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Serie: Woher kommt die Energie?
"Die Energie zum Komponieren kommt durch Beherrschung"

"Das Komponieren ist ein Austausch mit Kunst, mit Philosophie, was man gerade liest oder was man gerade sieht in der Natur", erklärt Nicolaus A. Huber im Dlf. Der beinah 80-Jährige ist immer noch einer der produktivsten Komponisten unserer Zeit - und seine schöpferische Energie ungebrochen.

Nicolaus Huber im Gespräch mit Dina Netz | 24.07.2017
    Portrait von Bertolt Brecht (1898-1956) des Malers Rudolf Schlichter (1890-1955). München Staatsgalerie 1926
    Ähnlich wie Bertolt Brechts "philosophisches Volkstheater" kann Musik komplexe Inhalte leicht verständlich zugänglich machen, meint der Komponist Nicolaus A. Huber. (imago / Leemage)
    Dina Netz: Erneuerbare Energien kommen, im üblichen Sprachgebrauch, aus der Steckdose, aber die Wirtschaftssendung liegt hinter uns, und in "Kultur heute" soll es jetzt um eine andere Art des Stroms gehen, nämlich um kreative Energien – woher sie kommen, wie man sie fassen kann und wohin sie gehen. Wir wollen den Sommer hindurch in einer Gesprächsreihe über die vielen verschiedenen Formen von Energie sprechen. Und mein energischer Gesprächspartner heute ist Nicolaus A. Huber. Das ist durchaus ernst gemeint, denn Nicolaus A. Huber ist Jahrgang 1939, geht also auf die 80 zu, ist aber immer noch einer der aktivsten und produktivsten Komponisten unserer Zeit. Er hat so ziemlich alle musikalischen Gattungen bedient, von Kammermusik bis Szenischer Musik, von Experimenteller Musik bis hin zur Politrevue. Um einen Eindruck zu bekommen, wie Nicolaus A. Hubers Musik klingt, hier ein Ausschnitt aus seiner Komposition "Mit etwas Extremismus" von 1991.
    ((Einspieler))
    "Ein Gegenausdrucksmodell zu Cage"
    Ein Ausschnitt aus Nicolaus A. Hubers Komposition "Mit etwas Extremismus". Herr Huber, Ihre Musik klingt auf jeden Fall immer energiegeladen. Um welche Form von Energie ging es Ihnen in dieser Komposition?
    Nicolaus Huber: Also wenn Sie nach den Formen der Energien sprechen, dann würde ich sagen, ist das, was man gehört hat, erst mal ein Gegenausdrucksmodell zu Cage. Es bezieht sich auf einen Rhythmus aus der "Fünften Sonate" von Scriabin, der sozusagen ein Ekstatiker war, und die Energien, die kommen, die sind eigentlich gespalten, denn es wird gesprochen, es wird in einem Crescendo, einem Stufencrescendo gesprochen, und es wird verkündet, wie auf einem Marktplatz eigentlich, nicht wie einem Konzertsaal, wo man ernst zuhört, und das Ganze ist gleichzeitig auch als Frage gemeint, denn das Übrige bezieht sich natürlich auch auf John Cage.
    Netz: Eine Reibung mit John Cage entsteht also in gewisser Weise, Herr Huber. Sie haben mal selber gesagt, Ihre Art zu komponieren, die sei dialektisch. Entsteht dann da Energie aus dem Widerspruch, aus der Auseinandersetzung mit etwas?
    Huber: Ja, ich glaube schon, dass da Energie entsteht. Allerdings ist das, glaube ich, nicht so sehr eine dialektische Energie, weil beim dialektischen Widerspruch ist es ja so, dass die Widersprüche sehr eng verzahnt sind und man eigentlich davon ausgeht, dass ein Objekt als solches gar kein Anfang und Ende hat, also eigentlich kein Objekt ist, sondern es wächst, es entsteht, es bleibt etwas und vergeht wieder, während diese Dinge in der Musik, die ja praktisch immer ganz objekthaft sind, vor allem mit Anfang und Ende, eben wie eine Dauer oder ein Rhythmus vorgeschrieben ist, dieses Widersprüchliche, und Wachsen ist eigentlich eher dann im Kopf oder im Körper des Zuhörers.
    "Philosophisches Volkstheater"
    Netz: Ist Ihnen das wichtig, dass Sie da irgendetwas, ein Spannungsfeld, eine gewisse Energie beim Hörer freisetzen oder worauf zielen Sie mit Ihrer Musik?
    Huber: Das ist sehr wichtig. Das ist ja nicht nur ein Spannungsfeld, sondern das sollen auch Inhalte sein. Also es ist nicht einfach nur eine bloße Spannung, die man irgendwie in Zahlen messen könnte, sondern damit werden ja Inhalte transportiert, die sozusagen, ich würde fast denken: Es war für mich immer ein Prinzip, so ähnlich wie Brecht gesagt hat, ein philosophisches Volkstheater, also etwas, was man leicht verstehen kann, wird durch Zusammensetzen zu einem komplexeren Gebilde, aber diese Komplexität, das ist nur ein Angebot. Man muss es lesen oder hören können oder auch wollen.
