Christoph Heinemann: Guten Morgen, Herr Grusa.
Jiri Grusa: Guten Morgen, Herr Heinemann.
Heinemann: Herr Grusa, woran erinnern Sie sich zuerst, wenn Sie an den August 1968 denken?
Grusa: Nun, das war doch eine Zäsur in jedem Leben, so oder so. Selbst die Invasoren haben sich verändert nach der Invasion. Da endet eine Etappe und fängt etwas ganz anderes an mit vielen Komplikationen und dennoch mit einem gewissen "happy end". Also es ist eine sehr zwiespältige Erinnerung.
Heinemann: "Happy end". - Ist der Prager Frühling gescheitert, oder bildete das Jahr 1968 den Anfang vom Ende des sowjetischen Kommunismus? (Mehr zum Prager Frühling auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung)
Grusa: Ich würde sagen, die zweite Variante ist die richtigere. Es war natürlich das Ende der Illusion der Reformierbarkeit des Kommunismus, die mit der tschechischen Mentalität und der tschechischen Geschichte nach '44, aber auch schon vorher etwas zu tun hatte. Der Reformversuch war sogar prosowjetisch gemeint bei den Reformisten. Die waren der Meinung, dass die tschechische Gesellschaft, die einzige Industrienation unter den Slawen, wenn ich das so sagen soll, nach 20 Jahren des Kommunismus, der länger gedauert hat als die erste Republik, die Erfahrung gemacht hat, wenn sich hier nicht etwas ändert, würde das ganze Reich kollabieren. Also es war sozusagen eine prosowjetische Idee bei den Kommunisten, die dann natürlich, als Gorbatschow das wiederholen wollte, wieder nach 20 Jahren, nicht mehr funktionieren konnte. Ob das schon damals hätte funktionieren können, ist eine historische Frage, nicht jetzt eine analytische. Aber es ist klar: da war diese Hoffnung, das zu reparieren. Diese Meinung war auch bei vielen Literaten vertreten und politisch - das ist das Interessante an der Sache - war dessen Träger Milan Kundera, auch ein berühmter Literat, der dann seinen berühmten Text zu diesem Thema geschrieben hat und erst nach '68 in Paris gelandet war, wo er bis heute lebt und die Literatur betreibt.
Heinemann: Wie ist es aus heutiger Sicht zu erklären, dass der Sozialismus von den Reformern nicht in Frage gestellt wurde?
Grusa: Das hängt sehr eng mit der tschechischen Geschichte zusammen. Bis zu der Reform hatte die Mehrheit der Gesellschaft aufgrund nicht der slowakischen, mehr der tschechischen Entwicklung eine, sagen wir, utopische Haltung, die fast jede Gesellschaft hat, aber die in der tschechischen Gesellschaft aufgrund des sozialen Aufstiegs der niedrigeren Schichten sehr beliebt war.
Heinemann: Herr Grusa, Ho Chi Minh und Che Guevara spielten im Prager Frühling meines Wissens keine Rolle. Gab es Verbindungen oder Vergleichbares zwischen der Studentenbewegung in den USA und in Westeuropa und den Reformern in Prag?
Grusa: Ich würde sagen, auch hier spielt der Frühling eine ziemlich gute Rolle. Erstens war da eine gewisse Verbindung, weil Dutschke war in Prag. Besonders diejenigen, die eine gewisse Erfahrung mit der DDR hatten, haben auch hier sozusagen eine Erwartung gehabt. Nun: sie waren aber bei der Diskussion, ob der Marxismus stimmt oder nicht, sehr klassisch deutsch, sehr philosophisch, fast lächerlich für unsere Verhältnisse und die waren dann auch überrascht. Einer der wichtigsten Komponenten in meinen Augen war, dass diese Bewegung im Westen dann nicht mehr rot agieren konnte, sondern sie hat sich grün gefärbt. Das ist eine andere Philosophie und eine andere Haltung, weil die also eine Messbarkeit der Dinge einführt und nicht nur das ideologische Gelabere, ob ich den Marx richtig zitiere oder nicht.
Heinemann: Neuerdings erfährt Rot in Deutschland allerdings wieder eine gewisse Renaissance und selbst die SPD bekennt sich zu einem demokratischen Sozialismus. Sind diese beiden Wörter miteinander zu vereinbaren?
