Brillengläser. Das die Hermanns überlebt haben, weil sie auf einem anderen Schiff waren, erfährt sie erst viel später.

    Hildegarda Dawidowska schließt das rote Eisentor, geht zum Wagen. Von Rumia geht es Richtung Reda. Rechts reihen sich riesige Supermärkte aneinander. "Dort war früher der Flugplatz", sagt die Rentnerin, "Dort haben die Hermanns gearbeitet." Bis sie vor den heranrückenden Russen flüchteten.

    "Sie sind doch von alleine von uns weggegangen."

    "Nein, vertrieben hat sie hier niemand", sagt Dawidowska. Und blickt ernst. Sie sind als Besatzer gekommen. Und als Flüchtlinge gegangen.

    Die Rentnerin parkt den Wagen vor einem Flachbau in der Harcerska-Straße. Fingert den Schlüssel aus der Tasche, öffnet die Holztür zu einem zweistöckigen, kleinen Haus. Hinter der Tür wartet schon eine schwarze Mischlingshündin

    Vier Uhren ticken in dem kleinen Wohnzimmer, auf dem Schrank ein Foto von ihrer Hochzeit, gleich daneben zwei Papstportraits. "Setzen Sie sich doch", bittet die 69-Jährige, eilt in die Küche. Kommt kurz darauf mit Kaffeetassen und selbstgebackenem Kuchen zurück. Hildegarda Dawidowska setzt sich in einen der alten Sessel, atmet tief durch. Nimmt einen Schluck Kaffee. Schließt kurz die Augen. Erinnert sich an den Augenblick, als die kleine Erika Hermann vor ihren Augen das erste Mal wieder auftauchte. Im polnischen Fernsehen. Als Erika Steinbach.

    "Ich saß auf diesem Sessel, da drüben lief der Fernseher. Da wurde eine Frau interviewt. Plötzlich fing mein Herz immer stärker an zu klopfen. Ich denke, was ist denn mit mir los? Ich kenne diese Person doch gar nicht. Was ist los mit mir? Ich zitterte, und als sie anfing zu erzählen, dass sie in Rumia gewohnt hat, da habe ich mich an die Worte meines Vaters erinnert."

    Und an seine Erzählungen über die kleine Erika. Hildegarda Dawidowska recherchiert weiter. Findet heraus, dass Erika Steinbach tatsächlich eine geborene Hermann ist. Und in Rumia zur Welt kam. Die Rentnerin nimmt all ihren Mut zusammen. Schreibt einen Brief. An die Chefin des Bundesverbandes der Vertriebenen, die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach

    "Ich habe ihr zuerst geschrieben. Bei uns zuhause haben wir doch so viel über die Familie Hermann gesprochen. Mein Vater sagte, wenn sie überlebt hätten, dann hätten sie sich gemeldet. Aber wir dachten jahrzehntelang, dass sie auf der Gustloff gestorben wären."

    Die Rentnerin geht zum großen Wohnzimmerschrank. Öffnet ein Fach unten links. Da sammelt sie ihre Briefe. Und Unterlagen. Obenauf liegt ein kleiner, postkartengroßer Zettel. Polnische Wörter, daneben, per Handschrift die deutschen Übersetzungen.

    Im Stapel darunter, ein Briefumschlag. Oben links, aufgedruckt der Bundesadler, darunter der Absender: Erika Steinbach, Mitglied des Deutschen Bundestages, Sprecherin für Menschrechte und humanitäre Hilfe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Mit zitternden Händen zieht Hildegarda Dawidowska den Brief heraus:

    Liebe Frau Dawidowska,

    für die Advents- und Weihnachtszeit wünsche ich Ihnen und ihren lieben Angehörigen alles Gute. Ich hatte mich seinerzeit sehr über ihren lieben Brief gefreut. Seither überlege ich, wann ich Sie besuchen kann. Für das Frühjahr nächsten Jahres habe ich es mir fest vorgenommen. Ich werde mich mit Ihnen rechtzeitig in Verbindung setzen. Und freue mich sehr auf die Begegnung mit Ihnen.

