Nicht nur die Dauer der Kontroverse um Peter Handkes sogenannte Jugoslawien-Texte ist beispiellos, auch – seit nun etwa 30 Jahren - die Härte der Auseinandersetzung in der Rezeption. Das jüngste Beispiel dafür ist der Band „Peter Handkes Jugoslawienkomplex“. Der Anspruch der beiden Herausgeber Vahidin Preljević und Clemens Ruthner war es, „eine kritische Bestandsaufnahme nach dem Nobelpreis“ zu leisten, so der Untertitel des Buches. Mit „kritischer Bestandsaufnahme“ war nicht zuletzt eine Zusammenführung unterschiedlicher Positionen gemeint, um
„…eine faire, offene akademische Diskussion der bei Handke inkriminierten Sachverhalte bzw. ihrer literarischen Darstellung anzubieten – um zu vermeiden, dass wie bei der ersten Debatte getrennte Anthologien entstünden, wo wie in Kirchenbänken voneinander getrennt die Befürworter*innen und Kritiker*innen sich jeweils um ihr eigenes Fähnlein scharten.“
Eine gute Idee. Schließlich hatte die Handke-Kontroverse mit dem Nobelpreis 2019 noch einmal gewaltig an Fahrt aufgenommen – und zwar weltweit. Hinzu kommt: die Wortmeldungen zu Handkes politischer Positionierung im Verlauf der Jugoslawien-Kriege und seine Parteinahme für serbische Nationalisten und Kriegsverbrecher sowie zur damit verbundenen Frage des Verhältnisses von Politik und Poetik, sind mittlerweile unüberschaubar.
Aus der geplanten Gegenüberstellung von pro und contra Handke wurde jedoch nichts. Wie die Herausgeber in ihrem Vorwort mit leicht indigniertem Unterton anmerken, waren die Fliehkräfte wohl zu stark. Unter anderem habe sich - Zitat - der "Leiter eines großen Literaturhauses" sowie "ein anderer Handke-Apologet", gemeint sind ganz offensichtlich der Literaturwissenschaftler Klaus Kastberger und der Journalist und Autor Lothar Struck, "gedrückt" bzw. im letzten Augenblick ihren Beitrag zurückgezogen. Sehen wir einmal von diesen etwas unnötigen Seitenhieben ab, so kann sich diese Anthologie mit ihren wissenschaftlichen und essayistischen Beiträgen durchaus sehen lassen.
Seele und Sprache
Der Band teilt sich in drei Sektionen: "Generelle Bestandsaufnahme der Debatten", "Diverse Einzelaspekte" und "Literarische Texte und essayistische Beiträge von Schriftstellern und Schriftstellerinnen mit ex-jugoslawischem Hintergrund". Die Bestandsaufnahme nun gerade mit dem Philosophen Slavoj Žižek zu starten, ist allerdings nicht so glücklich. Bekanntlich poltert der Slowene gern. Handke hätte 2014 dafür plädiert, den Literatur-Nobelpreis abzuschaffen, da dieser eine falsche Kanonisierung von Literatur offenbare. Die Tatsache, dass genau er dann den Preis 2019 erhalten habe, gebe ihm nachträglich recht, so Žižek in seinem englischsprachigen Beitrag "Hat das Nobelpreis-Komitee einen Befürworter des Genozid ausgezeichnet?" Dieser als Frage formulierte Titel wird denn auch mit einem "ja" beantwortet, wenn der Philosoph schreibt, "unpolitische Grübeleien" – hier wohl gemeint im Sinne von unqualifizierten und interessegeleiteten Betrachtungen – über die "komplexe Natur von Seele und Sprache" seien der Stoff, aus dem ethnische Säuberungen entstünden.
