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"Seine Lyrik hat auch nach 400 Jahren noch Bestand"

Die Autorin Ulla Hahn hat die "Originalität der Bildsprache von Paul Gerhardt gewürdigt. "Das hat mich an ihm berührt", sagte die Lyrikerin über den vor 400 Jahren geborenen Liederdichter. Zudem sei es Gerhardt immer wieder gelungen, "ganz persönlich zu werden".

Moderation: Rainer Schossig |
    Rainer Schossig: Paul Gerhardt: Morgen jährt sich der Geburtstag des vielleicht volkstümlichsten Dichters deutscher Zunge zum 400. Mal. Paul Gerhardt wurde am 12. März anno 1607 im damals kursächsischen Gräfenhainichen geboren. Die Lieder des frommen Barockpoeten, seine "Tröstelieder", wie Theodor Fontane sie so schön nannte, sie zählten jahrzehntelang zum innersten und innigsten Bestand an deutschen Liedern. - Die bekannte Lyrikerin Ulla Hahn ist mit Gedichtsammlungen wie "Herz über Kopf", "Unerhörte Nähe" oder "Galileo und die zwei Frauen" eher als Autorin von aufgeklärten Liebesgedichten bekannt, aber Paul Gerhardts berühmtes Abendlied hat sie dennoch, oder vielleicht gerade deswegen in dem von ihr 2003 herausgegebenen Gedichtband "Stimmen im Kanon" auch mitaufgenommen. Frage an Ulla Hahn: Er dichtete ja auch im Dreißigjährigen Krieg, aber ganz anders als etwa Gryphius. Was ist denn das Besondere an Paul Gerhardt?

    Ulla Hahn: Na ja, im Gegensatz zu Gryphius gelingt es dem Paul Gerhardt immer, ganz persönlich zu werden. Diese Spannung, die wir bei Gryphius haben zwischen Gläubigkeit und humanistischer Bildung, die finden wir bei Paul Gerhardt nicht. Paul Gerhardt zielt darauf ab, oder es ist seine Begabung, Bekenntnisse oder allgemeine Erfahrung in eine ganz persönliche Sprache zu bringen.

    Von Paul Gerhardt sind so circa 130 Lieder überliefert, und alleine 16 davon fangen mit "Ich" an. Das heißt, dieser persönliche Zugang auf großes Weltgeschehen, eben auch, wie Sie es ansprechen, den Dreißigjährigen Krieg, das Leid im Dreißigjährigen Krieg, dann die Freude, als es vorbei ist, das vermag der Paul Gerhardt sich wirklich zur eigenen Sache zu machen, und dann – das ist natürlich das A und O bei Lyrik – vermag er auch eigene Bilder dafür zu finden.

    Schossig: Seine Dichtungen gehören neben Luthers Bibelübersetzung und den Grimms Märchen zu den bekanntesten deutschen Texten, das hat der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber neulich gesagt. Könnten Sie das unterschreiben, ist das auch Ihre Wahrnehmung?

    Hahn: Nein, das ist meine Wahrnehmung nicht. Nun bin ich natürlich auch mit dem evangelischen Liedgut als katholisch aufgewachsenes Mädchen nicht so vertraut. Die Lieder, die ich kannte, auch schon als Kind, und wundervoll fand, war "O Haupt voll Blut und Wunden" und "Ermuntert euch und singt mit Schall", vor allen Dingen aber "O Haupt voll Blut und Wunden".

    Schossig: Das wurde ja ins katholische Gesangbuch schon 1676 aufgenommen, wie ich gelesen habe.

    Hahn: Wenn Sie das sagen, wird das sicher stimmen, und es ist auch heute noch in den Gesangbüchern vertreten. Nein, so wie Bischof Huber das sagt, empfinde ich das nicht. Ich empfinde die Dichtung von Paul Gerhardt als einen wichtigen Schritt, als eine wichtige Station in der Lyrik zur Selbsterfahrung.

    Wenn Sie Lyrik definieren wollen, oder sagen wollen, dass die Aufgabe von Dichtung immer dieselbe ist eigentlich, bei allem Stilwandel, nämlich den Menschen mit sich selbst bekannt zu machen und Formen zu entwickeln, die er verstehen kann in diesem Weg, sich selbst als handelndes und leidendes Wesen zu verstehen, dann hat der Paul Gerhardt da Wichtiges geleistet.

    Seine Selbsterfahrung ist selbstverständlich immer noch auf Gott ausgerichtet, und deswegen haben auch seine Lieder immer eine Nähe zum Gebet, und jedes persönliche Erleben von ihm ist auch vom Glauben gehalten, während – und das ist der große Unterschied, und das, was sicherlich für viele heutige Leserinnen und Leser den Zugang zu Gerhardt erschwert – die heutige Lyrik, da ist die Selbsterfahrung Selbstzweck.

    Schossig: Die Brücke wäre also das Subjektive, Sie sagen, das Mit-Sich-Bekannt-Werden, ein schöner Ausdruck. Man könnte ja auch sagen, ist er eigentlich zu evangelisch, zu protestantisch, dass er überhaupt in unserer heute weitgehend atheistischen, kirchenfernen Gesellschaft überhaupt noch ankommt?