    Mit herzlichen Grüßen
    Erika Steinbach



    Ein Schreiben aus dem November 2007. "Ich habe mich damals sooo gefreut", sagt die Rentnerin. Doch sie wartet vergeblich. Aus der angekündigten Begegnung wird nichts. Im Frühjahr 2008 nicht. Im Frühjahr 2009 auch nicht. In den polnischen Medien dagegen ist Erika Steinbach fast wöchentlich präsent. Neben der Kanzlerin Angela Merkel ist sie die populärste Deutsche in Polen. Und sorgt als Chefin des Vertriebenenverbandes regelmäßig für Negativschlagzeilen. "Polenfeindlich" nannte sie der polnische Deutschland-Beauftragte Wladislaw Bartoszewski. Und eine "Berufsrevanchistin". Hildegarda Dawidowska schüttelt den Kopf:

    "Mich interessiert das nicht, was die Leute über sie sagen. Diese Vertriebenendiskussion ist doch überflüssig. Die Polen haben soviel durch den Krieg verloren."

    Vorsichtig legt sie den Brief auf den Tisch. Neben ihren Vokabelzettel. Streicht mit der Hand darüber. Die Hand zittert. "Ich möchte Frau Steinbach gerne sehen", sagt sie. "Uns verbindet doch die Kindheit."

    Nein, sie hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die kleine Erika von einst demnächst einmal ihren Geburtsort besucht. Und sie ihr ihre Geschichte erzählen kann.


    "Wir müssen uns verteidigen"
    Der Kampf einer polnischen Politikerin gegen Vertriebenenfunktionäre
    Die Swietojanska-Straße in Gdynia: Plattenbauten aus den 70er-Jahren, mal vier-, mal fünfstöckig. Nur selten steht ein altes Gebäude dazwischen. Gdynia, die alte Ostsee-Hafenstadt wurde von den Nationalsozialisten zu 80 Prozent zerstört, fast 40.000 Polen wurden hier 1939 deportiert. Tausende starben im nahegelegenen Konzentrationslager Stutthoff.

    Mit schnellen Schritten eilen die Passanten die Swietojanska-Straße entlang. Über einem Geschäft für Vitaminpräparate wirbt ein großes Schild: "Buiro Senatorski, Senator Dorota Arciszewska-Mielewczyk".

    Eine enge Treppe führt hinauf. In den ersten Stock.

    "Stanislaw, gib mir bitte mal die Briefe. Die wir kriegen, gib mir bitte den Ordner."

    In resolutem Ton gibt Dorota Articzewska ihrem Mitarbeiter Anweisungen. Die Senatorin stemmt die Hände in die Hüften, wiegt ungeduldig den Kopf hin und her. Leuchtend pinkfarbene Seidenbluse, knielanger schwarzer Rock, breiter schwarzer Gürtel,. hohe schwarze Stiefel, schwarze Perlenkette - die 41-Jährige gibt sich knallig-konservativ:

    "Hier haben wir einen Bruchteil der Briefe, die wir bekommen haben, gib mir mal den Ordner, gib mir mal die Briefe, ich kriege eine ganze Menge Korrespondenz aus Poznan, Wroclaw."

    Dorota Arciszeswka geht selber zum Regal, greift sich einen Ordner, geht in ihr Arbeitszimmer. Die hohen Stiefel klappern auf dem Holzboden. "Jeden Tag bekomme ich Briefe", sagt die 41-jährige Senatorin. Und zieht ein Schreiben aus dem Umschlag, beginnt zu lesen:

    "Ich habe gehört, wie Frau Senatorin in Radio Marya über das Thema Vertreibung sprach. Mein Großvater in Danzig wurde von der Gestapo ins KZ Stutthoff geschickt. Es ist schade, dass im polnischen Senat nur eine Frau den Mut hat, über dieses Thema zu sprechen. Sie haben meine Unterstützung. Major Romanski"

    Dorota Articzewska lächelt zufrieden. Sie ist Mitglied der Konservativen PIS-Partei, saß zwei Legislaturperioden im Parlament, vertritt nun die konservative Kaczsynski-Linie im polnischen Oberhaus, dem Senat. Vor vier Jahren wurde sie auch noch Verbandschefin. Ehrenamtlich:

    "Ich habe die Polnische Treuhand gegründet. Die soll uns vor den Deutschen verteidigen, vor allem vor den deutschen Vertriebenen von Frau Erika Steinbach."

    "Unsere Organisation ist eine Reaktion auf die Gründung der 'Preußischen Treuhand'", sagt Articewzska. Die wurde von dem CDU-Mitglied Rudi Pawelka vor einigen Jahren in Deutschland gegründet. Hat gerade mal eine Handvoll Mitglieder. Und will vor dem europäischen Gerichtshof für die Rückgabe von Landbesitz in den ehemaligen Ostgebieten streiten.

    "Wenn jemand die Oder-Neiße-Grenze nicht anerkennt, wenn wir hören, dass Polen nicht in die EU aufgenommen sollte, weil es den Deutschen noch keine Entschädigung gezahlt hat, wenn uns Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden, obwohl die Deutschen uns angegriffen haben - dann müssen wir uns verteidigen."

