Donnerstag, 25. April 2024

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Selma Jezkova
Der Horror einer Eltern-Kind-Beziehung als Kammeroper

Die Oper Selma Ježková nach Lars von Triers Film "Dancer in the Dark" bleibe eindimensional hinter der Vielschichtigkeit des Trier-Sujets zurück. Den bitterbös entlarvenden Blick auf die Diskrepanz zwischen Realität und Show-Bizz bleibe Ruders Kammeroper gänzlich schuldig, rezensiert Wolf-Dieter Peter.

Von Wolf-Dieter Peter | 27.06.2015
    Regisseur Lars von Trier erhält den Filmpreis Köln.
    Regisseur Lars von Trier lieferte mit "Dancer in the Dark" die Vorlage zur Kammeroper "Selma Ježková" (imago/Sven Simon)
    Diesem schmerzlichen Orchesterzwischenspiel geht ein reizvoll schöner Einstieg voraus: Gleichsam in Reihe 1, mit dem Rücken zum Publikum sitzen Selma und ihr Sohn Gene im Kino. Oben auf der Leinwand flimmert ein Schwarz-Weiß-Film: In ihm kommt zu knisternder Ballroom-Music der 1930er-Jahre eine Wiedergeburt von Carlos Gardel als weiß gekleideter Latin Lover und führt eine Lady zum finalen Traumtanz – es ist Norbert Graf, ein Danseur Noble des Bayerischen Staatsballetts, in den herrlich irreal fremd wirkenden Ionischen Sälen des Münchner Nationaltheaters. Dann setzt das auf dem Podium der Alten Kongresshalle sitzende Münchner Kammerorchester unter Dirigentin Oksana Lyniv ein. Der Däne Poul Ruders hat eine überwiegend düstere, mal dissonant wuchtig dramatische, mal leise klagende, insgesamt hörbar "zugängliche" Musik komponiert.
    Zusammen mit seinem Librettisten Henrik Engelbracht erzählt er in fünf Szenen ganz linear von Selmas harter Arbeit in einem Presswerk; sie flieht in die Traumwelt ihrer Film-Songs, macht Arbeitsfehler und wird gekündigt; fast manisch fixiert, hat sie Geld für die Augenoperation ihres gleichfalls erblindenden Sohnes gespart; als sie beraubt wird, erschießt sie den Polizisten, verteidigt sich nicht und wird dafür nach kurzem Prozess gehängt. Das hat Regisseur Andreas Weirich mit den sechs Solisten und wenigen Requisiten klar inszeniert – gipfelnd in dem nach der Todesstrafe geifernden Staatsanwalt, den Tenor Kevin Conners zu einem gespenstischen Wiedergänger von Peter Sellers "Dr.Seltsam" im Rollstuhl machte. Auf der sonst leeren Spielfläche dreht sich der von Marie Pons entworfene Raumkubus und ist mal Wohnwagenzuhause, mal Gefängniszelle. Den klagend schönen Weltabschiedsgesang Selmas "Ich folge meinem Herzen" hat Weirich entgegen den Szenenanweisungen zu einem fast versöhnlichen Ende uminszeniert: Selmas Film-Traumtänzer tritt nun real auf und nimmt sie in die Arme; sie schlüpft in sein weißes Jackett und geht mit ihm wie ein neuer Engel davon – was die litauische Sopranistin Ausrine Stundyte auch bewegend sang:
    Kammeroper zugänglicher als "Dancer in the Dark"
    Für alle, die Lars von Triers "Dancer in the Dark" mit dem isländischen Multitalent Björk als Selma nicht erlebt und seine grausig realistische Hinrichtungsszene nicht durchlitten haben, ist Poul Ruders Kammeroper ein gut zugängliches, weil nicht modernistisch verstiegenes Werk. Doch es bleibt gleichsam eindimensional hinter der Vielschichtigkeit des Trier-Sujets zurück: Wort wird die Maloche im Presswerk eindringlich vorgeführt; um Selma wie den räuberischen Polizisten wird der Under-dog-Mief der amerikanischen "working-poor" deutlich; der Show-Charakter in US-Gerichtssälen wird vorgeführt, schließlich der Horror der Todesstrafe – und all das kontrastiert Lars von Trier mit dem "American Dream" aus der Traumfabrik Hollywood: Selmas abnehmende "Welt-Sicht" lässt sie ja die auch rhythmischen Geräusche der Realität immer wieder in hinreißende "Sing'n-Dance"-Nummern der grandiosen Musical-Filme verwandeln – diesen bitterbös entlarvenden Blick auf die Diskrepanz zwischen Realität und "Show-Bizz" als Opium fürs gemeine Volk – den bleibt Ruders Kammeroper gänzlich schuldig.