Grusa: Mein lieber Herr Heinemann, das ist eine alte Krankheit. Die Bolschewiki und Menschewiki haben so angefangen. Alle diese kommunistischen Parteien waren eine Abspaltung der Sozialdemokraten. Die Entwicklung der deutschen Politik und der deutschen Kultur mit dem Godesberger Programm war in dem Sinne interessant, dass man eine politische Grundlage hatte, die außerhalb dieser alten Idiotien vorhanden war. Und natürlich die Konsequenz der Vereinigung der Deutschen, also die nationale Idee der Einheit, führte dazu, dass diese alte Ansteckung wieder vorhanden ist und die Linke ist sozusagen die alte Position vor '45, vor 1918. Das ist also eine europäische Erneuerungsstrategie, aber jedenfalls keine so neue Sache.
Heinemann: Die nicht weiterführt?
Grusa: Ja. In meinen Augen nicht, aber ich kann die Deutschen nicht beraten.
Heinemann: Herr Grusa, der tschechische Ministerpräsident Mirek Topolanek hat in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" gesagt, "so wie die Entnazifizierung in Deutschland bedürfe es in Tschechien einer Entbolschewisierung". Sehen Sie das auch so?
Grusa: Nun, das ist ein bisschen zu dramatisch gesagt. Aber mentalmäßig ist eben das, was ich hier beschrieben habe, diese alte Belastung der Mentalität, immer noch vorhanden und das Problem der so genannten Normalisierung, diese große Begeisterung aller in der Gesellschaft im Jahre 1968, endete nach zwei Jahren in einer totalen Destruktion der Gesellschaft, in der beinahe eine Million Menschen aus verschiedenen Berufen ausgeschlossen wurde und diejenigen, die so begeistert waren, haben dann ziemlich gut mitgemacht. In dem Sinne ist da eine wichtige Aufgabe der tschechischen Gesellschaft, ähnlich wie das in Deutschland der Fall war, sich mit dem Entstehen des Kommunismus und mit der Vergangenheit intensiv zu beschäftigen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Tschechen die einzige Nation im Osten waren, die sich den Kommunismus mit dem Stimmzettel in der Hand ins Haus geholt hat - wir waren die einzigen, die das erreicht haben; das ist nicht so unterschiedlich von den Deutschen im Jahre '33 - und dass der Kommunismus dann bei uns mit Hilfe der überzeugten Mitmacher in der ersten Phase zwischen '48 und sagen wir '58 sehr grausam mit den eigenen Händen durchgeführt war - nur mit den russischen Beratern, aber nicht sozusagen, so wie in Polen oder wie in Ungarn oder in den anderen Ländern, unter der Kuratelle der Besatzungsarmee.
Heinemann: Schriftsteller und Filmemacher - Sie haben eben Milan Kundera genannt; man könnte Miloš Forman nennen, Eduard Goldstücker, Pavel Kohut - waren im Prager Frühling treibende Kräfte. Warum ist der politische Einfluss der Intellektuellen in den westlichen Demokratien und auch in den neuen Beitrittsstaaten der EU heute so begrenzt?
Grusa: Es ist kein gutes Zeichen für eine Gesellschaft, in der ein kleiner Literat so einen großen Einfluss hat. Damit will ich nicht sagen, dass die Literatur keine Rolle hat. Dort, wo die Literatur eine politische Rolle bekommt, ist was in der Gesellschaft falsch. Das ist keine automatische Bewertung oder Vergrößerung des Wertes der Literatur. Damit wünsche ich mir, dass die Literatur überall eine große Rolle spielt. Aber dort, wo sie die Rolle hat, ist etwas sozusagen Morsches in der Gesellschaft. Denn die Gesellschaft, in der ein gutes lyrisches Buch eine Auflage von 1.000 Stück hat, ist die gesündere als dort, wo man etwa 30.000 verkauft.
Heinemann: Schriftsteller können aber doch Vorbilder sein.
Grusa: Ja!
Heinemann: Wächst die Verführbarkeit vielleicht für politische Extremismen, wenn zum Beispiel Persönlichkeiten wie Alexander Solschenizyn, die Kommunismus und Unfreiheit am eigenen Leib erfahren haben, sterben, fehlen?