    "Verteidigung" - das Wort benutzt die 41-Jährige oft und gerne. Hart blicken dann ihre grünen Augen. Fixieren den Gesprächspartner. Ihr politischer Kampf gegen die Preußische Treuhand und die Vertriebenenverbände hat sie in Gdynia und ganz Polen populär gemacht. So macht sie immer wieder Schlagzeilen

    "Ich habe auch vorgeschlagen, die Schäden in Gdynia zu berechnen, so wie es schon unser ehemaliger Ministerpräsident Kaczynski mit Warschau gemacht hat: Wir sollten ausrechnen, welche Schäden die Deutschen angerichtet haben. Dann kann man sagen: Wollt ihr rechnen? Bitte schön hier ist die Rechnung. Und dann werden wir sehen, wer wem etwas zahlen sollte."

    Die Senatorin gestikuliert mit der Linken. Polen, das ist für sie das Land der Opfer. Und Helden. Die Geschichte ein Kampf um das nationale Überleben. Dreimal wurden Polen aufgeteilt zwischen Preußen, Russland und Österreich, mehr als einhundert Jahre war der Staat von der Landkarte verschwunden. Arcizewska spricht schnell. Artikuliert hart. An der Wand hängen polnische Orden, die ihr verliehen wurden. Darunter dutzende Medaillen. Darüber das Staatswappen, der polnische Adler. Daneben zwei Fotos. Dorota Articzewska kniend vor Johannes Paul dem Zweiten, dem polnischen Papst.

    Arciszewska geht zum Schreibtisch. Greift zu einem Handzettel: Eine Kohlezeichnung als Werbung für die polnische Treuhand: Eine knochige Hand ragt aus einem Ärmel mit Hakenkreuz, greift groß und gierig von Westen aus nach polnischen Ländereien und Industrieanlagen. Unten rechts wehrt sich ein polnischer Infanterist. Versucht mit aufgepflanztem Bajonett seine Heimat zu verteidigen. "Raus" steht darunter in knallroten Großbuchstaben. Articzewska lächelt.

    "Stanislaw ist das hier SS oder Waffen-SS", will sie von ihrem Assistenten wissen. "Waffen-SS" schallt es aus dem Nebenraum.

    "Vor zwei Jahren haben wir die Flyer gedruckt wo Ordensritter, Waffen-SS und Frau Steinbach drauf sind. Und unten drunter ein Hitlerzitat."

    Die deutsche Vertriebenenchefin in einer Reihe mit Ordensrittern und Waffen-SS-Männern - das Kölner Landgericht stoppte die Verbreitung des Flugblatts per einstweiliger Verfügung. Arciszewska aber pocht auf ihre Meinungsfreiheit. Mittlerweile geht der Streit in die dritte Instanz.

    Stanislaw kommt herein, deutet auf seine Armbanduhr. Draußen wartet ein Journalist aus Großbritannien. Dorota Arciszewska macht eine abweisende Handbewegung. Sie ist noch nicht fertig. Wechselt aber schon mal ins Englische

    "Ihr Wissen über den Zweiten Weltkrieg ist gleich null. Das ist das Problem. Die jüngste deutsche Generation weiß nichts. In euren Büchern steht nicht ein Satz darüber, was ihr Polen angetan habt. Das sagt niemand."

    Im Westen nichts Neues. So sieht sie das. Ob Günter Grass, der mit seinem Roman "Im Krebsgang" das Schicksal deutscher Vertriebener zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen machte, sich an seine SS-Mitgliedschaft aber nur mühsam erinnern konnte. Ob Jörg Friedrich, der in seinem Buch "Der Brand" die Bombenangriffe der Alliierten im Zweiten Weltkrieg zum Thema machte - für Articzewska arbeitet die bundesdeutsche Öffentlichkeit an einer Umdeutung der Geschichte: Deutschland versuche, die Täterrolle abzustreifen und die Opferrolle einzunehmen - auf diese Weise soll die deutsche Schuld relativiert werden. In diesem Zusammenhang sieht sie auch den Medienrummel. um die "Operation Walküre"-Verfilmung mit Tom Cruise. Das Hollywood-Melodram um den Hitler-Attentäter:

    "Ihr schreibt über Stauffenberg, der ein normaler Nationalist war, der die Polen hasste und nur an die Macht wollte. Ihr schreibt über einen Untergrundkampf, den es in Deutschland nie gegeben hat. Es waren alles nur gute Deutsche. Aber es gibt keine namenlosen Nazis."

