Dienstag, 30. April 2024

Archiv


Sechs in einem

Wer eine Flasche Wein kauft und gleich einen ganzen Karton bekommt, freut sich, ein Schnäppchen gemacht zu haben. Wem das aber mit einem Roman widerfährt, der wird zuerst irritiert reagieren: Warum sechs Bücher in einem, vor allem, wenn man sie nicht einmal ordentlich nacheinander lesen kann? Denn David Mitchell treibt ein seltsames Spiel mit dem Leser. Er zieht ihn in die erste Geschichte hinein, lässt sie mittendrin abbrechen; macht dasselbe mit der zweiten, dritten Geschichte, immer im spannendsten Moment; nur die sechste findet ein befriedigendes Ende, worauf das Ganze rückwärts geht: Story Nummer fünf erhält ihren Abschluss, dann Nummer vier und so weiter, bis wir wieder am Anfang sind.

Von Martin Ebel | 14.01.2007
    Zwei Fragen drängen sich hier auf: Was soll das? und: Funktioniert das?

    Die zweite lässt sich schnell mit einem überzeugten Ja beantworten. Ja, es funktioniert hervorragend. Für die erste muss man weiter ausholen und ein bisschen erzählen, worum es überhaupt geht.

    Um das Jahr 1840 führt Adam Ewing, ein amerikanischer Notar, der in der Südsee Geschäften nachgeht, Tagebuch. Er erfährt, wie ein friedlicher Polynesierstamm ausgerottet wurde, beobachtet die handfesten Missionierungs- und Kolonisierungsverfahren der Weißen und entgeht selbst auf der Rückreise nur knapp einem heimtückischen Giftanschlag. Dieses Tagebuch bekommt um 1930 Robert Frobisher in die Hände, der in Belgien weilt, als Assistent eines weltberühmten blinden Komponisten, dessen Eingebungen er notieren und ausarbeiten soll. Wie das vor sich geht, schreibt Frobisher in einem Brief an seinen Freund Sixsmith - das Kompositions-Diktat hört sich an wie absurdes Theater:

    " Ich sitze am Klavier und versuche mit einem Schwall von Noten mitzuhalten wie "Sechzehntel, b-g; ganze Note, as - vier Zählzeiten halten, nein, sechs - Viertel! F - nein, nein, nein, nein, nicht fis, f - und .... b! Ta-tatta-tatta-taaa!" "

    Frobisher selbst arbeitet an einem eigenen Werk: dem "Wolkenatlas-Sextett für sich überschneidende Solostimmen":

    " Klavier, Klarinette, Cello, Flöte, Oboe, Violine, jedes Instrument mit einer ganz eigenen Sprache aus Tonart, Melodik und Klangfarbe. Im 1. Satz wird jedes Solo vom nachfolgenden unterbrochen; im 2. setzen sich die unterbrochenen Soli in umgekehrter Reihenfolge fort. "

    Roberts Briefpartner, sein Freund und Liebhaber Rufus Sixsmith, ist vierzig Jahre später als Physiker für die Zulassung eines neuartigen amerikanischen Atomkraftwerks zuständig (wir sind in Story Nr. 3) und spielt der jungen Journalistin Luisa Rey Informationen über Sicherheitsmängel zu, Informationen, die die Betreiber des Kraftwerks und die Vorstände des darüber verfügenden Energiemultis geheim halten wollen - mit allen Mitteln. Sixsmith wird ermordet, Luisa Rey nur beinahe, aber das ein Dutzend Mal. Ihre haarsträubenden Abenteuer gelangen als Romanmanuskript auf den Tisch des Schundverlegers Timothy Cavendish, der seinerseits von Gläubigern verfolgt und von seinem Bruder in einem Altersheim versteckt wird, das sich als Seniorengefängnis entpuppt.

    Dieser Teil spielt etwa in unserer Zeit. Mit der fünften Geschichte springen wir in die Zukunft und wohnen dem "Verhör" eines weiblichen "Duplikanten" (also eines Klons) namens Sonmi teil. Dieser Klon hat unter dem Einfluss von Drogen zu denken begonnen; sie entzieht sich ihrer Bestimmung und lässt sich zur Vorkämpferin eines Aufstandes gegen die herrschende "Konzernokratie" machen. Im sechsten Teil ist von unserer Welt nach Atomschlägen und anderen Verheerungen nicht mehr viel übrig geblieben; auf Hawaii leben noch zwei Stämme unter primitiven Umständen von Viehzucht und Ackerbau - und von Krieg: am Ende wird der Stamm des Erzählers von den Rivalen, den aggressiven "Kona" überfallen und alles, was nicht schon tot ist, versklavt.

