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Sem-Sandberg: "Die Erwählten"
Das Grauen vom Spiegelgrund

Im österreichischen Kinderkrankenhaus Am Spiegelgrund wurden Kinder zwischen 1940 und 1945 schmerzhaften Experimenten ausgesetzt und zu Tode gequält. Der schwedische Schriftsteller Steven Sem-Sandberg beschreibt in seinem neuen Roman "Die Erwählten" diesen dunklen Ort, der für den Schrecken der NS-Kindereuthanasie steht.

Von Martin Lüdke | 17.01.2016
    Der schwedische Schriftsteller Steve Sem-Sandberg auf der Frankfurter Buchmesse 2011.
    Der schwedische Schriftsteller Steve Sem-Sandberg (picture alliance / Erwin Elsner)
    Es gibt Situationen, die dem Menschen die Sprache verschlagen. Es gibt auch Situationen, vor denen die Sprache versagt. Sprachlos steht der Mensch dann vor dem Grauen.
    Am 15. Juni 1946 begann in Wien der sogenannte Steinhofprozess, gegen drei Ärzte des Kinderkrankenhauses Am Spiegelgrund. Einer der Ärzte, der letzte Direktor dieser Anstalt, Doktor Illing, wurde in diesem Verfahren zum Tode verurteilt und auch hingerichtet. Sein Stellvertreter, Doktor Groß, ein - Verzeihung! - Dreckschwein allererster Ordnung, nach Kriegsende in russischer Gefangenschaft erst einmal vor den Nachstellungen der österreichischen Justizbehörden geschützt, konnte sich auch nach seiner Heimkehr trickreich, in zwei Prozessen, der strafrechtlichen Verfolgung entziehen, bis zu seinem Lebensende. Er wurde sogar noch Chefarzt der Klinik und bestellter Gerichtspsychiater, und starb erst im hohen Alter, am 15. Dezember 2005 mit 91Jahren. Anna Katschenka, von der Presse Kronzeugin genannt, eine der leitenden Krankenschwestern, wurde am zweiten Verhandlungstag vernommen und, unter dem Jubel des Publikums, noch im Gerichtssaal verhaftet, später unter Mordanklage gestellt und in einem folgenden Prozess zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Die anderen Schwestern, die hunderte von Kindern "abgespritzt" oder zu Tode gequält hatten, waren nicht aufzufinden. So verläpperte sich mit jedem Tag, den die Naziherrschaft weiter in die Vergangenheit rückte, jedes Bemühen, wenigstens nachträglich die ungeheuerlichen Verbrechen, wenn schon nicht zu sühnen, so doch wenigstens öffentlich zu machen. Das war in Deutschland so, und ebenso in Österreich. Nicht Rückschau, Wiederaufbau war angesagt. Der Blick wurde in die Zukunft gerichtet.
    "Was hat es für einen Sinn, in der Vergangenheit zu graben, wir müssen lernen nach vorn zu blicken. Es gibt eine Art Vergessen, sagt Adrian Ziegler, die nicht dasselbe ist wie sich nicht mehr zu erinnern, sondern sie ist so, als sei das Gehirn verstummt."
    Schwestern wie Ärzte quälten die Kinder
    Die eigentlichen Opfer dieser Verbrechen blieben ohnehin stumm, diese gedemütigten und geschundenen Kreaturen, die gequält worden waren, gemartert, ohne Betäubung wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Untersuchungen ausgesetzt, Kinder jeden Alters, vom Säugling bis zum ausgewachsenen Jugendlichen, sie sind schließlich, bis auf wenige Ausnahmen, in die Vernichtungsanstalten überführt oder gleich an Ort und Stelle umgebracht worden. Einige der Eltern konnten in dem Prozess gegen die Ärzte, meist nur unter Tränen, etwas von den Gräueln berichten, denen ihre Kinder dort Am Spiegelgrund ausgesetzt waren. Doch ahnten diese Eltern kaum etwas von dem wahren Ausmaß des grauenhaften Geschehens. Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden der Realität des Spiegelgrunds bei Weitem übertroffen. Mit oft teuflischen Freude quälten Schwestern wie Ärzte die ihnen hilflos ausgelieferten Kinder. Der nie offen ausgesprochen Zweck des ganzen Unternehmens war schließlich die Vernichtung des unwerten Lebens. Dazu hatte ihnen der Führer selbst einen Freibrief ausgestellt.
