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Seismologe
"Gefährdung durch Erdbeben in Nepal kein Geheimnis"

Ein Erdbeben in der Größenordnung wie am vergangenen Samstag in Nepal passiere nur alle zwei bis drei Generationen, sagte Frederik Tilmann vom Geoforschungsinstitut in Potsdam im DLF. Die Vorbereitung auf solche Katastrophen obliege letztendlich der Regierung. Das Beispiel Chile zeige aber, dass auch ärmere Länder wirksamen Schutz betreiben könnten.

28.04.2015
    Eine Straße in Bhaktapur in Nepal ist nach dem Erdbeben nicht mehr passierbar.
    Eine Straße in Bhaktapur in Nepal ist nach dem Erdbeben nicht mehr passierbar. (AFP / Prakash Mathema)
    Dirk Müller: Rund 650 deutsche Touristen sollen sich derzeit in Nepal aufhalten, Zahlen, die dem Deutschen Reiseverband vorliegen. Ein Wissenschaftler aus Göttingen soll in den Trümmern umgekommen sein. Die Vereinten Nationen gehen von weit über 4.000 Menschen aus, die durch das Erdbeben jetzt schon offiziell ums Leben gekommen sind. Über Zehntausende sind verletzt, Hunderttausende Kinder sind betroffen, ohne Dach über dem Kopf, ohne Versorgung. Jetzt gibt es neue Schätzungen der Regierung in Kathmandu. Wir haben es gerade gehört: Auch Indien ist betroffen. Hunderte von Rettungsteams warten aber in der Hauptstadt, in New Delhi darauf, nach Nepal zu kommen. Doch der Flughafen von Kathmandu ist weiterhin völlig überlastet.
    Nicht vorbereitet auf eine solche Katastrophe - so die Kritik vieler Experten und Politiker an der Regierung, an den Behörden in Nepal. Politisches Chaos, schlechte Infrastruktur, fahrlässig und überaus gefährlich gebaut und noch mal gebaut und immer wieder gebaut, vor allem in der Hauptstadt Kathmandu - ebenfalls der Vorwurf. Dass das Erdbeben kommen würde, soll glasklar gewesen sein. Darüber wollen wir nun sprechen mit Professor Frederik Tilmann, Deutsches Geoforschungsinstitut in Potsdam. Guten Tag.
    Frederik Tilmann: Ja, guten Tag.
    Müller: Herr Tilmann, wenn wir vor zwei Wochen darüber gesprochen hätten, hätten Sie es gewusst?
    Tilmann: Ja ich hätte jetzt natürlich nicht gewusst, dass dieses Erdbeben jetzt genau kommen würde, aber die ganze himalayanische Front ist bekannt als eine Erdbebenzone, wo sich über viele Jahre Spannungen aufstauen. Insofern war das Risiko oder die Gefährdung durch Erdbeben durchaus in der Fachwelt, aber auch unter Ingenieuren kein Geheimnis.
    Müller: Und wenn eine Gefahr immer besteht, dann ist es keine Gefahr?
    Tilmann: Das würde ich nicht so sagen. Die Chance besteht immer zu versuchen, den Baubestand zu verbessern. Es sind letztendlich die Seismologen, sie können eine Abschätzung liefern, wo Gefährdungen am größten sind, was dann auch helfen kann, die Ressourcen dort zu konzentrieren. Aber die Umsetzung obliegt dann natürlich auch immer den Regierungen vor Ort.
    Müller: Die Frage zielte auch dahingehend ab beziehungsweise diese These zu sagen, das haben wir jetzt häufiger ja auch lesen können in den Berichten, dort wo man immer Gefahr spürt ist es dann keine große Gefahr, weil man sich im Alltag darauf einrichtet. Das ist in vielen anderen Regionen der Erde ja auch so. Hat es da genügend Warnungen gegeben, von Experten wie auch von Politikern, dass das eine ganz konkrete Gefahr ist, die jede Minute kommen kann?
    Tilmann: Sie sprechen den Punkt schon an: Die Gefahr kann natürlich jede Minute kommen. Aber sie passiert dann doch in diesem Ausmaß nur selten, nur einmal alle zwei bis drei Generationen, so dass das natürlich dann im Tagesgeschäft vergessen werden kann. Experten haben schon immer gewarnt, es gibt da auch viele Fachartikel zu, die das immer wieder betonen, haben natürlich dann teilweise Schwierigkeiten, das dann vor Ort umzusetzen. Und inwiefern dann diese Nachrichten die Leute erreichen, da gibt es auch durchaus viele Initiativen, das jetzt nicht nur in Fachartikeln zu publizieren, sondern auch, sagen wir, allgemein verständlich darzustellen. Aber wie das dann ankommt, das entzieht sich natürlich dann auch teilweise der Kontrolle von uns Seismologen.
