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Sevim Dagdelen zu Visa-Freiheit für Türkei
"Nur Wahnsinnige konnten diesen Deal abschließen"

Die Linken-Abgeordnete im Bundestag, Sevim Dagdelen, befürchtet, dass sich durch den Rückzug des türkischen Ministerpräsidenten Davutoglu die Situation in der Türkei weiter zuspitzen wird. Unter den aktuellen Umständen hält sie die geplante Visa-Liberalisierung als Teil des EU-Türkei-Deals für unverantwortlich. Damit leiste die EU schlicht Wahlkampfhilfe für die "Präsidialdiktatur" von Staatschef Erdogan.

Sevim Dagdelen im Gespräch mit Sandra Schulz |
    Die Abgeordnete der Partei Die Linke, Sevim Dagdelen, spricht am 05.06.2014 im Deutschen Bundestag in Berlin zur Debatte um Staatsangehörigkeit.
    Die Abgeordnete der Partei Die Linke, Sevim Dagdelen. (dpa / picture-alliance / Wolfgang Kumm)
    Das Interview in voller Länge:
    Sandra Schulz: Seine politische Karriere hat er im Wesentlichen einem Mann zu verdanken, nämlich dem türkischen Präsidenten Erdogan. Jetzt hat der türkische Ministerpräsident Davutoglu Präsident Erdogan ganz offenbar auch das Ende seiner politischen Karriere zu verdanken: Gestern kündigte er seinen Rücktritt an vom Amt des AKP-Vorsitzenden, und damit kann er auch nicht Ministerpräsident bleiben. Hintergrund ist ganz offenbar ein Machtkampf mit Erdogan, in dem Davutoglu den Kürzeren gezogen hat, ganz offenbar. Wir wollen in den kommenden Minuten über die Entwicklungen sprechen, am Telefon ist Sevim Dagdelen, für die Partei Die Linke Mitglied im Ausschuss des Bundestags und Mitglied der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe. Guten Morgen!
    Sevim Dagdelen: Schönen guten Morgen, Frau Schulz!
    Schulz: Wie ist es jetzt zu diesem Bruch gekommen zwischen Erdogan und Davutoglu?
    Dagdelen: Na ja, Erdogan will auf dem Weg zur Präsidialdiktatur jede noch so kleine Unsicherheit beseitigen. Und das Problem von Davutoglu in letzter Zeit war, dass er zumindest den Schein wahren wollte, als sei er ein autonomer Ministerpräsident und würde eigenständige Entscheidungen fällen. Und das war für Erdogan, der zielgerichtet Kurs auf sein Präsidialsystem übt, einfach zu viel. Und auf seinem Kurs werden eben auch selbst lange Weggefährten aus dem Weg geräumt, und auf Erdogans Schachbrett war Davutoglu nie mehr als ein Bauer.
    Schulz: Was heißt das für die Türkei?
    Dagdelen: Das heißt nichts Gutes. Der Rücktritt ist der Auftakt einer weiteren Zuspitzung der innenpolitischen Lage in der Türkei. Nicht etwa weil Davutoglu so wichtig gewesen wäre, im Gegenteil, aber Erdogan nimmt seinen Rückzug jetzt zum Anlass, um durch vorgezogene Neuwahlen die notwendige verfassungsändernde Mehrheit zur Durchsetzung seiner Präsidialdiktatur zu erlangen. Und natürlich…
    Erdogan will Präsdialsystem durchsetzen
    Schulz: Ja, das sind bisher ja Spekulationen. Frau Dagdelen, haben Sie schon Informationen, dass es tatsächlich so kommen wird?
    Dagdelen: Es deutet alles darauf hin, das sagen viele Experten, das kann man so auch beobachten. Es gibt ja auch. Das Ganze geschieht ja eben auch in Kombination oder nur in Kombination mit der Kriminalisierung der Opposition. Sprich mit der prokurdischen Partei HDP, ihnen droht jetzt akut die Aufhebung der Immunität von 49 ihrer 59 Abgeordneten, angefangen mit dem Führungspersonal. Die Schlägereien, die Bilder dieser Schlägereien haben ja auch die ganze Weltöffentlichkeit mitbekommen in der Verfassungskommission, aber auch im Parlament der Türkischen Nationalversammlung. Und das alles ist natürlich die Vorbereitung, um die Stimmung herzustellen, dass man diesmal auch tatsächlich die verfassungsändernde Mehrheit erhält. Weil, bei den letzten vergangenen zwei Wahlen im Juni und auch im November vergangenen Jahres hat die Bevölkerung die Gefolgschaft im Sinne einer verfassungsändernden Mehrheit in Richtung Präsidialdiktatur verweigert. Und Erdogan lässt so lange wählen, bis diese Mehrheit zustande kommt.
    Schulz: Aber gut, diese verfassungsgebende Mehrheit wurde verfehlt. Aber letzten Endes hat Erdogan im November zuletzt für seine AKP – oder die AKP – die absolute Mehrheit eingefahren, was ja zeigt, dass der Mann absoluten Rückhalt auch hat in seinem Land. Warum ist das denn so?