    "Dieses Rundschreiben trägt (...) die persönliche Unterschrift des Führers, (...) deshalb ist
    es im juristischen Sinn vom gleichen Gewicht wie ein bereits geltendes Gesetz. (...) Keiner von uns ist persönlich verantwortlich zu machen. (...) Es gibt keinen Anlass, Schuld zu empfinden."
    Unvorstellbares Leid
    Sie hatten also nichts zu befürchten. Noch die grausamste Handlung war gedeckt. Rassenwahn als Staatsraison. Adrian Ziegler, die eigentliche Hauptfigur, also tatsächlich der Held dieses Romans, stammte von Zigeunern ab. Das heißt: Er hatte keine Chance, aus dem Teufelskreis auszubrechen, in dem ihn die Annahmen der Rassenlehre gefangen hielten. Denn Zigeuner sind schließlich, wie diese Forschung belegt zu haben meinte, aufgrund ihrer Herkunft, verschlagen und unehrlich und hemmungslos triebgesteuert, das heißt, sie sind nach Möglichkeit von der Volksgemeinschaft fernzuhalten. Die arglosen Volksgenossen, die natürlich nicht mit der Niedertracht dieser skrupellosen Zigeuner rechnen, sind vor solchen Gestalten wie Adrian Ziegler um jeden Preis zu schützen. Dementsprechend wurde bei diesem armen Jungen durchgegriffen. Sein anfänglicher Gehorsam nützte ihm nichts, im Gegenteil. Er wurde als perfide Verstellung gedeutet. Seine leisen Versuche, offensichtlich falsche Behauptungen zu korrigieren, wurden als Aufmüpfigkeit betrachtet. Sein zaghaftes Aufbegehren schließlich als offener Aufruhr. Mit seinem ersten Fluchtversuch bestätigte er endgültig die gutachterlichen Urteile. Das heißt: Mit jedem Wimpernschlag zementierte dieser Junge seine Situation. Er galt als unverbesserlich und so wurde er behandelt. Er hatte keine Chance. Aber er überlebte. Seine Patientengeschichte lässt sich durch Krankenblätter, Protokolle und Gutachten gut belegen. Die Geschichte der Institutionen, die er durchlaufen hat, ist ebenfalls dokumentiert. Ebenso die Karrieren des Personals, der Krankenschwestern, die ihn betreuten, der Ärzte, die ihn behandelt haben. Selbst die Schicksale, der Kinder, die mit ihm gemeinsam Am Spiegelgrund aufwuchsen, sind rekonstruierbar. Doch kein Archiv erzählt von dem unvorstellbaren Leiden, das die Ärzte und Schwestern den Kindern zugefügt haben, und, wohl unvermeidlich unter solchen Bedingungen, die Kinder sich auch noch gegenseitig. Nirgends sind ihre Fantasien, ihre Ängste, ihre Hoffnungen festgehalten. Kein Bild zeigt den Schrecken in ihren Augen. Kein Wimmern ist zu hören, kein Röcheln und erst recht keine Schreie.Wie auch? Denn hier schweigen die Dokumente.

    Steve Sem-Sandberg wurde 1958 in Oslo geboren. Bereits mit 18 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Roman ("Sländornas värld"). Er arbeitete lange Jahre als Kulturredakteur des "Svenska Dagbladet". Seit einigen Jahren lebt er in Wien und Stockholm. Unterdessen hat er fast zwanzig Bücher geschrieben, darunter, 1996, "Theres", einen Roman über Ulrike Meinhof, der 2012 auch auf deutsch erschienen ist und nicht mit allzu großer Begeisterung aufgenommen wurde. Er schrieb, 2003, "Ravensbrück", einen Roman über Kafkas Freundin Milena. Und schließlich, 2009, "Die Elenden von Lodz", 2011 mit beachtlichem Erfolg auch bei uns erschienen. In Schweden mit seinen gut neun Millionen Einwohnern wurde dieser Roman über den Vorsitzenden des Judenrats im Ghetto von Lodz, der deutsche Name war Lietzmanstadt, Mordechai, über hunderttausend Mal verkauft. Rumkowski ist bis heute umstritten. Für die einen war er ein Kollaborateur und Verräter, ein menschliches Ekel und ein Päderast dazu. Für die anderen ein besonnener und mutiger Kämpfer. Er glaubte, umso nützlicher sich die Bewohner des Ghettos für die Nazis machten, und damit unentbehrlicher, desto größer war ihre Chance zu überleben. Er irrte und wurde zu einer tragischen Gestalt. In Lietzmannstadt realisierte sich die faustische Dialektik: ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. In der Wiener Anstalt Am Spiegelgrund wurde, von einigen Ambivalenzen abgesehen, nur noch das Böse verwirklicht. Doch angesichts des immensen Leidens der Kinder in Wien und der Juden in Lodz, versagt ohnehin jeder Vergleich. Es bleibt – das Verstummen.