    Die 41-Jährige gestikuliert mit beiden Händen. Die grünen Augen blicken hart. Die Deutschen wollen nicht verstehen, sagt sie. Deshalb ist sie auch gegen polnisch-deutsche Jugendprogramme. Dort würden die Heranwachsenden nur indoktriniert, fürchtet sie.

    "Auf deutscher Seite gibt es eine Geldmaschine, das ist eine sehr starke Maschine. Und man hat sich schon daran gewöhnt, dass die Polen ruhig bleiben. Aber ein kleiner Hund kann auch beißen. Und wir kämpfen. Es kann nicht sein, dass die Deutschen für uns die Geschichte schreiben."


    "Deutschstunde"
    Eine Schulklasse diskutiert über den großen Nachbarn
    Der Klang der alten Klingel schrillt über die Gänge, Sekunden später öffnen sich die alten Holztüren, strömen Schüler aus den Räumen. Pause am Zbiegniew-Herbert-Lyceum, einem Gymnasium im westlichen Polen

    In einem kleinen Raum, am Ende des Ganges im dritten Stock, sitzt die Sekretärin der Direktorin. Steife Bluse, strenge Brille. Vor sich eine lange Liste, "Matura" steht oben drüber. Zur Zeit wird das polnische Zentralabitur geschrieben. 70.000 Schüler legen einen Teil ihrer Prüfung in Deutsch ab. Das sind rund 15 Prozent aller Abiturienten

    Pani Katarzyna kommt herein. Sie ist Geographielehrerin, jung und blond. Gleich soll sie die 1 C unterrichten. Pani Katarzyna greift sich einen Stapel Bücher.

    "Heute werden wir uns mit Geographie und Gesellschaft beschäftigen", sagt die Lehrerin während sie über den alten Flur eilt. Vorbei an etlichen, selbstgestalteten Plakaten. Fotos von polnisch-deutschen Jugendcamps, europäischen Jugendbegegnungen, Erlebniswochen.

    Gut 25 Schüler warten vor der Tür, Pani Katarzyna schließt auf, die 16 und 17-Jährigen drängen in den Klassenraum. Die Jungs in die vorderen Reihen, die Mädchen in die hinteren. Pani Katarzyna setzt sich nach vorne links, blättert im Geographiebuch. Lehrstoff über Deutschland:

    "Deutschland ist ein wichtiges Land der Europäischen Union, da lernen wir alles über die geographische Lage, über die Gesellschaft, die Wirtschaft. Wir lernen, dass die Grenzregionen in Ostdeutschland immer mehr Einwohner verlieren. Dann beschäftigen wir uns noch mit der Demographie. Und der Migrationspolitik. Zum Beispiel, dass sehr viele Türken in Deutschland leben."

    "Fleißig, ehrlich, gut organisiert. Wenig gläubig, wenig freundlich" - so ungefähr sieht das polnische Deutschlandbild aus, wenn man den Umfragen glauben darf. Die Schüler blicken gelangweilt. So richtig spannend finden sie die Geographie des Nachbarlandes nicht. Auch wenn sie im Grenzgebiet wohnen.

    "Ich gehe nicht rüber nach Deutschland," sagt Gosha. Entschieden schüttelt die 16-Jährige den Kopf. Ihr schwarzer Pferdeschwanz schwingt hin und her. "Ich mag die Deutschen nicht", sagt sie. Ihre Art, ihre Arroganz.

    "Genau", sagt Mihau aus der ersten Reihe. "Wenn wir durch Frankfurt/Oder laufen, dann werden wir gleich skeptisch beäugt. Richtig unfreundlich."

    Andrzej, zwei Plätze weiter, nickt. Die Erfahrung haben vor allem die Jungs männlichen Schüler gemacht. Und das mehr als einmal. "Die Polizei kontrolliert uns viel öfter als die Deutschen", sagt Andrzej. Und wie oft müssen Polen ihre Koffer und Taschen vorzeigen, weil ihnen unterstellt wird, sie hätten geklaut Pani Katarzyna unterbricht, winkt ab. So hat sich die Lehrerin ihre Geographie-Deutsch-Stunde nicht vorgestellt

    "Ich wundere mich, warum diese Schüler so über Deutschland sprechen. In anderen Klassen sieht es anders aus. Die nehmen sogar an Austauschprogrammen teil. An polnisch-israelisch-deutschen Jugendbegegnungen zum Beispiel. In anderen Klassen sieht es ganz anders aus."