    Dagdelen: Erdogan hat Rückhalt, aber das Problem ist, dass das Präsidialsystem, was von Erdogan verfolgt wird, eben nicht auf eine große Zustimmung trifft. Und das ist ja auch das Problem. Nachdem er als Präsident im August 2014 gewählt wurde, hat er in seiner Rede auf dem Sonderparteitag der AKP erklärt, dass jetzt eine neue Ära angebrochen ist, und in dieser neuen Ära wird es einen starken Präsidenten geben und einen moderaten Premierminister. Und das war auch der Punkt, den gestern Davutoglu selbst noch mal deutlich gemacht hat: Er hat ganz oft betont, dass er als starker Premier jetzt den Stuhl verlässt. Das heißt, also, man ist nicht ganz gewillt, dieses Präsidialsystem ohne Probleme sozusagen einführen zu lassen, aber Erdogan stört das nicht, er will weitermachen. Und man muss aber eines sagen, weil die deutschen Medien alle von einem Machtkampf sprechen: Eine Auseinandersetzung hat bestimmt stattgefunden zwischen Erdogan und Davutoglu, aber von einem Machtkampf kann man nur schwer sprechen, weil Davutoglu nahezu über keine eigenständige Macht verfügt. Er verfügt im Parteivorstand lediglich über drei von 50 Stimmen. Und das zeigt, dass sein Rückhalt im Machtapparat der AKP wirklich marginal ist. Davutoglu war nur stets der willige Vollstrecker von Erdogan und ein eigenständiges Politikkonzept hat er nie verfolgt. Sein Programm hieß immer nur Erdogan.
    "Es ist verrückt zu glauben, mit Erdogan Geschäfte machen zu können"
    Schulz: Und was heißt die Entwicklung jetzt für Europa?
    Dagdelen: Na ja, wir müssen das in zweierlei Hinsicht sehen. Das eine ist die Visa-Liberalisierung jetzt, und da muss man es wirklich einmal hart formulieren: Nur Wahnsinnige konnten diesen Deal überhaupt abschließen. Weil es verrückt ist zu glauben, mit Erdogan Geschäfte machen zu können.
    Schulz: Was meinen Sie jetzt, die Empfehlung, die Visa-Erleichterung einzuführen? Die Türken frei reisen zu lassen?
    Dagdelen: Ich finde, das ist unter diesen Umständen meiner Meinung nach nicht zu verantworten. Es ist ohnehin ein schändlicher Akt mit einem offenen Rechtsbruch. Ich will hier nur ein Argument anführen: Eine der Voraussetzungen für eine Visafreiheit ist eine unabhängige Justiz. Und ich frage mich, ob die EU-Kommission in Brüssel, die offenbar von einer unabhängigen Justiz in der Türkei ausgeht, völlig naiv ist oder noch bei Verstand sein kann! Dies kann eigentlich nur jemand behaupten, der wirklich jede Lüge unterschreibt, dass die Türkei eine unabhängige Justiz hätte. Deshalb würde ich eher sagen, dass unter diesen Umständen hier die Visafreiheit nicht kommen darf. Erdogan wird das sonst nämlich im Wahlkampf für sich nutzen und es ist dann schlicht eine Wahlkampfhilfe für die Präsidialdiktatur von Erdogan.
    Schulz: Frau Dagdelen, Sie fahren jetzt rhetorisch ja scharfe Geschütze aus und waren durchaus gerade auch sehr polemisch, wobei wir der Vollständigkeit halber dazu sagen müssen, dass ja auch die EU-Kommission, die die Visafreiheit empfohlen hat, die nur unter Vorbehalten empfohlen hat, und fünf Bedingungen müssen ja noch erfüllt werden bis Ende Juni, bis zu diesem Zeitpunkt, der angepeilt ist. Jetzt wollte ich aber gerne noch mal wissen: Sie stellen sich dagegen, dass die Türken künftig visafrei nach Europa kommen können, und stellen sich damit ja durchaus in eine Linie mit der CSU. Welches Problem haben Sie damit, dass die Türken nach Europa kommen als Reisende?
    Dagdelen: Ich stelle mich nicht in eine Linie mit der CSU. Die CSU ist eine Regierungspartei im Bund, die genau diesen Deal mitverantwortet und genau die Visa-Liberalisierung unter einem offenen europäischen Rechtsbruch hier auch begeht.
    EU leistet Wahlkampfhilfe für Erdogan
    Schulz: Die CSU hat sich da gerade ganz scharf dagegengestellt.
    Dagdelen: Ja, Sie sprechen von fünf Kriterien, die erfüllt werden müssen, aber diese Kriterien, die tatsächlich dort eigentlich in den Verträgen drinstehen, die werden eben nicht erfüllt. Unabhängige Justiz, beispielsweise. Ein Land muss zum Beispiel auch seine Grenzen sichern. Schauen Sie sich die Türkei an, die Grenzen sind doch nicht gesichert! Und ich finde, unter diesen Umständen, wo die Opposition kriminalisiert wird, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden, wo es keine Presse- und Meinungsfreiheit gibt, aber einen Präsidenten, der sagt: Wer unter mit Ministerpräsident wird, ist ohne Belang, weil es nur darum geht, meine absolute Macht abzusichern – da finde ich, dass die Visafreiheit und auch die Beschleunigung des EU-Beitritts unter dem Bruch von europäischem Recht lediglich die Despotie Erdogans stärken wird. Und deshalb sage ich: Unter diesen Umständen darf es diese Liberalisierung nicht geben und es darf auch nicht eine Beschleunigung des EU-Beitritts mit der Türkei geben. Ich finde eigentlich, dass man so ein Verhalten nicht tolerieren darf. Ich erwarte, dass die Beitrittsverhandlungen sofort gestoppt werden und Erdogan nicht auch noch als Wahlkampfhilfe sozusagen dienen.
    Schulz: Sevim Dagdelen, Außenpolitikerin der Partei Die Linke, heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk in den "Informationen am Morgen". Ganz herzlichen Dank Ihnen!
    Dagdelen: Ich danke Ihnen auch, Frau Schulz!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.