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Seelische Folgen von Corona
"Für viele war die Pandemie ein existentieller Weckruf"

Die US-amerikanische Psychologin Ramani Durvasula berichtet seit Beginn der Pandemie darüber, wie Corona das Leben verändert. In der derzeitigen Phase sieht sie widersprüchliche Tendenzen: Einerseits gebe es "post-pandemische Ängste", andererseits sieht sie eine Renaissance menschlicher Kreativität.

Von Andreas Robertz | 28.07.2021
Zahlreiche Menschen bevölkern am Nachmittag die Fußgängerzone auf der Zeil in der Innenstadt. Frankfurt weist mit einer 7-Tage-Inzidenz von über 20 bei den größten deutschen Städten die meisten Infektionen auf. (Foto vom 10.7.2021)
Eine zu schnelle Rückkehr in die Normalität berge das Risiko psychischer Überforderung, warnt eine US-Psychologin (Picture Alliance / dpa / Frank Rumpenhorst)
Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Doch US-Psychologin Ramani Durvasula hat schon ein Phänomen ausgemacht, das sie post-pandemische Ängste nennt. Sie warnt davor, diese zu unterschätzen: Das ständige Hin und Her mit der Maskenpflicht, die tägliche Frustration über das Verhalten von Mitmenschen, die Angst vor der Delta Variante - all das stellt jeden unter erhöhten psychischen Stress.
"Es ist fast so wie am Anfang der Pandemie. Keiner weiß genau, was passiert. Die Leute haben jetzt einen Masken-Burn-Out und im Sommer ist es ohne Maske sowieso viel angenehmer. Und trotzdem fragt man sich: Begebe ich mich in Gefahr? Setze ich andere einer Gefahr aus? Das erzeugt jede Menge Spannungen. Die Tragen der Maske wird zu einer Art Tugend und einige werden richtig wütend, wenn sie andere mit Maske sehen, als ob es Scham hervorriefe."

"Zu schnelles Auftauchen ist gefährlich"

Wenn dann plötzlich andere Leute wieder in Restaurants und auf Partys gehen, entsteht bei vorsichtigen Menschen zusätzlich eine fast verzweifelte Rastlosigkeit, aus Angst etwas zu verpassen. Im Englischen wird dies FOMO genannt - the fear of missing out.
"Einige scheinen anderthalb Lebensjahre in ein, zwei Monate packen zu wollen."
Warum die Coronakrise ermüdet
Jeder Schritt wird in Zeiten der Pandemie zu einem großen Thema. Vor allem ist jeder Schritt moralisch aufgeladen. Wir fragen uns ständig: Ist das verantwortlich oder nicht? Das ermüdet uns, sagt eine US-Psychologin.
Wie gefährlich dieser zusätzliche Stress ist, erklärt Ramani Durvasula am Beispiel des Sporttauchens. Vor dem Auftauchen verbringt man drei, vier Minuten an der Fünf-Meter Marke, um dem Organismus Zeit zu geben, sich an die veränderten Druckverhältnisse anzupassen und keine Taucherkrankheit zu bekommen, die schwerwiegende Folgen haben kann.
"Zu schnelles Auftauchen ist gefährlich. Das gilt auch für die Pandemie, wenn wir zu schnell wieder ins normale Leben zurückwollen. Das geht auf die mentale Gesundheit. Wir versuchen, zu viel zu tun und die verlorene Zeit wieder gutzumachen. Wir fühlen uns ohne Maske unsicher, weil wir sie anderthalb Jahre getragen haben. Ich rate allen: Tun Sie das, was sich richtig anfühlt."

"Frauen hat es härter getroffen"

Die Ängste und Verluste, die während der Pandemie erlebt wurden, müssen erst mal verarbeitet werden, sagt sie: Einige haben wichtige Menschen in ihrem Leben verloren, viele ihre Arbeit, Jobs mussten wegen der Kinder zu Hause aufgegeben werden. Einige haben ihr gesamtes Berufsfeld gewechselt. Ausbildungen wurden unterbrochen. Es sei wichtig anzuerkennen, dass diese Zeiten schwierig sind und noch länger bleiben werden.
"Ich glaube, die Unsicherheit nach der Pandemie wird genauso destabilisierend wie am Anfang."
Dr. Ramani Durvasula ist Professorin für Psychologie an der Universität von Kalifornien und praktizierende Psychotherapeutin
Dr. Ramani Durvasula ist Professorin für Psychologie an der Universität von Kalifornien und praktizierende Psychotherapeutin (privat)
Da hilft es nicht, wenn Politiker davon reden, dass alle so schnell wie möglich wieder zurück in die Schule oder an den Arbeitsplatz müssen, als wären die letzten 20 Monate Ferienzeit gewesen. Unlängst sagte New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio, im Herbst müssten die Schüler endlich wieder lernen gehen. Seine Bemerkung löste Empörung bei Schülerinnen und Schülern sowie bei ihren Eltern aus.
"Viele haben härter arbeiten müssen, weil sie alles kombinieren mussten: von zu Hause aus arbeiten, Kinder beaufsichtigen, die Familie zusammenhalten, Essen für alle kochen - besonders Frauen hat es oft härter als alle anderen getroffen. Zu sagen, dass jetzt alle wieder arbeiten sollen, ist nicht nur respektlos, sondern trägt zur postpandemischen Belastung bei, nämlich dazu, dass man sich abgewertet, unterbewertet, nicht gesehen, nicht gehört fühlt."

"Wir werden eine Renaissance erleben"

Doch Ramani Durvasula sieht auch enormes Potenzial darin, dass so viele Menschen während der Pandemie zu ihren Wurzeln und ursprünglichen Lebensentwürfen zurückgekehrt sind. Für sie sind Gefühle von Spaß haben, kreativ sein und sein eigener Boss sein wichtiger geworden als der 08/15-Job, den sie vorher hatten. Sie ist überzeugt, diese Rückbesinnung auf persönliche Werte könnte ein völlig neues Lebensgefühl erzeugen.
Theologe: "Abschottung ist eine tödliche Gefahr"
Der Theologe Reimer Gronemeyer beobachtet bei Älteren eine "Corona-Lähmung", von der gesundheitliche Gefahren ausgehen könnten. Ältere Geimpfte rief er auf, aus "dem Winterschlaf" zu erwachen.
"Für sehr viele war die Pandemie ein existentieller Weckruf. In den frühen Tagen hatte jeder Angst, ich kann mich anstecken und sterben. Ich kann das nur mit einer Kriegserfahrung vergleichen. Da fragt man sich: Will ich so weiterleben? Will ich für immer in dieses blöde Büro fahren, mit diesem blöden Boss zu tun haben und in diesem Schuhkarton sitzen? Und für ganz viele war die Antwort: Nein. Ich glaube, wir werden eine sehr interessante Renaissance erleben. Es wird eine große Zeit menschlicher Kreativität geben."