Essensausgabe bei der Berliner Tafel in Berlin-Neukölln. Auf ausgeklappten Tapeziertischen stapeln sich Kisten mit Obst und Gemüse, mit Brot, Kuchen, Blumen und Stofftieren. Gabi und Ute haben ihre Einkaufstrollys und je zwei riesige Taschen voll bepackt. Die Seniorinnen setzen sich an der Eingangstür an einen Tisch, packen dort alles wieder aus und dann, in anderer Reihenfolge, wieder ein.
Ute: "Damit ich das irgendwie nach Hause transportieren kann."
Ute: "Damit ich das irgendwie nach Hause transportieren kann."
Gabi: "Zum Beispiel Obst und Gemüse wird dann matschig. Darum haben wir Behälter mit, um das zu verpacken, damit das Alles heile nach Hause kommt."
Ute ist 63 und ehemalige Altenpflegerin. Aufgrund der berufsbedingten körperlichen Belastungen ist sie frühverrentet. Gabi ist 75, war Verkäuferin bei Hertie und Karstadt. Nach ihrer Scheidung vor 40 Jahren zog sie ihre Kinder alleine groß. Beide Frauen leben von rund 400 Euro. Gabi rechnet vor:
"Also 695 Euro habe ich in etwa Rente, 195€ Grundsicherung kriege ich noch. Das sind 900 Euro. Darunter sind 489€ Miete. Von dem Rest muss ich dann Strom, Telefon, Versicherung. Bevor ich zur Tafel gegangen bin, habe ich mir wirklich überlegt, kaufst du dir jetzt ein Brot? Ich habe aber auch Appetit auf einen Apfel. Kann ich nicht. Dann gehe ich lieber und kaufe mir Brot, da werde ich von satt."
"Also 695 Euro habe ich in etwa Rente, 195€ Grundsicherung kriege ich noch. Das sind 900 Euro. Darunter sind 489€ Miete. Von dem Rest muss ich dann Strom, Telefon, Versicherung. Bevor ich zur Tafel gegangen bin, habe ich mir wirklich überlegt, kaufst du dir jetzt ein Brot? Ich habe aber auch Appetit auf einen Apfel. Kann ich nicht. Dann gehe ich lieber und kaufe mir Brot, da werde ich von satt."
Typisch weibliche Biografiemuster führen zur Altersarmut
Irene Götz, Professorin für Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München, kennt viele ähnliche Fälle. Gemeinsam mit fünf anderen Kulturwissenschaftlerinnen hat sie über drei Jahre hinweg 50 Frauen im Alter von 60 bis 85 Jahren zu ihren Erfahrungen befragt. Wie kommen Frauen im Alter mit wenig Geld zurecht? Welche Strategien entwickeln sie, um dennoch am sozialen und kulturellen Leben teilzuhaben? Denn von Altersarmut sind sogar Frauen aus gehobeneren sozialen Schichten betroffen - soweit sie nicht etwas geerbt oder nach einer Scheidung noch Geld übrig haben.
"Bei den Frauen aus dem Bürgertum dieser Generationen, die jetzt in Rente sind, sind eben mehrere typisch weibliche Biografiemuster zusammengekommen, die dann zur Altersarmut führen. Zunächst mal sind es Frauen, die noch vor der 68er-Bewegung Kinder waren. In dieser Generation - Nachkriegskinder - hat man bildungsmäßig wenig investiert. Das waren Ausbildungen, die maximal bis zur Ehe reichen sollten - und dann war man scheinbar versorgt."
Gründe: schlecht bezahlte Frauenberufe, Teilzeitarbeit, Kindererziehung, Hauspflege von Angehörigen
Mit Methoden der qualitativen Sozialforschung machen die Wissenschaftlerinnen unterschiedliche Typen von Frauen sichtbar, die von Altersarmut betroffen sind. Ihre Erkenntnisse sind, strukturiert und gut lesbar, in einem soeben erschienen 280 Seiten starken Buch zusammengefasst. Sein Titel: "Kein Ruhestand. Wie Frauen mit Altersarmut umgehen".
Im ersten Teil wird auf Basis der geführten biografischen Interviews das vielschichtige Problem der Altersarmut skizziert. Im zweiten Teil kommen die Frauen selbst zu Wort. Im dritten Teil werden Hilfeeinrichtungen vorgestellt, bei denen die Frauen sich Unterstützung holen können. Armutsfallen gibt es zu Hauf: schlecht bezahlte Frauenberufe, Teilzeitarbeit, Kindererziehung, Hauspflege von Angehörigen.
Lebensleistung sollte mehr berücksichtigt werden
"Der überwiegende Anteil der älteren Menschen wird jetzt zu Hause gepflegt - von den Töchtern und Schwiegertöchtern. Das wird auch propagiert, weil es ist die billigste Art und Weise der Pflege."