    Müller: Ich möchte das noch mal sagen. Nicht vorbereitet auf eine solche Katastrophe, nicht gut vorbereitet oder gar nicht vorbereitet auf eine solche Katastrophe, das ist jetzt immer wieder zu hören als Kritik, als Vorwurf. Ist das für Sie als Experte, der nicht nur als Geologe dieses ganze Geschehen dort verfolgt, sondern sich auch mit der Topographie, mit der Geographie, auch mit den gesellschaftlichen Strukturen auseinandersetzen muss, inwieweit ist das vollkommen absurd, ein Land jetzt zu kritisieren, das ohnehin am Ende der Armutsschwelle in der Welt steht?
    Tilmann: Ja, es fällt mir etwas schwierig, ein Urteil abzugeben. Ich muss auch sagen, dass ich jetzt die Verhältnisse vor Ort in Nepal natürlich nicht so genau kenne, sondern mehr die seismo-tektonische Situation kommentieren kann und die seismologische Situation. Ich weiß nicht, ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist, genau zu schauen, was man vorher hätte besser machen können. Es ist sicherlich wichtiger, sich erst mal darauf zu konzentrieren, die Situation jetzt direkt unter Kontrolle zu bringen. Aber in den kommenden Monaten muss man natürlich dann schon schauen, was man auch im Vorfeld hätte besser machen können, um natürlich auch dann für zukünftige Erdbeben vorbereitet zu sein. Es betrifft ja nicht nur Nepal, sondern letztendlich Bhutan, Indien, China, die ganzen Länder, die diese Region mit berühren, Tibet.
    Müller: Herr Tilmann, war das jemals anders? Wir erinnern uns an die verheerenden Erdbebenkatastrophen etwa in Haiti. Waren jemals Länder vorbereitet?
    Tilmann: Ich denke, es gibt da durchaus positive Beispiele. Ich meine einmal: Natürlich das Land, was wahrscheinlich am besten auf Erdbeben vorbereitet ist, ist Japan. Das 2011er-Beben hat natürlich fürchterliche Verwüstung verursacht durch den Tsunami. Aber die Erschütterungen selber haben nur relativ geringe Schäden verursacht.
    Japan und Chile als positive Vorbilder
    Müller: Aber der Tsunami gehörte dazu?
    Tilmann: Der Tsunami gehört dazu. Da lässt sich im Einzelnen sicherlich viel kritisieren. Aber auch da haben die Vorbereitungen, die getroffen wurden, sicherlich einige Menschenleben gerettet. Ich will jetzt eigentlich nicht wieder in die Diskussion im Detail einsteigen mit Japan. Deswegen ein anderes Beispiel, was auch positiv zu werten ist, obwohl es bei großen Erdbeben immer Menschenleben fordern wird. Chile ist auch ein Land, was jetzt wahrscheinlich mehr als Schwellenland zu bezeichnen ist, wo das in der Regierung inzwischen erkannt wurde, dass das sehr wichtig ist, und die sich da sehr Mühe gegeben haben, den Baubestand auch zu verstärken. Bei dem letzten großen Beben - das war ein 8,2er-Beben letztes Jahr - hat es nur relativ geringfügige Schäden für Menschenleben gegeben. Der ökonomische Schaden war aber schon da.
    Müller: Wenn jetzt so etwas noch einmal passieren würde wie in San Francisco, in den Vereinigten Staaten, der St. Andreas Graben, der auch immer unruhig ist, der auch immer etwas auslösen kann, würden die Amerikaner da viel professioneller vorbereitet sein, viel professioneller reagieren können und das Ausmaß viel schneller im Griff haben?
    Tilmann: Ja, ich denke schon, dass bei einem Beben vergleichbarer Stärke wahrscheinlich der ökonomische Schaden in Kalifornien viel größer wäre. Aber das ist natürlich letztendlich nicht das allerwichtigste, sondern das wichtigste sind die Menschenleben und die Zahl der Leute, die ihre Häuser und ihre Wohnstatt verlieren. Da wäre das wahrscheinlich schon eine bessere Vorbereitung. Man muss natürlich immer auch die Mittel sehen und ein Land wie Nepal kann natürlich niemals dieselben Geldmittel investieren, wie die USA investieren kann, und da ist natürlich internationale Hilfe auch gefordert, und ich denke, das wird sicherlich auch eine Sache sein, die man diskutieren muss. Aber letztendlich guckt jedes Land auf seine eigenen Interessen mehr als die von anderen Ländern.