Grusa: Wissen Sie, bei Solschenizyn ist es ja auch eine sehr interessante Sache. Solschenizyn, das ist eine große Leistung. Er war der einzige, der die Gulag-Sache so präzise formulierte, dass sie noch nach zwei Jahrhunderten in seinem Sinne formuliert wird. Die Russen waren die einzige Nation der Welt, die die genozidalen Handlungen als suizidale Leistung betrieben hat. Denn was sind diese Säuberungen? Das ist etwas, was man auf dem eigenen Leibe vorführt. Das hat er präzise formuliert. Aber letztendlich endet er dann mit einer Philosophie des dritten Roms und mit dem Lob an Putin. Er belegt einfach das, was ich vorher sage. Bei allem Respekt und aller Bewunderung zu Solschenizyn, aber er ist dann als eben das geendet, was die Literatur eigentlich in meinen Augen nicht tun soll. Das sind so die nationalen Mythologien, sie zu vertreten und sie dann zu repräsentieren.
Heinemann: Herr Grusa, was sagen Sie mit Ihrer historischen Erfahrung Menschen, die Gleichheit für wichtiger halten als Freiheit?
Grusa: Da muss ich Ihnen sagen, diejenigen, die nicht frei sind, werden nie gleich. So einfach ist die Sache.
Heinemann: 1968 ging es um einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Benötigt heute der Kapitalismus einen Prager Frühling?
Grusa: Nun, weil ich nie ein Kapitalist war, würde ich sagen, es wäre schon intelligent, sozusagen einen obamistischen Touch zu haben.
Heinemann: Obamistisch kommt von Obama?
Grusa: Ja, das stimmt. Das habe ich jetzt erfunden. Entschuldigung!
Heinemann: Tolles Wort.
Grusa: Ja, gut. - Jede Gesellschaft, jede Faktizität braucht ab und zu eine emotionale Reinterpretation, die sich aber im Rahmen der Faktischen bewegt. Sozusagen eine obamistische Komponente des Kapitalismus wäre gar nicht schlecht.
Heinemann: Der Schriftsteller Jiri Grusa, Direktor der Diplomatischen Akademie in Wien und ehemaliger tschechischer Botschafter in Deutschland. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Grusa: Auf Wiederhören.
Jiri Grusa: Guten Morgen, Herr Heinemann.
Heinemann: Herr Grusa, woran erinnern Sie sich zuerst, wenn Sie an den August 1968 denken?
Grusa: Nun, das war doch eine Zäsur in jedem Leben, so oder so. Selbst die Invasoren haben sich verändert nach der Invasion. Da endet eine Etappe und fängt etwas ganz anderes an mit vielen Komplikationen und dennoch mit einem gewissen "happy end". Also es ist eine sehr zwiespältige Erinnerung.
Heinemann: "Happy end". - Ist der Prager Frühling gescheitert, oder bildete das Jahr 1968 den Anfang vom Ende des sowjetischen Kommunismus? (Mehr zum Prager Frühling auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung)
Grusa: Ich würde sagen, die zweite Variante ist die richtigere. Es war natürlich das Ende der Illusion der Reformierbarkeit des Kommunismus, die mit der tschechischen Mentalität und der tschechischen Geschichte nach '44, aber auch schon vorher etwas zu tun hatte. Der Reformversuch war sogar prosowjetisch gemeint bei den Reformisten. Die waren der Meinung, dass die tschechische Gesellschaft, die einzige Industrienation unter den Slawen, wenn ich das so sagen soll, nach 20 Jahren des Kommunismus, der länger gedauert hat als die erste Republik, die Erfahrung gemacht hat, wenn sich hier nicht etwas ändert, würde das ganze Reich kollabieren. Also es war sozusagen eine prosowjetische Idee bei den Kommunisten, die dann natürlich, als Gorbatschow das wiederholen wollte, wieder nach 20 Jahren, nicht mehr funktionieren konnte. Ob das schon damals hätte funktionieren können, ist eine historische Frage, nicht jetzt eine analytische. Aber es ist klar: da war diese Hoffnung, das zu reparieren. Diese Meinung war auch bei vielen Literaten vertreten und politisch - das ist das Interessante an der Sache - war dessen Träger Milan Kundera, auch ein berühmter Literat, der dann seinen berühmten Text zu diesem Thema geschrieben hat und erst nach '68 in Paris gelandet war, wo er bis heute lebt und die Literatur betreibt.