    David Mitchell entwickelt seine sechs Geschichten kunstvoll auseinander heraus. Alle zusammen bilden sie einen Spannungsbogen, der den Weg der Zivilisation nachzeichnet - vom mythisch-paradiesischem Urzustand bis zum apokalyptischen Ende. Jeder Roman für sich vibriert geradezu vor Spannung, die auch dadurch nicht gedämpft wird, dass es sich um Genre-Literatur handelt, was Mitchell nicht verschleiert, sondern mit Lust imitiert und parodiert: Der seefahrende Notar erinnert an Herman Melville, der Atom-Polit-Thriller in Teil drei spielt gekonnt mit den Elementen der verschwörungsseligen B-Literatur, der Science-Fiction-Strang denkt Huxley und Orwell weiter, indem etwa die Sprache der Unterschichten künstlich reduziert und die Vergangenheit manipuliert wird. Mitchell kombiniert dieses Erbe mit der Öko-Apokalypse, die literarisch eine Zeitlang sehr à la mode war, und einem Schuss neomarxistischer Ideologie:

    Nea So Copros, so heißt in der Zukunft des fünften Teils das einstige Korea:

    " Nea So Copros vergiftet sich schleichend zu Tode. Die Böden sind verseucht, die Flüsse umgekippt, die Luft ist mit Schadstoffen verpestet, das Getreide durch Gendefekte verdorben. Die Subschicht ist ihrem Elend schutzlos ausgeliefert, weil sie sich die nötigen Medikamente nicht leisten kann. Die Melanom- und Malariagürtel breiten sich jedes Jahr um vierzig Kilometer nach Norden aus. Die Produktionszonen Afrika und Indonesien, die den Bedarf in den Kosumentenzonen abdecken, sind zu sechzig Prozent unbewohnbar. Der Reichtum, die Legitimation der Plutokratie, versiegt. Ansonsten bedient sie sich derselben Strategien wie alle bankrotten Ideologien:

    Verleugnung. Die Subschicht-Reinblüter landen in der Untermenschenkloake, die Xecs beten den Siebten Katechismus nach: Eine Seele ist so viel wert wie ihre Dollars. "

    Schon eine tolle Mixtur, die David Mitchell da zusammenbraut! Diese Pastiche-Technik ist nun weder Zeichen epigonaler Ermattung eines noch jungen Autors (Mitchell ist Jahrgang 1969) noch postmoderner Beliebigkeit, sondern literarisch konsequent. Mitchell war schon immer einer, der aufs Ganze geht. Auch in seinen beiden vorangehenden Romanen hat er sich nicht mit einem Schauplatz, einer Handlung, einer begrenzten Personengruppe begnügt. Die ganze Welt musste es sein, mindestens. So auch hier: "Der Wolkenatlas" blättert Kontinente auf, aber auch Jahrhunderte. Und formal legt Mitchell die Latte so hoch, dass andere Romanciers schon vom Hinschauen schwindlig würden - und er springt auch noch darüber!

    Jeder Roman hat seinen eigenen Erzähler. Einige sind herzlich unsympathische Charaktere, aber verdammt gut erzählen können sie alle. Auch der avancierte Leser, der gerade dabei ist, Stilimitate zu bewundern und nach Motivzusammenhängen zu suchen, ertappt sich immer wieder dabei, wie hastig er die Seiten umblättert, um zu erfahren, wie es weitergeht. Das oberste Gesetz der zeitgenössischen Erfolgsliteratur, "Du sollst nicht langweilen", wird hier erfüllt, ja übererfüllt.