    Chaim Rumkowski im Ghetto Litzmannstadt
    Chaim Rumkowski im Ghetto Litzmannstadt (United States Holocaust Memorial Museum)
    "Mir fällt zu Hitler nichts ein". Mit dieser starken Behauptung begann Karl Kraus "Die dritte Walpurgisnacht", seine 1933 geschriebene und immerhin dreihundert Seiten umfassende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Es war sein Versuch, sich über die Sprachlosigkeit angesichts des aufgezogenen "Übels" Rechenschaft abzulegen. Es war ein ähnlicher Gedanke, der Theodor W. Adorno nach dem Zusammenbruch der Nazi-Herrschaft und der Aufdeckung ihrer unfassbaren Verbrechen, zu der einst oft geschmähten und heute fast schon vergessenen Aussage bewogen hat:
    "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es heute unmöglich ward, Gedichte zu schreiben."
    Denn, so die zugrundeliegende Annahme Adornos:
    "Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten."
    Doch Nelly Sachs etwa, die im schwedischen Exil lebende deutsche Dichterin, vor allem aber Paul Celan, nicht nur mit seiner "Todesfuge", haben Adorno zu einer Korrektur seiner apodiktischen Aussage gedrängt. Es war eine Poesie am Rande des Verstummens entstanden, die etwas von dem zur Sprache gebracht hatte, was nicht ausgesprochen werden konnte. Hier, genau hier, hat Sem-Sandberg auch seine Möglichkeiten erkannt, dem Dilemma, vor das ihn sein Stoff gestellt hat, zu entkommen. "Die Elenden von Lodz" sind ebenso wenig wie "Die Erwählten" eine Dokumentation oder ein Dokumentar-Roman, auch keine Doku-Fiktion, wie sie in jüngster Zeit vom Fernsehen entwickelt wurde. Sem-Sandbergs Romane beschreiben etwas, was sich eigentlich nicht beschreiben lässt. Schweigen scheint angesichts des Geschehens, von dem sie berichten, die einzig angemessene Reaktion. Doch weil es Sem-Sandberg um Wahrheit geht, macht er das Schweigen beredt. Er verwandelt die Dokumente in den Stoff seiner Handlung. Er rekonstruiert aus dem vorhandenen Material, das er nach ästhetischen Gesichtspunkten arrangiert, seine Geschichte. Die Dokumente werden damit zur Fiktion und die Fiktion erzählt auch das, was nicht dokumentierbar ist: die Wahrheit des Geschehenen.
    Sem-Sandberg zielt auf die Wahrheit des Geschehens
    Sein Verfahren lässt sich mit dem Sartres in dessen Monumentalbiografie Flauberts, "Der Idiot der Familie" vergleichen. Auch Sartre ersetzte in einer Konstruktion, die er "Totalisierung" nannte, fehlende Fakten durch Fiktion. Wohlgemerkt durch diese "Totalisierung" hindurch. Dabei wird das reale Geschehen in eine Fiktion verwandelt.
    Das heißt hier, die Wirklichkeit, die sich in diesen beiden Romanen zeigt, ist nicht von Sem-Sandberg gefunden, sondern erfunden worden. Worauf Sem-Sandberg hier zielt, ist die Wahrheit des Geschehens. Das heißt, er stützt sich zwar wie ein Reporter auf Gesprächsprotokolle, auf Prozess-Akten und Dokumente, auf Krankenblätter und Gutachten. Aber darauf verlässt er sich nicht. Denn das, worauf es allein ankommt, das lässt sich nicht begutachten und dokumentieren: das Leiden der Menschen, ihre Ängste und manchmal auch Hoffnungen, ihre Qualen, ihre Schmerzen.
    Der Vater von Julius Becker war ein hoher Jurist in der letzten demokratischen Regierung Österreichs und hatte sich dagegen ausgesprochen, Nazi-Aufrührer aus dem Gefängnis zu entlassen. Nach der Machtübernahme der Nazis wurde er selbst im Gefängnis gesteckt und seine Frau zur Zwangsarbeit verpflichtet, ihr Sohn Julius am Spiegelgrund untergebracht. Dort erhielt er von einem Onkel in größeren Abständen Pakete. Essen, Kleidung, aber auch Wundsalbe und Pflaster, zum Ärger der Schwester Mutsch, die eines Tages eigenmächtig beschloss, der Schenkerei ein Ende zu setzen.