Heinemann: Wie ist es aus heutiger Sicht zu erklären, dass der Sozialismus von den Reformern nicht in Frage gestellt wurde?
Grusa: Das hängt sehr eng mit der tschechischen Geschichte zusammen. Bis zu der Reform hatte die Mehrheit der Gesellschaft aufgrund nicht der slowakischen, mehr der tschechischen Entwicklung eine, sagen wir, utopische Haltung, die fast jede Gesellschaft hat, aber die in der tschechischen Gesellschaft aufgrund des sozialen Aufstiegs der niedrigeren Schichten sehr beliebt war.
Heinemann: Herr Grusa, Ho Chi Minh und Che Guevara spielten im Prager Frühling meines Wissens keine Rolle. Gab es Verbindungen oder Vergleichbares zwischen der Studentenbewegung in den USA und in Westeuropa und den Reformern in Prag?
Grusa: Ich würde sagen, auch hier spielt der Frühling eine ziemlich gute Rolle. Erstens war da eine gewisse Verbindung, weil Dutschke war in Prag. Besonders diejenigen, die eine gewisse Erfahrung mit der DDR hatten, haben auch hier sozusagen eine Erwartung gehabt. Nun: sie waren aber bei der Diskussion, ob der Marxismus stimmt oder nicht, sehr klassisch deutsch, sehr philosophisch, fast lächerlich für unsere Verhältnisse und die waren dann auch überrascht. Einer der wichtigsten Komponenten in meinen Augen war, dass diese Bewegung im Westen dann nicht mehr rot agieren konnte, sondern sie hat sich grün gefärbt. Das ist eine andere Philosophie und eine andere Haltung, weil die also eine Messbarkeit der Dinge einführt und nicht nur das ideologische Gelabere, ob ich den Marx richtig zitiere oder nicht.
Heinemann: Neuerdings erfährt Rot in Deutschland allerdings wieder eine gewisse Renaissance und selbst die SPD bekennt sich zu einem demokratischen Sozialismus. Sind diese beiden Wörter miteinander zu vereinbaren?
Grusa: Mein lieber Herr Heinemann, das ist eine alte Krankheit. Die Bolschewiki und Menschewiki haben so angefangen. Alle diese kommunistischen Parteien waren eine Abspaltung der Sozialdemokraten. Die Entwicklung der deutschen Politik und der deutschen Kultur mit dem Godesberger Programm war in dem Sinne interessant, dass man eine politische Grundlage hatte, die außerhalb dieser alten Idiotien vorhanden war. Und natürlich die Konsequenz der Vereinigung der Deutschen, also die nationale Idee der Einheit, führte dazu, dass diese alte Ansteckung wieder vorhanden ist und die Linke ist sozusagen die alte Position vor '45, vor 1918. Das ist also eine europäische Erneuerungsstrategie, aber jedenfalls keine so neue Sache.
Heinemann: Die nicht weiterführt?
Grusa: Ja. In meinen Augen nicht, aber ich kann die Deutschen nicht beraten.
Heinemann: Herr Grusa, der tschechische Ministerpräsident Mirek Topolanek hat in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" gesagt, "so wie die Entnazifizierung in Deutschland bedürfe es in Tschechien einer Entbolschewisierung". Sehen Sie das auch so?
Grusa: Nun, das ist ein bisschen zu dramatisch gesagt. Aber mentalmäßig ist eben das, was ich hier beschrieben habe, diese alte Belastung der Mentalität, immer noch vorhanden und das Problem der so genannten Normalisierung, diese große Begeisterung aller in der Gesellschaft im Jahre 1968, endete nach zwei Jahren in einer totalen Destruktion der Gesellschaft, in der beinahe eine Million Menschen aus verschiedenen Berufen ausgeschlossen wurde und diejenigen, die so begeistert waren, haben dann ziemlich gut mitgemacht. In dem Sinne ist da eine wichtige Aufgabe der tschechischen Gesellschaft, ähnlich wie das in Deutschland der Fall war, sich mit dem Entstehen des Kommunismus und mit der Vergangenheit intensiv zu beschäftigen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Tschechen die einzige Nation im Osten waren, die sich den Kommunismus mit dem Stimmzettel in der Hand ins Haus geholt hat - wir waren die einzigen, die das erreicht haben; das ist nicht so unterschiedlich von den Deutschen im Jahre '33 - und dass der Kommunismus dann bei uns mit Hilfe der überzeugten Mitmacher in der ersten Phase zwischen '48 und sagen wir '58 sehr grausam mit den eigenen Händen durchgeführt war - nur mit den russischen Beratern, aber nicht sozusagen, so wie in Polen oder wie in Ungarn oder in den anderen Ländern, unter der Kuratelle der Besatzungsarmee.