    David Mitchell hat jedem Teilroman nicht nur seinen eigenen Erzähler gegeben, er wechselt auch jedes Mal die Gattung (Tagebuch, Autobiographie, Brief, Verhör, mündliche Erzählung). Und jeder Teil hat seinen eigenen Ton - was der Übersetzer ganz vorzüglich im Deutschen nachgebildet hat - jeder seine eigene Stimme - oder, wenn man so will, sein eigenes Instrument. Hören wir nur kurz in den Sound des vierten Erzählers hinein, Schundverleger Cavendish, gespreizt und salopp, ich-bezogen und unerträglich geschwätzig:

    " Der alte Vater Timothy gibt seinen jüngeren Lesern folgenden Rat, der im Preis dieser Lebenserinnerungen inbegriffen ist: Führt euer Leben so, dass ihr, wenn der Zug im Herbst eures Lebens auf der Strecke liegen bleibt, ein warmes, trockenes Auto habt und einen gliebten Menschen - es kann auch ein bezahlter sein, das ist egal -, der euch nach Hause fährt. "

    Jede Stimme folgt ihrer eigenen Melodie - wie es die Instrumente in Frobishers "Wolkenatlas-Sextett" tun. Dieses Sextett übrigens hat die Journalistin Linda Rey im Ohr, noch bevor sie es zum ersten Mal hört, und umgekehrt träumt der Lehrer des Komponisten, bevor er eine Eingebung diktiert, von einem Restaurant mit identisch aussehenden Kellnerinnen - es ist jene Alptraumlandschaft, aus der sich die Duplikantin Sonmi später zu befreien versucht.

    Mit solch subtilen Klammern - eine andere ist ein geheimnisvolles Muttermal in Kometenform, das alle Helden tragen - erweist sich David Mitchell als ausgepichter epischer Architekt; mit den Cliffhanger-Effekten und den liebevoll ausgespielten Täuschungsmanövern, die den Leser an jeder Ecke erwarten, als ein Spannungskünstler von hohen Graden. Immer wieder wird man genauso gefoppt wie die Figuren, und weil man eben nicht wie diese von einer Brücke ins Meer stürzt, von "Vollstreckern" der Zukunft oder ordinären Killern gejagt wird, stellt sich auch das angenehme Lehnstuhlgruseln zuverlässig ein.

    All das wäre nun blosse, wenn auch rühmenswerte Virtuosität. Aber die Konstruktion ist kein Selbstzweck. "Der Wolkenatlas" schreibt, wie angedeutet, Zivilisationsgeschichte - und Zivilisationskritik. Henry Goose, der zwielichtige, zynische Arzt, dessen Opfer der erste Erzähler Ewing beinahe wird, bringt diese Geschichte auf einen einzigen Lehrsatz:

    "Die Schwachen sind der Braten, an dem die Starken gut gerathen."

    Ewing selbst kann in Polynesien die Gültigkeit des sozialdarwinistischen Prinzips beobachten. Auf den Chatham-Inseln werden die Moriori, die jahrhundertelang untereinander in Frieden lebten, in kürzester Zeit von einem aggressiven Maori-Stamm ausgerottet. Auf Raiatea studiert er das subtilere Vorgehen der Weissen: Dort manipulieren Missionare erst die Seelen der Eingeborenen und machen sie dann wirtschaftlich abhängig - sie müssen auf den Plantagen arbeiten, um in den Genuss geistlicher Unterweisung zu kommen. In einer "Raucherschule" (eine geniale Erfindung Mitchells, wenn es denn eine ist) macht man die Polynesier überdies süchtig nach Tabak. Warum? Diese selbstgenügsamen Menschen müssen in den Wirtschaftskreislauf eingegliedert werden; man muss in ihnen Bedürfnisse erwecken, damit sie Geld brauchen und dafür arbeiten müssen.

    Aus diesen Ansätzen erwächst im fünften, dem Science-Fiction-Teil, eine Welt, in der alles dem Konsumgedanken untergeordnet ist. Gelenkt von einer "Konzernokratie", ist jeder "Reinblüter" durch "Bereicherungsgesetze" verpflichtet, regelmäßig eine bestimmte Menge Dollars auszugeben. Aus dem naiven Rassismus des 19. Jahrhundert ist eine genetisch gesteuerte Klassengesellschaft geworden: Dienstleistungen werden von "Duplikanten" erledigt, die in riesigen Brutkästen ihrer jeweiligen Bestimmung entgegen wachsen und deren Lebenslauf durch chemische Drogen gesteuert wird. Dass eine Welt, die alles dem Konsum unterordnet, sich selbst zugrunde richtet, zeigt Mitchell auch: Weite Landstriche sind in diesem Romanteil bereits unfruchtbar, verseucht oder heruntergekommen zu gigantischen Slums. Im letzten Teil, gewissermaßen dem posthistorischen, ist die Selbstzerstörung vollendet, die Menschheit reduziert auf ein paar Tausend Exemplare, die verstreut auf pazifischen Inseln leben und von der Zivilisation gerade mal behalten haben, wie man Feuer macht, und noch einen vagen Abglanz von Religion.