    "Fünfzehn Kinderaugenpaare folgen Schwester Mutsch, wie sie mit entschiedenen Handgriffen die Schere ans Papier setzt, die derbe Schnur aufschneidet, die beiden Deckelhälften auseinanderbiegt und die Hand hineinsteckt. Das Paket ist so groß, dass ihr Unterarm vollkommen darin verschwindet. Sie holt ein paar kleine Gläser mit kandierten Aprikosen und Birnen heraus, öffnet eins, formt Daumen und Zeigefinger der rechten Hand zu einer Art Pinzette und zieht eine Birnenhälfte aus ihrem grauen sämigen Sud, stopft sie sich in den Mund, stopft dann auch die Finger hinterher und lutscht den süßen Saft begierig ab."
    Und so weiter. Und so weiter. Julius saß erschrocken wie alle anderen Kinder in seiner Bank, ohne zu begreifen, was da vor sich ging. Als Schwester Mutsch alles aufgegessen hatte, holte sie noch den Rest, darunter Strümpfe, Taschentücher, Schnürsenkel aus dem Paket. Erst jetzt fängt Julius an zu zittern.
    "Fängt er langsam an zu zittern. Es ist ein seltsames Zittern: Es beginnt ganz oben am Körper, am Kopf und den Schultern (...setzt sich nach unten fort), die Oberschenkel beben, und auf dem Fußboden klappern die Füße wie zwei Schlegel. Schwester Mutsch fixiert ihn mit dem Blick: Willst Du aufs Klo?"
    Er ist unfähig zu antworten. Es folgt eine demütigende Prozedur. Sie begleitet ihn zur Toilette. Doch danach verstärkt sich das Zittern nur noch. Bald darauf kommt Becker in die Strafzelle des Pavillons. Eines Tages schafft er es, eine Schere zu klauen. Er scheint verwirrt. Fantasiert. Dann steht Schwester Mutsch wieder einmal vor ihm, beugt sich drohend über ihn, spuckt ihm ins Gesicht und brüllt:
    "Du Schwein. (....) Du hast kein Recht zu leben. Entweder wir schaffen dich zu den Idioten oder du kriegst sofort hier vom Doktor eine Spritze.
    Dem Jungen schwinden die Sinne.
    Und die Schere ist keine Schere mehr. Sie schwebt in dem blauen Licht wie alle anderen Dinge schweben, er muss sie schnell herunterholen (...) PENG PENG PENG PENG!, und Julius hebt die Schere hoch in die Luft und stößt sie sich mit beiden Händen direkt ins Zwerchfell, nur damit sie still sind. Und still wird es. (...) Allein das Geräusch des Blutes ist zu hören, das von der Bettkante auf den Boden läuft."
    Julius hatte sich, um der Quälerei ein Ende zu machen, selbst umgebracht. Die meisten anderen Kinder wurden ermordet. Die Klinik war ein ergiebiges Experimentierfeld für die Ärzte. Weil die Kinder zum Beispiel unmittelbar nach einer Enzephalografie obduziert werden konnten, ließen sich die Befunde der Untersuchungen auch gleich verifizieren. Oft ahnten die Kinder, wie ein Tier intuitiv, dass ihre letzte Stunde gekommen war. Und die anderen Kinder ahnten es auch.
    Ein besonders brutales Rezept hatte sich das medizinische Personal gegen Bettnässer ausgedacht. Die Kinder wurden zwar nicht, wie der kleine Hannes scherzend zu Jockerl, einen Betroffenen, meinte, im Heizkraftwerk des Spitals verbrannt. Jockerl wurde bei dieser Nachricht schon leichenblass.
    "Bleich, wie morgens, wenn sie ihn aus der Wanne hievten oder ihm eine Wickelkur verpassten, ich werde das nie vergessen, sagte Adrian: Sie rollten ihn in nasse Handtücher und ließen ihn so lange in dem kalten Gang stehen, bis die Handtücher getrocknet waren. Vierzehn Stunden dauerte das."
    Angeblich ein Patentrezept. Auch Adrian Ziegler, unserem Zeugen, der zentralen Figur der "Erwählten", um dessen Entwicklung herum sich das andere Personal gruppiert, Kinder, Schwestern, Ärzte, seine Familie, auch Adrian bleibt wenig erspart. Er durchläuft fast alle der Prozeduren, die in diesen Institutionen ersonnen worden waren.