Die Historikerin und Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz bei der Fachveranstaltung "Frauen - selbstbestimmt und organisiert gegen Altersarmut" am vergangenen Montag in Berlin-Kreuzberg. Rund 100 Frauen und einige wenige Männer waren in das Nachbarschaftshaus Urbanstraße gekommen. Rita Klages vom Verein Südost Europa Kultur forderte:
"Lebensleistung sollte mehr Berücksichtigung finden. Das heißt also, es geht nicht, dass wir immer nur männliche Biografien als Maßstab in den Mittelpunkt stellen. Also auch weibliche Biografien mit Brüchen - die auch möglich sein müssen - müssten auch mit zu einem Maßstab angelegt werden.
Die Historikerin und Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz bei der Fachveranstaltung "Frauen - selbstbestimmt und organisiert gegen Altersarmut" am vergangenen Montag in Berlin-Kreuzberg. Rund 100 Frauen und einige wenige Männer waren in das Nachbarschaftshaus Urbanstraße gekommen. Rita Klages vom Verein Südost Europa Kultur forderte:
"Lebensleistung sollte mehr Berücksichtigung finden. Das heißt also, es geht nicht, dass wir immer nur männliche Biografien als Maßstab in den Mittelpunkt stellen. Also auch weibliche Biografien mit Brüchen - die auch möglich sein müssen - müssten auch mit zu einem Maßstab angelegt werden.
Soziale Unterschiede, generationstypische Ähnlichkeiten
Soziales Kapital in Form von Netzwerken und kulturelles Kapital in Form von Bildung und Wissen sind wesentliche Faktoren dafür, wie selbständig und sozial eingebunden Frauen im Alter sind.
Irene Götz: "Das war ein wichtiges Ergebnis, dass sich auch im Alter ganz besonders die sozialen Unterschiede noch mal zeigen, sogar verstärken. Das hat damit zu tun das auch, wenn die bürgerlichen Frauen altersarm sind, dass sie das besser kompensieren können, etwa wenn man eine Familie hat, die einem mal Geschenke machen kann. Das ist nicht so, dass die Frauen aus den Arbeitermilieus das nicht haben. Aber da sind häufig die Nachbarn und die Verwandten, die Familie eben auch bedürftig oder bedürftiger und haben nicht diesen Spielraum."
Die Wissenschaftlerinnen fanden jedoch auch generationstypische Ähnlichkeiten: Alle diese Rentnerinnen sind Nachkriegskinder. Schon als Mädchen haben sie gelernt, bescheiden zu sein, sich zurückzunehmen und um die Familie zu kümmern, keine großen Ansprüche zu stellen und nicht zu jammern.
Die Wissenschaftlerinnen fanden jedoch auch generationstypische Ähnlichkeiten: Alle diese Rentnerinnen sind Nachkriegskinder. Schon als Mädchen haben sie gelernt, bescheiden zu sein, sich zurückzunehmen und um die Familie zu kümmern, keine großen Ansprüche zu stellen und nicht zu jammern.
"Das andere ist, dass sie auch Techniken in der Nachkriegszeit alle gelernt haben, die ihnen jetzt zugutekommen. Sie sind hauswirtschaftlich fit, sie können vorkochen, sie können mit wenig Mitteln kochen. Und dieses Sparen können, Kleidung schonen, auch flicken."
"Ich friere halt ein. Oder eine Freundin die hat mir jetzt auch wieder Blumenkohl und Rosenkohl oder alles so was. Man richtet sich halt ein, so gut es geht. Hose für zwei Euro," sagt Helene. Sie ist die Dritte im Bunde der Seniorinnen bei der Berliner Tafel.
Ute: "Ich habe seit Oktober kein Fernsehen mehr, weil ich mir das Zusatzgerät nicht leisten kann."
"Ich friere halt ein. Oder eine Freundin die hat mir jetzt auch wieder Blumenkohl und Rosenkohl oder alles so was. Man richtet sich halt ein, so gut es geht. Hose für zwei Euro," sagt Helene. Sie ist die Dritte im Bunde der Seniorinnen bei der Berliner Tafel.
Ute: "Ich habe seit Oktober kein Fernsehen mehr, weil ich mir das Zusatzgerät nicht leisten kann."
Gabi: "Um die Nachrichten zu verfolgen, braucht man einen Fernseher."
Helene: "Menschliche Stimmen muss sein."
Gabi: "Sonst ist man noch einsamer. Man kann nicht jetzt mal irgendwo eine Currywurst essen. Ich gehe also auch nicht in irgendein Café. Ich gehe nirgends wohin. Also man kann an dem sozialen Leben nicht mehr teilnehmen. Das ist das Schlimme."
Strukturelle Defizite beseitigen, eigenes Verhalten ändern
Die Ursachen dafür, dass die Frauen in Altersarmut geraten, sieht Irene Götz in strukturellen Defiziten: in der Deregulierung des Arbeitsmarktes, dem Aufweichen von Tarifbindungen - und dem kontinuierlichen Absenken des Rentenniveaus durch die Politik. Nach Ansicht der Kulturwissenschaftlerin muss daher die staatliche Rente konsolidiert werden. Zum Beispiel dadurch, dass auch Beamte, die als Staatsdiener bislang ein eigenes Pensionssystem haben, mit in die Rentenkasse einbezahlen.