    Müller: Könnten wir sagen, Vorbereitung ist eine Frage des Geldes?
    Tilmann: Teilweise, aber - das Beispiel Chile zeigt das, was natürlich auch noch sehr viel reicher ist als Nepal - man kann auch mit geringen Geldmitteln viel erreichen, auch in der Bauweise. Eine Sache, die man machen kann, ist, mit Stahlträgern Gebäude zu verstärken. Das ist dann eher teurer. Aber man kann auch durch Verwendung von Holzbauweisen, wie das auch in Kalifornien viel praktiziert wird, bei kleineren Gebäuden arbeiten. Durchaus mit geringen Geldmitteln gibt es Designs, die Erdbeben besser standhalten als traditionelle Bauweisen in manchen Gegenden.
    Müller: Herr Tilmann, es wird viel darüber geredet: Ein weltweites Frühwarnsystem, das auf solche Katastrophen, auf solche Veränderungen hinweist, weltweit zu umspannen. Wenn es dann darauf ankommt, funktioniert es ja doch offenbar nicht so gut, wie viele das gedacht haben. Denn auch die Experten, die permanent beobachten, die permanent vor den Monitoren sitzen, haben das auch nicht kommen sehen. Bringt das wirklich was?
    Tilmann: Man darf jetzt auch nicht die Sachen verwechseln. Was ganz gut organisiert ist inzwischen ist die Frühwarnung für Tsunamis, wo man aufgrund der Detektion des Erdbebens dann eine Warnung mit einer Warnzeit von einer halben Stunde oder mehr aussprechen kann, teilweise mehrere Stunden, wenn das weit entfernt ist. Bei Erdbeben ist es so, dass es da keine verlässlichen Vorzeichen gibt. Man kann Erdbeben nicht im Voraus erkennen, die kommen plötzlich. Es gibt dann allerdings die Möglichkeit, worauf die Frühwarnkonzepte aufbauen: Die ersten Wellen, die vom Erdbeben ausgehen, sogenannte P-Wellen, Druckwellen, die sind gut merkbar, auch gut aufzeichenbar, verursachen keine größeren Schäden. Das heißt, man kann damit, je nachdem wie weit das Erdbeben vom Bevölkerungszentrum entfernt ist, eine kurzfristige Warnung machen. Da geht es aber um wenige Sekunden, höchstens Zehnersekunden, auch wenn man das Erdbeben sozusagen direkt am Herd entdecken kann. Aber das ist auch was, was man nicht wirklich global lösen könnte, sondern da muss man immer lokalspezifisch schauen, wo sind die Verwerfungen, die Erdbeben verursachen, die gefährlich werden könnten. Unter diesem Monitoring, das lässt sich nicht auf einem globalen Level machen.
    Müller: Wir reden von Sekunden. Sie haben gerade gesagt, Sekunden.
    Tilmann: Ja, ich rede von Sekunden oder Zehnersekunden, je nachdem wie das ist. Das hört sich jetzt nach sehr wenig an, aber erlaubt es, gewisse technische Maßnahmen zu treffen, Züge anzuhalten, Kraftwerke runterzufahren, Operationen zu unterbrechen, und durchaus einen gewissen Selbstschutz zu machen. Wenn man jetzt in einem wenig bebauten Gebiet ist im Erdgeschoss, kann man rausrennen. Wenn man irgendwo ist, wo es dicht bebaut ist, dann ist es besser, im Gebäude zu bleiben, aber sich zum Beispiel unter Türrahmen zu stellen oder unter feste Möbelstücke zu flüchten, dass man nicht von herabstürzenden Teilen erschlagen wird. Und es gibt auch durchaus Konzepte, in sehr gefährdeten Regionen Schutzräume zu entwickeln. Die müssten dann auf jedem Stockwerk sein, aber dass man da ganz schnell reingehen kann, die stärker verstärkt sind. Aber das gibt es bisher noch nicht operationell.
    Müller: Heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk Professor Frederik Tilmann vom Deutschen Geoforschungsinstitut in Potsdam. Danke für die Zeit, die Sie sich genommen haben.
    Tilmann: Ja, vielen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.