    Einer dieser Überlebenden, der Ziegenhirt Zachry, bekommt Besuch von Meronym, einer Forschungsreisenden von einer Insel, auf der die "Prescients" leben, unter denen sich noch etwas mehr zivilisatorisches Wissen erhalten hat, dazu Erinnerung und Selbstreflexion. Diese Meronym erklärt dem "Wilden" in seiner eigenen schlichten Sprache, warum die Menschheit sich selbst zerstört hat. Es war gerade der Erfindergeist des Menschen, sein Ehrgeiz, Probleme zu lösen und zu neuen Ufern aufzubrechen, seine Neugier, sein Hunger und seine Unersättlichkeit, die zugleich für den Aufstieg wie für den Untergang verantwortlich sind.

    "Aber die Alten hatten ihr Clever."

    Womit Zachry die technische Intelligenz der untergegangenen Menschheit meint.

    " Ich erinner mich genau an ihre Antwort. "Ja, das Clever von den Alten bezwang Krankheiten, Enfernungs, schlechte Samen un machte Wunder normal, aber eins konnts nich bezwingen, n Hunger in den Menschen ihrn Herzen, ja, den Hunger nach mehr."

    "Mehr was?" wollt ich wissen. "Die Alten hatten doch alles."

    "Ach, mehr Zeug, mehr Essen, schneller sein, n längres Leben, n leichtres Leben, mehr Macht. Die ganze Welt is gross, ja, aber sie war nicht gross genug für den Hunger mit dem die Alten den Himmel aufrissen un die Meere überlaufen liessen, die Erde mit irren Atoms vergifteten un mit faulen Samen rummurksten wo neue Seuchen un missgeborne Babbas brachten. Irgnwann, erst langsam dann zackzack, zerfieln die Länder in babarische Stämme un die zivlesierten Tage warn vorbei, nur in n paar versteckten Winkeln glimmert noch die letzte Glut." "

    Dialektik des Fortschritts, der erst in die Höhe und dann in den Untergang führt: Das ist die trostlose Seite dieses Romans, in dem auch die Literatur auf die allerersten Anfänge zurückfällt: Zachry erzählt, was er erlebt hat, als alter Mann am Lagerfeuer, und es gibt nicht mehr viele, die ihm noch zuhören können. Aber, das ist das Schöne an der Dialektik, alles kann auch ins Gegenteil umschlagen. Und dieses Gegenteil heißt Hoffnung. Sie ist in keinem der Binnen-Romane abwesend, auch wenn sie zuweilen auf Tropfengröße schrumpft. Sonmi, der aufrührerische Klon, wird hingerichtet, aber ihr Beispiel wird andere inspirieren. Der Komponist Frobisher erschießt sich, aber sein Werk wird bleiben und noch Jahrzehnte später die Menschen verzaubern, die es hören. Der Schundverleger schlägt den Aufsehern seines Zwangsaltersheims ein Schnippchen, und die Journalistin zwingt den Energieriesen in die Knie (natürlich nur in der Öko-Polit-Thriller-Kolportagewelt, die dieser Teil persifliert). Dem Ziegenhirten gelingt es, den mörderischen Kona zu entfliehen, auf eine andere, friedlichere Insel des hawaiianischen Archipels. Meronym, seine geistige Führerin, hat ihm die Schrumpfform einer Zivilisationstheorie mitgegeben, in der man Sigmund Freuds Lehre vom Triebaufschub, der Kultur gebiert, erkennen kann.

    "Der Wilde stillt sein Verlang. Wenn er hungrich is, isst er.