    Diese Klasse aber diskutiert weiter. Alle müssen hier neben Englisch auch Deutsch lernen Für die meisten ist das ein Ärgernis. Freiwillig würden hier nur vier der 25 Schüler zum Deutsch-Unterricht gehen. Agnieska zum Beispiel.

    "Ich habe einen deutschen Bekannten", sagt sie. Den habe ich übers Internet kennengelernt. Beim Chatten in einem Pop-Musik-Forum. Seit knapp einem Jahr schreiben sie sich. Auf Englisch. Das ist einfacher.

    Er kommt aus Dortmund erzählt sie. Über Polen wusste er nur, dass es ein Nachbarland von Deutschland ist. Und dass wir Krieg gegeneinander geführt haben. "Da wusste ich doch mehr über Deutschland", sagt Agnieska. Pani Katarzyna vorne am Lehrertisch lächelt. Vor ein paar Monaten hat Agnieska ihren Bekannten das erste Mal in Dortmund besucht. "Nein, so richtig groß war sein Interesse an Polen nicht", sagt sie. Gefragt hat er wenig. Aber immerhin, sie hat ihm ein paar Wörter beigebracht - "Fenster", "Wand" und "Tür".

    Die Mitschüler feixen. "Agnieska fand er schon interessant", sagt einer. "Polen weniger." Pani Katarzyna ärgert sich. Agnieska lächelt. Demnächst will ihr Bekannter sie in Polen besuchen.

    Die alte Klingel ruft zur Pause. Pani Katarzyna ist die Erleichterung anzusehen. Nachher, sagt die Lehrerin, wird sie sich noch einmal ernsthaft mit den Schülern unterhalten. Über Deutschland.


    Kampf ums Haus
    Deutsche Erben gegen polnische Mieter
    Ein braunes Holztor vor der Einfahrt, daneben ein kleiner Holzpavillon. Ein Zaun und eine dichte Hecke versperren den Blick von der Straße. Der Besitzer des Hauses Nr. 52 an der Uliza Polanki im Danziger Stadtteil Oliva liebt die Zurückgezogenheit. Hier wohnt Lech Walesa, der ehemalige polnische Präsident und Friedensnobelpreisträger. Drei Häuser weiter rechts aber ist es mit der Ruhe vorbei, hier suchen Nachbarn förmlich die Aufmerksamkeit.

    Andrzej Felsztynski steht in seinem kleinen Vorgarten, legt den Kopf in den Nacken, gehrt einige Schritte rückwärts. Versucht das große weiße Banner in den Blick zu bekommen, das sich quer über die Hauswand zieht. Zwischen Erdgeschoss und erstem Stock.

    "Es ist das nächste Haus, das, welches sie uns wegnehmen. Die Regierung wartet auf ein Wunder, wir warten auf die Rettung."

    Knallrote Buchstaben auf weißem Grund. Zweizeilig quer über die ganze Hauswand. Schon von weitem zu sehen. Nur ein einziges Wort ganz oben rechts zugeklebt? Felsztynski lächelt

    "Sie sehen, das Wort "Deutsche" ist zugedeckt. Der Stadtrat hat auf uns Druck ausgeübt, dass wir das Wort Deutsche abdecken."

    Und da er keinen Ärger will, hat er es abgeklebt. Denn Ärger hat er schon genug. Der schlanke Endfünfziger bittet ihm zu folgen, es geht einige Schritte rechts herum, dann an der Seitenwand des Hauses entlang

    "Mein Großvater ist aus Gdynia verjagt worden, nach dem Krieg ist er hier eingezogen, 1947. Damals lebte der Besitzer noch hier, das war ein Herr Lindhoff. Als er 1963 starb, ist seine Frau nach Deutschland ausgewandert. Sie hat auf das Haus hier verzichtet und dafür eine Entschädigung bekommen. Aber jetzt wittert die nächste Generation, dass hier Geld zu holen ist, und will das Haus zurückhaben."

    Felsztynski bittet ins Haus, über alte Holzdielen geht es, an der Küche vorbei ins Wohnzimmer. Dort sitzt sein Sohn auf dem Sofa

    "Hier ist mein Sohn, er lernt Deutsch in der Schule","


    sagt der Vater. Der 16-Jährige nickt kurz zur Begrüßung, verschwindet dann schnell in sein Zimmer. "Das Sprechen muss er noch ein bisschen üben", witzelt sein Vater.