    Hahn: Das kann ich nicht beantworten, weil ich glaube, es kommt ganz auf die Situation an, in der man mit einem Gedicht bekannt wird. Diese Trostfunktion, die Paul Gerhardts Lyrik sicherlich hat, die kann in bestimmten Situationen auch durchaus heute noch wirksam sein. Ich habe mir sagen lassen von Bekannten in der Altenpflege und auch in der Hospizpflege, dass sie mit Gedichten von Paul Gerhardt arbeiten. Ich glaube, dass die Trostfunktion, die ein Gedicht haben kann, dass man die nicht unterschätzen darf.

    Schossig: Das Lied, eines der bekanntesten von ihm, "Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser schönen Sommerszeit", das ist ja eines der innigsten Lieder überhaupt des protestantischen Gesangbuchs, finde ich. Sie sagten, es kommt auf den Verwertungszusammenhang an. Es könnte ja auch ein Kampflied der Grünen geworden sein. Aber es ist ja nach wie vor ein Lied der christlichen Lobpreisung der Schöpfung. Warum bleibt es dann doch anscheinend im Ghetto und spielt heute eigentlich in der Umweltbewegung, sage ich mal, kaum eine Rolle?

    Hahn: Das finde ich sehr schön, diese Parallele, die Sie da gezogen haben, beziehungsweise den Raum, den Sie da geöffnet haben. Es ist ja wirklich doch ein Merkmal großer Dichtung, dass sie nicht eindimensional ist. Und wenn ein Gedicht funktionieren kann, sowohl als Kirchenlied wie auch, wenn Sie sagen, als eine Hymne der Grünen oder überhaupt als eine Hymne an die Natur und an die Naturliebe, dann ist das eigentlich das Beste, was man von einem Gedicht sagen kann.

    Und ich weiß gar nicht, ob gerade dieses Gedicht so stärker in einem Ghetto sich befindet als Lyrik, die 400 Jahre alt ist, überhaupt. Ich finde in der Tat nicht, dass man da überhaupt von einem Ghetto sprechen kann, denn Johann Krüger und auch andere Komponisten, Johann Sebastian Bach, die haben nun letzten Endes auch dazu beigetragen, dass Paul Gerhardt mit seiner Lyrik überlebt.

    Schossig: Er hat im Dreißigjährigen Krieg gelebt, wir haben anfangs darüber gesprochen. Frau Hahn: Woher hat er eigentlich, wenn man diese Gedichte, diese Lieder liest, diesen unerschütterlichen Glauben nehmen können? Man hat ja manchmal den Eindruck, um auch noch mal eine andere Parallele zu ziehen, dass damals im Dreißigjährigen Krieg eigentlich die Friedensbewegung in den Kirchen gesessen haben muss.

    Er war, wenn man ihn von heute aus betrachtet, wohl doch ein sehr fundamentaler, fundamentalistischer Christ. Hat er eine Botschaft eigentlich in den Liedern hinterlassen, die wir dennoch heute annehmen können?

    Hahn: Wenn Sie glauben, können Sie seine Botschaft annehmen. Wenn Sie von vorne herein leugnen, dass es etwas gibt, das größer ist als der Mensch, dass der Mensch irgendwo angebunden ist, dann werden Sie mit dieser Botschaft, die er hat, nichts anfangen können. Aber was Sie auf jeden Fall können, ob Sie nun gläubig sind oder nicht, Sie können sich anrühren lassen von einer Lyrik, die auch nach 400 Jahren noch Bestand hat. Sicherlich nicht in allen Liedern und auch nicht in allen Zeilen, aber ein Vers kann genügen.

    Ich meine, wenn Sie so etwas nehmen wie dieses Gedicht "Breit aus die Flügel beide, oh Jesus meine Freude, und nimmt dein Küchlein an", ich meine, als Lyrikerin schlägt mir da das Herz hoch, denn das ist ein enormes Bild, besonders auch zu der Zeit, Jesus als ein Huhn darzustellen, das also seine Küchlein, seine Kinder, seine kleinen Küken da unter die Flügel nimmt. Das ist ganz großartig, wie er da eine genau Naturbeobachtung in das Metaphysische, wenn Sie so wollen, oder etwas bescheidener ausgedrückt, in ein kirchliches Glaubensbild wandelt. Und davon finden wir bei Gerhardt noch eine ganze Menge, und das ist das, was mich an Gerhardt heute noch interessiert.

    Schossig: Das war eigentlich meine Schlussfrage, Frau Hahn: Sie als Lyrikerin gefragt, Sie sind ja nun durch ein ordentliches Sonett bekannt geworden, haben Sie auch etwas vom Verseschmied Paul Gerhardt gelernt?

    Hahn: Ah nein, das habe ich nicht. Das sind ja schlichte Verse, die auch auf die Verwertbarkeit in der Gemeinde hin geschrieben sind. Sie sind auch auf die Verwertbarkeit zur Vertonung hin geschrieben. Nein, gelernt habe ich da nichts. Gelernt, wenn Sie so wollen, habe ich – aber das lernt man bei jedem Lyriker, der eine eigene Sprache hat –, oder das kann man auch nicht lernen, nein, das habe ich bewundert oder das hat mich an ihm berührt: die Originalität der Bildsprache.