Den Versuch einer "Bestandsaufnahme der Debatten" leistet in diesem Kapitel vor allen Dingen Svjetlan Lacko Vidulić, Germanist an der Universität Zagreb. In seinem lesenswerten Beitrag mit dem Titel "Jugoslawien von oben – 25 Jahre Handke-Kontroverse" stellt Vidulić die Frage, wie die "stark variierende Toleranzschwelle" gegenüber den doch so drastischen Tabubrüchen Handkes zu erklären sei und stellt sie in den Kontext der Bewusstseinsbildung nach 1945.
„Die Geschichtsbilder und Denkfiguren der Gesinnungsmilieus mit ihren ‚antifaschistischen‘, ‚antitotalitären‘ oder ‚antikommunistischen‘ Perspektiven konturieren offensichtlich auch die Antworten auf ethische oder ästhetische Fragen, aktivieren oder blockieren emotionale Resonanzen, heben oder senken Wahrnehmungspegel und Toleranzschwellen in der Begegnung auch mit Denkfehlern und Tabubrüchen der gröbsten Art.“
Eine weitere Erläuterung zu diesem interessanten Aspekt bleibt leider aus.
Volk und Reinheit
Es folgen Beiträge der Herausgeber Vahidin Preljević, er lehrt deutschsprachige Literatur an der Universität Sarajevo, Clemens Ruthner, Literatur- und Kulturwissenschaftler am Trinity College Dublin, wie u.a. der kroatisch-deutschen Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Alida Bremer. Sie zeigen vor allen Dingen Forschungslücken auf und folgen Mustern und Spuren in den sogenannten Jugoslawien-Texten Handkes, angefangen von dessen Slowenien-Essay „Abschied des Träumers vom Neunten Land“ von 1991 bis zur Erzählung „Die morawische Nacht“ von 2008. Vahidin Preljević:
„Der ex-jugoslawische Raum mit seiner landschaftlichen, geschichtlichen, politischen und kulturellen Physiognomie spielt eine konstante Rolle in Handkes Universum, und zwar nicht nur auf der biografischen und literarischen Ebene, sondern auch für sein Verständnis der Politik, der Geschichte, der Frage von Schuld und ja sogar der Identität, was in einem großen Teil der Handkeforschung entweder nicht ernsthaft berücksichtigt wird, oder wenn ja, dann ohne profundes Verständnis der (ex)jugoslawischen Geschichte oder Diskurskonstellationen. Dabei sind viele Texte Handkes (genauso wenig wie sein öffentliches Wirken) ohne das Wissen um diverse südslawische kulturelle Codes, Mythologeme und kollektive Narrative, oder Diskursmuster etwa des serbischen Nationalismus, einfach nicht verständlich.“
Ergänzend dazu zeigt der Germanist Paul Gruber von der Europa-Universität Flensburg in seinem Beitrag „Handke und die serbischen Medien“ Parallelen auf, die sich in den Wortmeldungen und Texten des Schriftstellers zum serbisch-nationalistischen Identitätskurs finden lassen. Im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens und des umstrittenen NATO-Krieges 1999, der die Armee des Serben Slobodan Milošević zum Rückzug aus dem Kosovo zwang, schossen Mythenbildungen ins Kraut, so Gruber. Sie rankten sich um Begriffe wie „Abstammung“, „Kultur“, „Volk“, „moralische Reinheit des serbischen Krieges“ und um die angebliche „Natürlichkeit und Authentizität“ des vom Westen abgewerteten Balkans - Begriffe und Verschwörungstheorien, die sich bei Handke fast deckungsgleich wiederfänden. Beispielsweise wenn der Autor immer wieder den Opferstatus der Serben betone und ihre Berechtigung zur Rache nahelege. Zu deuten als eine gewisse Rechtfertigung der Massaker von Sebrenica, auch wenn Handke diesen Genozid in einem verspäteten Statement schließlich verurteilte.