    Bei der Lumbalpunktion wird das Kind (und hier wird der Sinn des Wortes Patient voll ausgeschöpft) in einer an sich schon schmerzhaften Haltung fixiert. Dann wird –
    "die lange Nadel in den Bereich der Lendenwirbelsäule gestochen und ganz langsam Nervenwasser entnommen (...) Die Haut des Kindes wird fahl, verfärbt sich bläulich, als wäre ihm etwas im Hals steckengeblieben und es ersticke langsam; dann wir die Haut ebenso rasch rot, und die Augen quellen hervor, weiß vor Entsetzen, wenn der Schmerz ihm mit tausend Messern durch den Schädel fährt. Die Schwester steht schon mit der Emailleschüssel bereit, das Kind aber kann den Körper immer noch nicht bewegen: Der Mageninhalt spritzt ihm aus dem Mund, es versucht zu schreien, den Schrei aber erstickt der Magensaft, der ihm nach wie vor aus der Kehle flutet. Alle Organe des Körpers sind nun entblößt (...) und Luft wird in den Rückenmarkskanal gepumpt, steigt zum Gehirn hoch, das, seiner Flüssigkeitshülle beraubt, das nun ohne Schutz ist, und das Licht wird weiß, als hätte man die Wirklichkeit aus der Welt weggeätzt."
    Aus Versatzstücken der Wirklichkeit entwirft Sem-Sandberg seine mächtige Fiktion
    Immer wieder, wie bei diesem Verfahren, rückt Adrian Ziegler rückt ins Zentrum des Geschehens. Auch sein weiterer Lebensweg nach dem Krieg wird noch ausführlich beschrieben. Der Erzähler beruft sich oft ausdrücklich auf Adrian:
    "Sagt er", "Sagte er", "Sagte er später" –
    heißt es immer wieder. Und doch wird Adrian Ziegler keine Identifikationsfigur. Sem-Sandberg entwirft ein weites Panorama, aus einzelnen kleinen Mosaiksteinchen. Adrian ist darauf deutlich zu erkennen. Aber es geht um die Geschichte einer Leidensgemeinschaft und die ihrer Peiniger, in unzähligen kleinen Abschnitten erzählt, oft nur ein, zwei Seiten lang. Häufige Perspektivwechsel, in denen sich subjektive Empfindungen, nüchterne Berichte sowie fantastische Vorstellungen, die aus der Hoffnungslosigkeit der Situation geboren sind, mit Rückblenden und Vorgriffen mischen. Dazu kommen Gerichtsprotokolle, Dokumente, Gutachten. Aus diesen vielen, kleinen Versatzstücken der Wirklichkeit entwirft Sem-Sandberg seine mächtige Fiktion. Wir, die Leser, werden in diesen Sog, der dabei entsteht, hineingezogen. Rückblenden erinnern uns immer wieder an Figuren, die längst tot sind, den kleinen Felix etwa, der immer stundenlang auf dem alten Klavier und nur auf den schwarzen Tasten seine Kinderlieder spielt. Wir sehen Jockerl wieder, wie er schikaniert wird, oder den Streichler-Otto, der jede Hand, die er erreichen konnte, packt, und sich, kaum abzuschütteln, an sie klammert. Auch Julius mit seiner Schere taucht immer wieder aus den Erinnerungen auf. Und das Personal. Die Schwestern. Die Ärzte. Vor allem dieser Doktor Groß. Wir spüren ihn geradezu, den verlogenen Schmelz des Wiener Dialekts. In einem Strafprozess gegen Adrian Ziegler tritt Doktor Groß noch einmal auf, mit seiner ganzen Perfidie. Dieser Arzt könnte auch bei besonnenen Gemütern als Plädoyer für die Todesstrafe empfunden werden. (Zur Erinnerung: Sein Chef, Doktor Illing, weit humaner als er, wurde 1946 hingerichtet.)
    Sem-Sandberg versteht es, eine vermeintliche Unmittelbarkeit zu erzeugen. Die raffinierte Konstruktion seines Romans präsentiert die Geschichte als einfachen Bericht. Mit Schicksalen, die uns ergreifen, mit Situationen, die uns die Schamröte ins Gesicht treiben. Mit einer emotionalen Dichte, die uns in manchmal vor Wut beben lässt und öfter noch die Tränen in die Augen treibt.
    Steve Sem-Sandberg: Die Erwählten.
    Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek.
    Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 2015, 525 Seiten, 26,95 Euro