    "Ich bin hier geboren, mein Großvater kam hier 1947 oder 48 her, Genau weiß ich es nicht. Hier haben meine Eltern geheiratet, ich bin hier geboren, meine Eltern sind hier verstorben, meine erste Frau ist hier gestorben. Alles, was meine Person angeht, dreht sich um diese Wohnung."

    Auf einem kleinen Beistelltisch hat er gut ein Dutzend DIN-A4-Kopien bereitgelegt. Der 56-Jährige beugt sich nach vorne, zieht ein Blatt aus dem Stapel. Die erste Mitteilung, dass eine deutsche Familie Ansprüche auf das Haus erhebt, kam ausgerechnet an einem 1. April.

    "Ich dachte nach dem ersten Brief, dass das ein Scherz ist. Wir sind dann gleich zu unserer kommunalen Hausverwaltung gelaufen. Und die haben gesagt: Lassen Sie die Sache einfach in Ruhe laufen."

    Doch unruhig wurde er trotzdem. Nun beschäftigt dieser Fall schon seit zwei Jahren die Gerichte und es ist völlig unklar, wie es mit den sieben Mietern des Hauses weitergehen soll.

    Jacek, der Nachbar kommt herein. Ein Hüne in Jeans und Pullover, Bernsteinschleifer von Beruf. Er legt noch einen Stapel Dokumente auf den kleinen Glastisch.

    "Wir haben die Wohnung meiner Mutter gegen diese hier eingetauscht, das haben wir über die Stadtverwaltung gemacht. Wir waren überzeugt, dass dieses Haus der Gemeinde gehört, dass die alten Besitzer auf alle Rechte verzichtet hätten."

    Die Kommune machte mit ihm einen Mietvertrag. Wie mit allen Nachbarn. Felsztynski nickt. Greift wieder in seinen Kopienstapel, zieht noch ein Dokument hervor.

    "Sogar die Kinder der Besitzerin haben verzichtet. Dr. Raymond Lindhoff, der bis vor kurzem noch lebte, hat an die Kommunalverwaltung geschrieben und seinen Verzicht bestätigt. Das hat er 1966 gemacht. Das wurde sogar beim Notar gemacht."

    Trotzdem schaffte es die Enkelin der ehemaligen Hausbesitzerin sich in das Grundbuch eintragen zu lassen. Wie das geschehen konnte, das weiß bis heute niemand. Allerdings steht fest:

    "Wir konnten sehen, dass unsere Kommunalregierung das verschlafen hat. 1967 war notariell alles klar. Und die Kommune hat das in die Schublade gelegt. Und liegenlassen. Und Jahre später hat die Gemeinde die Erben angeschrieben, mit der Bitte, zu verzichten. Das war für die deutsche Seite ein Signal: 'Oha, hier gibt es etwas zu holen'."

    Andrzej Felsztynski schüttelt den Kopf. Der pensionierte Lackierer hat viele deutsche Freunde, seine Patentante lebt in Hamburg. Keiner kann verstehen, was zur Zeit hier abläuft. Die Freunde regen sich mindestens so auf wie wir, sagt er.

    "Sie waren empört, dass die versuchen, das hier wiederzukriegen. Obwohl ihre Vorfahren verzichtet haben. Und das ohne Rücksicht auf die Leute, die hier leben. Hätte ich gewusst, dass es soweit kommt, dann wäre ich doch in eine Wohnungsbaugesellschaft eingetreten und hätte nicht mein Geld in dieses Haus gesteckt. Hier war nichts, keine Heizung, nichts."

    Und dass nun irgendwelche deutschen Erben davon profitieren sollen, das macht ihn richtig ärgerlich. Jacek nickt. Auch er hat viel in den Umbau seiner Wohnung investiert, lebt seit zehn Jahren hier. Er lächelt resigniert. In Deutschland, sagt er, wäre so etwas nicht passiert:

    "Die Deutschen sind vielleicht ein bisschen steif, sie sind nicht spontan. Und sie improvisieren nicht so gerne wie wir. Aber sie sind ordentlich, achten ihre Regierung und handeln so, wie es das Gesetz vorsieht."

    Eine deutsche Gemeinde hätte ihre Besitzansprüche auf das Haus sofort eingetragen, da ist er sich ganz sicher. Doch das hilft ihnen jetzt nicht weiter Sie müssen kämpfen mit den Versäumnissen der Vergangenheit. Und den Begehrlichkeiten von heute. Die Stadtverwaltung hat signalisiert, dass sie ihnen helfen wird. Der Oberbürgermeister hat versprochen, dass er sich kümmert. Und gebeten, das Wort "Deutsche" von der Hauswand zu streichen. Das haben sie getan und seitdem aus der Stadtverwaltung nichts mehr gehört.