    Wenn er Wut hat, hakelt er. Wenn er spitz is, knallt er ne Frau. Sein Wille is sein Herr; und wenn sein Wille bestimmt ‚Töte', dann tötet er.

    Wi n Raubtier. Der Zivlesierte hats selbe Verlang, aber er kuckt weiter.

    Die Hälfte von seim Essen isst er gleich, ja, aber die andre flanzt er ein damit er morgen keinn Hunger kriegt. Wenn er Wut hat, bleibt er stehn und denkt nach warum, damit er beim näksten Mal keine Wut mehr kriegt. Wenn er spitz is, na ja, er hat Schwestern un Töchter wo geachtet werden müssen, drum tut er auch die Schwestern un Töchter von seinn Brüdern achten."

    "Dann is wild sein doch besser als wie zivlesiert sein?" fragte ich wieder.

    "Hör mir zu, Zachry. Wilde un Zivlesierte werden nich von Stämmen oder Glauben oder Gebirgszügen getrennt, nee, jeder Mensch is beides. Manche Wilde wo ich kenn ham n schönes zivlesiertes Herz unter ihrn Rippen schlagen. Vielleicht auch n paar Kona. Nich genuch fürs Bestimm über ihrn ganzen Stamm, aber wer weiss was eines Tags sein wird."

    'Eines Tags' war für uns ne Hoffnung so winzich wi n Floh.

    "Ja", erinner ich Meronym sagen, "aber Flöhe wirst du nich so leicht los."

    Auch Adam Ewing, der Südseereisende, erster und letzter Held dieses monumentalen Romans, überlebt ja Verrat und Giftanschlag seines Reisegefährten. Und Ewing weigert sich, dem zynischen Henry Goose den geistigen Sieg zuzugestehen.

    " Die Schwachen sind der Braten, an dem die Starken gut gerathen. "

    Dieser Satz, meint Ewing, gilt nur, wenn wir ihn für gültig halten. Wenn wir an ihn glauben, handeln wir so, dass er wahr wird. Wir können aber auch anderes glauben und wahr machen.

    " Der Glaube ist sowohl der Lohn als auch das Schlachtfeld innerhalb des Geistes und in des Geistes Spiegelbild: der Welt. Wenn wir glauben, dass die Menschheit eine Arena für Auseinandersetzungen, Ausbeuthung und bestialische Grausamkeit ist, dann wird eine solche Menschheit auch erschaffen, und die Horrox, Boerhaaves und Gooses der Geschichte werden die Oberhand gewinnen. Wenn wir aber glauben, dass die Menschheit sich über Klauen und Zähne erheben kann, wenn wir wirklich glauben, dass unterschiedliche Rassen und Glaubensbekenntnisse diese Welt so friedlich miteinander theilen können wie die Waisenkinder ihren Kerzenölbaum, wenn wir wirklich glauben, dass Führer gerecht sein müssen, Gewalt geächtet gehört, Macht verantwortet werden muss und die Reichthümer der Erde und ihrer Oceane gerecht vertheilt werden sollen, dann wird eine solche Welt auch zustande kommen. Ich mache mir nichts vor. Keine Welt wäre schwieriger zu verwirklichen. Mühsam über Generationen hin erlangte Fortschritte können durch den Federstrich eines kurzsichtigen Präsidenten oder das Schwert eines ruhmsüchtigen Generals verlorengehen. "

    Das ist eine große idealistische Anstrengung, die eigentlich durch all das, was wir auf den vorangehenden 650 Seiten gelesen haben, Lügen gestraft wird. Und doch gibt David Mitchell das letzte Wort nicht dem Zyniker, der immer Recht behält, sondern dem Idealisten, der Recht behalten sollte. Wer jetzt mit seinem Helden Ewing auch den Autor Mitchell der Naivität zeihen will, dem sei zweierlei entgegnet: Wer, wenn nicht die Literatur, muss dem schlechten Seienden das bessere Mögliche entgegenhalten? Und zweitens: Wenn eine Überwindung der selbstzerstörerischen Tendenzen des Menschen unwahrscheinlich erscheinen mag - die Entstehung der Erde aus dem Weltall, des Lebens auf der Erde, des menschlichen Bewusstseins aus diese Leben: Das alles ist noch viel, viel unwahrscheinlicher. Und doch ist es geschehen.