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Selbstbestimmungsrecht der Völker versus kulturelle Identität einer Nation

Was passiert, wenn sich gleichstarke Bevölkerungsgruppen mit gegensätzlichen Interessen um Macht und Ressourcen streiten? Mit dieser Frage mussten und müssen sich viele Staaten und Gebiete der Erde auseinandersetzen - darunter die Türkei, der Balken, Israel und der Südsudan.

Von Jutta Schwengsbier | 07.01.2013
    Die wohl bekannteste Musikgruppe am Bosporus singt Lieder in sieben Sprachen. Für Kardesh Türküler ist die Vielsprachigkeit ihrer Musik zugleich ein Beleg für das multikulturelle Erbe der Türkei. Die alten Volksweisen sollen zeigen, dass in der Türkei schon immer ein Vielvölkergemisch lebte.

    Mit ihrer Musik will Kardesh Türküler nichts weniger, als der seit 100 Jahren vertretenen Regierungspolitik entgegentreten. Denn offiziell gilt die Türkei als ein Staat der Türken. Die Existenz von anderen ethnischen Volksgruppen, die seit Jahrhunderten auf türkischem Staatsgebiet leben, wird einfach geleugnet. Kurden oder andere Minderheiten durften deshalb in der Türkei jahrzehntelang ihre eigenen Sprachen nicht mehr sprechen. Der Zwang zur Assimilation gehe so weit, sagt die Sozialwissenschaftlerin Ayshe Guel Altynai, dass heute viele glauben, Türken zu sein, obwohl sie eigentlich armenische Vorfahren haben.

    "Einige haben erst im hohen Alter erfahren, dass sie armenische Großeltern hatten. Das hat in vielen Familien das ganze Konzept der eigenen Identität in Frage gestellt. Sie sehen sich inzwischen als Weltbürger und sind offen für multiple Identitäten."

    Nachdem Anfang des 20. Jahrhunderts das Selbstbestimmungsrecht der Völker propagiert worden war, versuchte die Türkei ihren Staat nach ethnischen Kategorien zu organisieren. Wer hier leben wollte, musste Türke sein oder es werden. Mit ihrem Buch "Die Enkel" hat Ayshe Guel Altynai nun erstmals Familiengeschichten gesammelt, die von der fortdauernden Angst der Minderheiten in der Türkei zeugen. War die Vertreibung und Ermordung von einer Million Armeniern im Jahr 1914 Völkermord? Bis heute streiten Armenien und die Türkei um die korrekte Definition der historischen Ereignisse. Dabei sollte es heute vor allem darum gehen, glaubt Ayshe Gül Altinay, den unterschiedlichen Volksgruppen in der Türkei wieder zu ihrem Recht zu verhelfen.

    "Ab dem Jahr 2005 entstand eine ganz neue öffentliche Debatte. Künstler und Intellektuelle zeigten in ihren Werken, wie reichhaltig die armenische oder kurdische Kultur in der Türkei sind. Um das herauszufinden, mussten wir nicht in die Archive gehen, sondern nur zuhören, wenn Familiengeschichten erzählt werden."

    Wissenschaftlerinnen wie Ayshe Gül Altynai wollen die Türkei als multikulturelle Gesellschaft würdigen und vielen Menschen dadurch ihr Selbstbewusstsein - und ihren Frieden - zurückgeben.

    Seit dem Ende der Kolonialzeit, als Briten, Franzosen oder Osmanen ihren Herrschaftsanspruch über ganze Kontinente aufgeben mussten, gilt das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundlage des modernen Staatswesens. Aber wer oder was ist das Volk? Was passiert, wenn sich zwei oder mehr gleichstarke Bevölkerungsgruppen mit gegensätzlichen Interessen um Macht und Ressourcen streiten? Den blutigen Schlachten gegen Diktatoren folgen regelrechte Kulturkriege. Wer Staaten mit einer multikulturellen Bevölkerung nach ethnischen oder religiösen Kategorien zu ordnen versucht, provoziert dabei unweigerlich politische Instabilität oder gar Gewalt, glaubt Shlomo Sand. Der israelische Historiker gehört zu den schärfsten Kritikern der israelischen Regierungspolitik, die nur Juden als Staatsbürger anerkennt.

    "Im modernen Sinn des Worts sind die Juden kein Volk. Warum bestehen die Zionisten auf einem jüdischen Volk? Nur Völker können ein Land beherrschen, aber nicht die Angehörigen einer Religion. Wir müssen also ein jüdisches Volk sein, um Palästina für uns beanspruchen zu können. Die Vision von einer Nation, von einem Volk kann nicht nur auf der Religion beruhen. Israel ist ein jüdischer Staat, aber kein Staat für seine Bürger."
    Langfristig werde Israel mit dieser Politik scheitern, ist Shlomo Sand überzeugt. Genauso wie der Sudan daran schon gescheitert ist. Nach fast 100 Jahren Krieg, im dem wechselnde Regierungen in Khartum das Land mit Gewalt zu arabisieren und zu islamisieren versuchten, erstritten sich die Südsudanesen die Unabhängigkeit. Aus diesem Vielvölkergemisch nun ein Volk zu machen, bleibe aber auch im Südsudan die größte Herausforderung, sagt Achuil Malik Bangol. Der Sozialwissenschaftler hat für die neue Regierung ein Konzept erarbeitet, das die Basis für eine neue Friedensordnung werden soll.

    "Im Südsudan leben über 63 Nationalitäten mit eigener Sprache und Kultur. Diese sehr unterschiedlichen Gemeinschaften haben entschieden, einen eigenen Staat zu gründen und ein Volk zu werden. Welche Faktoren bringen uns zusammen? Wenn wir Frieden wollen, müssen wir die natürlichen Ressourcen teilen. Alle 63 Nationalitäten müssen im Parlament vertreten sein, denn die Quelle unserer Gesetzgebung sind unsere Kultur und unsere Werte."

    Wer in einer globalisierten Welt keine Kulturkriege, sondern Frieden will, darf Völker nicht mehr als ethnische oder religiöse Gruppen definieren, sondern als Willensgemeinschaften freier, gleichberechtigter Bürger.

    Die Serie im Überblick:

    "Clash of Cultures" - Neue Kulturkonflikte