    "Aus der historischen Sicht ist es eine Sache. Aus der menschlichen Sicht eine andere. Aus der juristischen Sicht aber ist die Sache für uns verloren. Es ist einfach traurig, dass unsere Politiker nur an sich gedacht und über 20 Jahre nichts gemacht haben."

    Jacek zuckt mit breiten Schultern. Hält die Papiere in den großen Händen. Was sollen sie machen? Er weiß nicht weiter:

    "Ich möchte die Leute, die das Interesse hier am Haus haben, gerne kennenlernen. Es wäre doch gut, wenn sie uns treffen würden, sie sollen uns anschauen, mit uns reden. Vielleicht würden sie dann anders denken."

    Sein Nachbar nickt. Er will die Hoffnung nicht aufgeben. Die deutschen Erben könnten doch den großen Garten bekommen, dort das Bauland zu Geld machen. Und die Mieter könnten weiter bei der Kommune im Haus wohnen.

    "Ich sage: Als der alte Herr Lindhoff krank war, hat meine Mutter ihn mit gepflegt, er war doch sehr gebrechlich. Die Polen und die Deutschen haben in diesem Haus doch immer sehr gut zusammen gelebt."


    Deutsch-polnische Verwirrung
    Bekenntnisse eines Grenzgängers
    Der Automat im Foyer des Collegium Polonicums brüht Kaffee im 30-Sekundentakt. Studenten stehen Schlange, warten geduldig auf ihren warmen Wachmacher. Mit schnellem Schritt eilt Krysztof Wojchiechwoski durch die Vorhalle, grüßt nickend in alle Richtungen.

    "Die polnischen Studenten sind in einer traditionellen Schule aufgewachsen, sie sind gewöhnt hart zu arbeiten, sich viel Wissen anzueignen und sagen wir, dieses Wissen und den Erwartungen der Lehrer und der Prüfenden und der Institutionen wiederzugeben."

    Wojchiechowski bleibt kurz stehen, ein Student will ihn sprechen. Der Soziologe und Philosoph hat wenig Zeit, bittet, ihm eine E-Mail zu schreiben. Weiter geht es in den ersten Stock.

    "Die deutschen Studenten dagegen sind junge Menschen, die in der Schule eher auf Persönlichkeitsmerkmale trainiert wurden, das heißt, sie haben es gelernt sich zu profilieren, Fragen zu stellen, Probleme zu sehen, im Unterricht als Individuen aufzutreten, und dieses konforme Denken der Polen, was soll ich sagen, damit der Lehrer oder Professor mich lobt, das ist ihnen fremd."

    Angewandte Studien über Studenten. Für den 53-jährigen Wissenschaftler ist das Alltag am Colloqium Polonicum. Einer polnisch-deutschen Einrichtung, gegründet von der Adam-Miskiewicz-Universität aus Poznan und der Europauniversität Viadrina aus Frankfurt/Oder.

    "Wenn Sie schnell für die Bedürfnisse des Unterrichts eine Information haben wollen von den jungen Leuten, wann war zum Beispiel in der französischen Revolution die Diktatur der Jakobiner, dann fragt man die Polen. Und wenn Sie schnell wissen wollen, welche Bedeutung diese Diktatur für den Verlauf der Revolution hatte, dann fragen Sie die Deutschen. Und so funktioniert das."

    Wojchiechwoski stoppt vor Zimmer 101. Hier ist sein Büro. "Direktor" steht auf dem Türschild. Im Vorzimmer, rechts an der Wand, hängen gut ein Dutzend DIN-A4-Zettel. Dokumente missglückter Verständigung:

    "Der Bürgermeister von Frankfurt, der Oberbürgermeister hat mich einmal als 'Sehr geehrter Herr Miskiewicz' angeschrieben, was mich sehr schmeichelt, dass man mich für den polnischen Goethe hält. Und am Schönsten war es, als man die Viadrina Viagrina nannte."

    Alltägliche Missverständnisse. Symptome eines oft grundsätzlichen Unverständnisses, über das sich der Philosoph immer wieder aufs Neue amüsieren kann. Ohne sich darüber aufzuregen. Vielen seiner Landsleute geht es da anders, weiß Wojchiechowski

    "Diese Empfindlichkeit gegenüber allen unser Selbstwertgefühl mindernden Signalen von der deutschen Seite ist wirklich sehr beachtlich. Das hat nichts mehr mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Das ist auch bei der Generation vorhanden, die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg geboren ist. Das hat auch nichts mit Frau Steinbach zu tun oder den Vertriebenenverbänden. Das ist einfach eine Relation: Großer Nachbar mit großer Wirtschaft, großem Geld usw. kleiner Nachbar mit kleinem Geld und so weiter."