    "Die Unabhängigkeit im schöpferischen Akt behalten"
    Netz: Wie ist es denn überhaupt zu komponieren in einer Zeit, in der selbst Stille schon zu Musik gemacht worden ist? Das stelle ich mir ja nicht ganz einfach vor. Welche Energie braucht man, um überhaupt noch etwas Neues zu schaffen?
    Huber: Also wie ich aufgewachsen bin in der Darmstädter Schule, das war also noch das Serielle und danach das Nachserielle, da war das so, dass durch die Unabhängigkeit der Töne, die den Schönberg’schen Tonraum bestimmt haben, die Vereinzelung, die punktuelle Musik und überhaupt die Vereinzelung eine große Rolle gespielt hat, und da hat natürlich auch mitgespielt, dass man als Komponist nicht wiederholt, und ich kann mich erinnern, 69 müsste das gewesen sein, in Darmstadt ist die "sequenza per oboe solo" von Berios aufgeführt worden oder vielleicht sogar uraufgeführt, und da gibt es einen Ton, der durch die ganze "sequenza" hindurch bleibt, und ich habe dann nachher einem Kollegen erzählt, dass ich gerade an einem Stück arbeite, wo es einen Sinuston gibt, der durch das ganze Stück hindurchgeht, und dann hat er gesagt, na ja, das kann man jetzt, glaube ich, nicht mehr machen, das hat Berios schon verbraucht. Das heißt, man hat gar nicht mehr nach Differenzierungen gefragt, sondern langer Ton durch das ganze Stück hindurchgehen, das hat eigentlich schon als Abstraktum gereicht, um höllisch aufzupassen, dass man nicht etwas verdoppelt. Also man wollte praktisch diese Unabhängigkeit auch im schöpferischen Akt behalten, dass man denkt, was einer schon gemacht hat, das darf man kein zweites Mal machen.
    Netz: Das geht gar nicht, aber wie lösen Sie dieses Dilemma bis heute?
    Huber: Na ja, also man geht davon aus, dass das Komponieren eine Wechselwirkung ist, ein Austausch ist mit allem Möglichen, also mit Kunst, mit Philosophie, was man gerade liest oder was man gerade sieht in der Natur, also wie sich vielleicht Blätter bewegen und so weiter, und dass aufgrund dieses Austausches Dinge in der Musik sind, die man erkennen kann, wenn man genug Erfahrung hat – das meine ich als Hörer oder jemand, der die Partitur liest oder spielt -, aber andererseits dann auch genug Eigenständigkeit in der Behandlung von diesen Dingen drinnen ist. Wenn das nicht so ist, dann ist es epigonal, und, na ja, dann sollte man das Komponieren aufhören, wenn man dieses Gefühl hat, und wenn man Mut hat, soll man weitermachen.
    "Unabhängigkeit und Gleichberechtigtkeit der Töne"
    Netz: Sie haben Berios schon erwähnt. Ich glaube, eine andere wichtige Person in Ihrer Biografie ist Luigi Nono, bei dem Sie studiert haben. Der galt ja als eher schwierig. Welche Energien brauchten Sie im Umgang mit ihm beziehungsweise auch andersrum, Herr Huber: Welche Energien hat Nono denn bei Ihnen freigesetzt?
    Huber: Sehr viele, denn Nono war ja Marxist, und ich kannte Marx damals nicht, und Nono hat sozusagen auf die Konzeption des musikalischen Materials die historische Analyse angesetzt oder angelegt, und das war für mich vollständig neu. Er ging also nicht einfach nur vom Schöpferischen aus, sondern dass eine bestimmte Behandlung von Tönen, wie sozusagen im Grundsatz der Zusammenhang gewährleistet ist, eine bestimmte Art von Lautstärken braucht und bestimmte Arten von Spielweisen, also wie ich rhythmisch mit den Tönen umgehe oder wie die Finger sich mit den Tönen auf dem Instrument beschäftigen, und da habe ich eigentlich erst gelernt, wie man umgeht oder versuchen soll umzugehen, zu erfinden, wie man mit dieser Unabhängigkeit und Gleichberechtigtkeit der Töne umgeht.
    "Man vergisst die Zeit"
    Netz: Wie geht das denn mit Ihrer eigenen Kompositionsenergie bis heute, Herr Huber? Stehen Sie morgens auf, gucken auf Ihren Ergometer und sehen da, ah, heute ist ein guter Kompositionstag - oder woher kommt diese Energie fürs Komponieren? Ist die jeden Tag da, können Sie die abrufen?
    Huber: Die Energie zum Komponieren kommt durch Beherrschung. Also es gibt natürlich Tage, wo man nicht gern arbeitet, so gibt es auch Tage, wo man nicht gern komponiert. Das Verrückte ist, in dem Moment, wo man irgendetwas entdeckt oder heraushört aus dem, was man schon gemacht hat, wird man einfach gefangen. Man vergisst die Zeit, man denkt an nichts mehr, sondern man ist nur noch beschäftigt mit dem, was gerade sozusagen in einen Körper oder in das Gehirn gefahren ist. Also da vergisst man, egal ob man schlecht geschlafen hat oder frisch ist, das vergisst man dann.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.