Heinemann: Schriftsteller und Filmemacher - Sie haben eben Milan Kundera genannt; man könnte Miloš Forman nennen, Eduard Goldstücker, Pavel Kohut - waren im Prager Frühling treibende Kräfte. Warum ist der politische Einfluss der Intellektuellen in den westlichen Demokratien und auch in den neuen Beitrittsstaaten der EU heute so begrenzt?
Grusa: Es ist kein gutes Zeichen für eine Gesellschaft, in der ein kleiner Literat so einen großen Einfluss hat. Damit will ich nicht sagen, dass die Literatur keine Rolle hat. Dort, wo die Literatur eine politische Rolle bekommt, ist was in der Gesellschaft falsch. Das ist keine automatische Bewertung oder Vergrößerung des Wertes der Literatur. Damit wünsche ich mir, dass die Literatur überall eine große Rolle spielt. Aber dort, wo sie die Rolle hat, ist etwas sozusagen Morsches in der Gesellschaft. Denn die Gesellschaft, in der ein gutes lyrisches Buch eine Auflage von 1.000 Stück hat, ist die gesündere als dort, wo man etwa 30.000 verkauft.
Heinemann: Schriftsteller können aber doch Vorbilder sein.
Grusa: Ja!
Heinemann: Wächst die Verführbarkeit vielleicht für politische Extremismen, wenn zum Beispiel Persönlichkeiten wie Alexander Solschenizyn, die Kommunismus und Unfreiheit am eigenen Leib erfahren haben, sterben, fehlen?
Grusa: Wissen Sie, bei Solschenizyn ist es ja auch eine sehr interessante Sache. Solschenizyn, das ist eine große Leistung. Er war der einzige, der die Gulag-Sache so präzise formulierte, dass sie noch nach zwei Jahrhunderten in seinem Sinne formuliert wird. Die Russen waren die einzige Nation der Welt, die die genozidalen Handlungen als suizidale Leistung betrieben hat. Denn was sind diese Säuberungen? Das ist etwas, was man auf dem eigenen Leibe vorführt. Das hat er präzise formuliert. Aber letztendlich endet er dann mit einer Philosophie des dritten Roms und mit dem Lob an Putin. Er belegt einfach das, was ich vorher sage. Bei allem Respekt und aller Bewunderung zu Solschenizyn, aber er ist dann als eben das geendet, was die Literatur eigentlich in meinen Augen nicht tun soll. Das sind so die nationalen Mythologien, sie zu vertreten und sie dann zu repräsentieren.
Heinemann: Herr Grusa, was sagen Sie mit Ihrer historischen Erfahrung Menschen, die Gleichheit für wichtiger halten als Freiheit?
Grusa: Da muss ich Ihnen sagen, diejenigen, die nicht frei sind, werden nie gleich. So einfach ist die Sache.
Heinemann: 1968 ging es um einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Benötigt heute der Kapitalismus einen Prager Frühling?
Grusa: Nun, weil ich nie ein Kapitalist war, würde ich sagen, es wäre schon intelligent, sozusagen einen obamistischen Touch zu haben.
Heinemann: Obamistisch kommt von Obama?
Grusa: Ja, das stimmt. Das habe ich jetzt erfunden. Entschuldigung!
Heinemann: Tolles Wort.
Grusa: Ja, gut. - Jede Gesellschaft, jede Faktizität braucht ab und zu eine emotionale Reinterpretation, die sich aber im Rahmen der Faktischen bewegt. Sozusagen eine obamistische Komponente des Kapitalismus wäre gar nicht schlecht.
Heinemann: Der Schriftsteller Jiri Grusa, Direktor der Diplomatischen Akademie in Wien und ehemaliger tschechischer Botschafter in Deutschland. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Grusa: Auf Wiederhören.