    Ein ähnliches Verhältnis verbindet Polen auch mit Litauen, sagt Wojchiechwoski. Nur dass in diesem Fall Polen der große Nachbar ist. Der 53-Jährige nimmt einen Schluck Kaffee, schmunzelt, lehnt sich im Bürostuhl zurück, streckt die Beine untern dem Tisch aus. Die polnische und die deutsche Welt, sie mischen sich in seinem Kopf, sagt er. Und in der Realität prallen sie dann wieder aufeinander. Tag für Tag:

    "Jeden Tag erfahre ich das, was typisch deutsch ist. Jeden Tag werde ich damit konfrontiert, dass man von mir etwas Schriftliches verlangt. Das ist ein deutsches Ritual, dafür sind die Deutschen bekannt, wenn sie zu Gesprächen kommen, egal ob das kulturelle, politische oder wirtschaftliche Gespräche sind, knallen sie erst mal auf den Tisch einen Stapel Papiere. Das ist mein Schicksal zwischen 8.00 und 16.30 Uhr."

    Außer, wenn er mit polnischen Kollegen zu tun hat. Die aber machen ihm das Leben auch nicht viel leichter:

    "Auf der polnischen Seite werde ich mit einem Gegenphänomen konfrontiert: Warum haben sie einen Brief geschrieben, sie konnten ja anrufen? Das ist sozusagen die entgegengesetzte Haltung man hält Dokumente für etwas Suspektes: Will er sich damit absichern und uns dann irgendwann angreifen? Wenn er gute Absichten hätte, hätte er doch mit uns gesprochen oder mindestens telefoniert. Aber nicht gleich irgendwas Schriftliches vorgelegt."

    Eine tägliche Grenzerfahrung, die den Soziologen sichtlich erheitert. Wojchiechwoski schließt die Augen. Ein Lächeln breitet sich in seinem Gesicht aus. Er legt die Hände übereinander, denkt an einen Selbstversuch. Seinen täglichen Fahrradweg von West nach Ost:

    "Wenn ich mit dem Fahrrad durch Frankfurt fahre, dann läuft im Hinterkopf so ein Programm, der gewisse Gefühle und Empfindungen aktiviert. Und die lassen sich in folgende Sätzen umschreiben: Jetzt fahre ich auf dem Bürgersteig, Mist. Gleich kann mich die Polizei anhalten, da soll man nicht fahren. Aber was soll ich auf der Straße fahren. Der Bürgersteig ist ja breit genug. Aber trotzdem tue ich etwas Unrichtiges. Ein ständiges Gefühl schuldig zu sein, nicht den Standards gerecht zu werden."

    Dann geht es über die Oder. Richtung Osten.

    "Kaum überschreite ich die Brücke, ändert sich das: Ich werde von dem Objekt der Gesellschaft, dem Gemaßregelten sozusagen, zum Richter: Was für ein Idiot hat den Bürgersteig so gebaut, dass er zu schmal ist, was für ein Idiot hat dieses Loch nicht repariert, was für eine Idiotin läuft mir entgegen. Ich dachte, in meinem Kopf ist etwas nicht richtig."

    Polnisch-deutsche Grenzerfahrungen an der Oder. Wojchiechwoskis Lächeln wird noch etwas breiter.

    "Wenn ich von etwas träume, dann davon, dass von diesen Eigenschaften des deutschen und des polnischen Geistes eine konstruktive Synthese gemacht wird."

    Da spricht der Philosoph Wojchiechwoski. Der denkt in größeren Zeitläufen. Der Soziologe aber wird weiter Beispiele für sein polnisch-deutsches Kuriositätenkabinett sammeln. Und gelassen die weitere Entwicklung betrachten.

    "Es gibt eine Ehe, die schon seit 18 Jahren andauert. Und in so einer Ehe gibt es mit eiserner Konsequenz gewisse Erscheinungen. Zum Beispiel: Man kennt sich sehr gut, und man findet den anderen nicht so sexy wie früher und nicht so spannend und interessant wie vor der Ehe oder in den ersten Jahren. Allerdings man ist gewissenhaft und erfüllt gewisse Verpflichtungen."



    Literaturauszüge aus: Andrzej Stasiuk: Dojczland. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008, Übersetzung: Olaf Kühl, ISBN-978-3-518-12566-3