"Es muss aber auch so auf einer persönlichen Ebene ein Wandel des Bewusstseins stattfinden. Es würde dann eben auch heißen, dass man mit seinem Partner ein Arrangements trifft: "Wenn ich Zuhause bleibe eine Weile für die Kindererziehung, dann müsstest du mir dafür einen Ausgleich in eine private Rentenversicherung zahlen." Oder es arbeiten eben beide 35 Stunden und kümmern sich beide um Erziehung und Erwerbstätigkeit gleichgewichtig."
"Es muss aber auch so auf einer persönlichen Ebene ein Wandel des Bewusstseins stattfinden. Es würde dann eben auch heißen, dass man mit seinem Partner ein Arrangements trifft: "Wenn ich Zuhause bleibe eine Weile für die Kindererziehung, dann müsstest du mir dafür einen Ausgleich in eine private Rentenversicherung zahlen." Oder es arbeiten eben beide 35 Stunden und kümmern sich beide um Erziehung und Erwerbstätigkeit gleichgewichtig."
Bei der Fachveranstaltung im Nachbarschaftshaus Urbanstraße in Berlin appelliert eine Frau aus dem Publikum auch für ein Umdenken bei den Seniorinnen und Senioren. Sie verweist auf die Aktion "Fridays for Future". Dabei streiken Schüler freitags für den Klimaschutz.
Frau aus dem Publikum: "Wenn ich als Oma jetzt so einen Aufruf starte und sage: 'Wir Alten, wir haben einfach das Bedürfnis auf ein anständiges Leben!' Wie viele werden mir folgen? Warum schaffen wir Alten es nicht, so eine Aktion wie die Kinder zu bringen? Dass wir einfach unser tiefstes inneres Bedürfnis in die Öffentlichkeit bringen. Dass sie richtig aufwachen."
Frau aus dem Publikum: "Wenn ich als Oma jetzt so einen Aufruf starte und sage: 'Wir Alten, wir haben einfach das Bedürfnis auf ein anständiges Leben!' Wie viele werden mir folgen? Warum schaffen wir Alten es nicht, so eine Aktion wie die Kinder zu bringen? Dass wir einfach unser tiefstes inneres Bedürfnis in die Öffentlichkeit bringen. Dass sie richtig aufwachen."
Hoffnung auf Babyboomer-Generation
Veit Hannemann vom Projekt "Altwerden im Chamissokiez -– aktiv gestalten" bringt es zum Schluss der Veranstaltung auf den Punkt:
"Ich spitze es jetzt mal ein bisschen zu: Dass Politik Rahmenbedingungen für eine gute Selbstorganisation schaffen können muss - damit Menschen selber ihre Fähigkeiten einbringen, um Probleme zu lösen. Anstatt sie wahrzunehmen als Bittsteller für eine bessere soziale Absicherung."
Womöglich wird sich an der Misere erst etwas ändern, wenn in den nächsten Jahren die geburtenstarke Generation der Babyboomer in Rente geht. Meint Kulturwissenschaftlerin Irene Götz:
"Diese Generation ist ja in die Wohlstandsgesellschaft hinein sozialisiert in den 1960er Jahren etwa und haben diese Formen der Bescheidenheit vielleicht nicht mehr so unmittelbar erlernt. Man kann natürlich dann hoffen, dass sie sich auch mehr wehren. Dass politisch mehr passiert."
Die drei Seniorinnen bei der Berliner Tafel haben schon vor langem die Hoffnung aufgegeben, dass die Politik für sie etwas zum Bessern wenden wird.
Bepackt mit je drei Taschen voller Lebensmittel machen Gabi, Ute und Helene sich auf den Nachhauseweg.
Helene: "Mädels, bis zum nächsten Mal!"
"Diese Generation ist ja in die Wohlstandsgesellschaft hinein sozialisiert in den 1960er Jahren etwa und haben diese Formen der Bescheidenheit vielleicht nicht mehr so unmittelbar erlernt. Man kann natürlich dann hoffen, dass sie sich auch mehr wehren. Dass politisch mehr passiert."
Die drei Seniorinnen bei der Berliner Tafel haben schon vor langem die Hoffnung aufgegeben, dass die Politik für sie etwas zum Bessern wenden wird.
Bepackt mit je drei Taschen voller Lebensmittel machen Gabi, Ute und Helene sich auf den Nachhauseweg.
Helene: "Mädels, bis zum nächsten Mal!"
Gabi: "Komm gut nach Hause!"
Helene: "Ihr auch!"
Buchtipp:
Irene Götz (Hrsg.): Kein Ruhestand. Wie Frauen mit Altersarmut umgehen, Kunstmann, 320 Seiten, 20 EUR