Gastfreundschaft und Bodenständigkeit
In diesem Kontext ist auch der Beitrag des Schweizer Historikers Michael Portmann zu sehen, der sich mit Handkes „Volksbegriff“ beschäftigt. Er weist auf den geradezu inflationären Gebrauch von Bezeichnungen wie „Serbenvolk“, „Serbenhäuptling“, „Volk der Serben“ hin. Offensichtlich, so Portmann, begreife der Schriftsteller Völker als „biologisch-genetische Einheiten“. Dies verbunden, um noch einmal Paul Gruber zu zitieren, mit einem ständigen Changieren zwischen Politik und Literatur, so etwa in den Texten „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“ und im „Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise“, beide von 1996. Auffällig hier wie in weiteren Texten die ins Mystische gesteigerten Naturbetrachtungen, die Preisung serbischer Charaktere, deren Gastfreundschaft und natürliche Bodenständigkeit - in Kontrast gesetzt zum kriegerischen Geschehen. Ein perfides Verfahren, so schreibt Alida Bremer in ihrem Essay „Der Dichter auf dem Irrweg“ zu Handkes literarischen Jugoslawien-Texten:
„In ihnen wird Sprache mit poetischer Geste missbraucht, um eine Faktenlage durch eine prophetische ’Wahrheit‘ zu ersetzen, und dieser Missbrauch wird zur Offenbarung der Dichtkunst erklärt".
Dieser Band bietet eine Fülle von Anregungen zum Diskurs über Peter Handke und seine sogenannten Jugoslawien-Texte. Aber zu manchen interessanten Thesen hätte man sich weitere Ausführungen gewünscht. So stellt Clemens Ruthner in seinem Beitrag „Peter Handke und die österreichische Unfähigkeit zu trauern“ die These auf, Serbien sei für den Sohn einer slowenischen Mutter und eines deutschen Wehrmachtssoldaten „so etwas wie eine Übertragungsneurose geworden“, eine Art „Stellvertreterkrieg in Bezug auf die Verdrängung und Verlogenheit“ Österreichs nach 1945. Sozusagen eine Verklärung Jugoslawiens bzw. Serbiens als Kompensation für die schuldhafte, verlorene Heimat.
Die verlorene Heimat
Noch ein kurzer Blick auf den dritten Teil des Bandes. Neben Bettina Balàka und Barbi Markovic ist hier ein Text des deutsch-bosnischen Schriftsteller Saša Stanišić zu lesen. Der Autor hatte 2019, im Jahr der Nobelpreis-Verleihung an Handke, den Deutschen Buchpreis erhalten und diese Auszeichnung zu einem wütenden Angriff auf Handke und die Wahl des Nobelpreis-Komitees genutzt. In seinem Beitrag „In der Recherche“ erwähnt Stanišić Peter Handke mit keiner Silbe und doch ist klar, auf wen er zielt:
„… bei historischen Krisen sollte es sehr, sehr gute Gründe geben, sich über historische Tatsachen zu stellen, oder eigene Überzeugungen als Gegenrede der Realität entgegenzustellen.“
Die Lektüre der Anthologie „Peter Handkes Jugoslawienkomplex“ ist ergiebig, auch wenn so manch guter Gedanke im Ansatz steckenbleibt. Hinzu kommt: Es fehlen jegliche Angaben zu den Autoren und Autorinnen dieses Bandes. Um die Leserfreundlichkeit zu erhöhen, hätte man zudem die englischen Texte übersetzen sollen. Und die hier fehlende Gegenrede der „Handke-Apologeten“, wie sie die Herausgeber etwas pikiert nennen, bleibt trotz erhellender Leseeindrücke schmerzlich.
Vahidin Preljević/ Clemens Ruthner (Hrsg.): „Peter Handkes Jugoslawienkomplex. Eine kritische Bestandsaufnahme“
Königshausen & Neumann Verlag, Würzburg
339 Seiten, 44,80 Euro.
Königshausen & Neumann Verlag, Würzburg
339 Seiten, 44,80 Euro.