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Sex und Kammermusik als Lebensformel

Hermann Peter Piwitt nimmt immer auch die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit ins Visier und spürt den tragischen, komischen und grotesken Momenten unseres Alltags nach. So auch in seinem Buch "Erbarmen".

Von Cornelia Staudacher | 06.08.2012
    Das Gespür für die absurden, grotesken, tragischen oder tragikomischen Aspekte unserer Wirklichkeit beweist Hermann Peter Piwitt einmal mehr in der Novelle "Erbarmen", einer kleinen, zunächst alltäglich anmutenden Liebesgeschichte, die um die Sehnsüchte und Selbsttäuschungen der namenlosen Ich-Erzählerin kreist und, wie sich herausstellt, so alltäglich nicht ist. Als eine "melancholische Geschichte mit glücklichem Ausgang" möchte Piwitt die Novelle trotz ihres letalen Endes denn auch verstanden wissen. Und nicht, wie man bei oberflächlichem Lesen und in Erwartung eines Happy Ends meinen könnte, als eine Bankrotterklärung an die Liebe beziehungsweise ein Eingeständnis der Liebesunfähigkeit im postmodernen Zeitalter.

    "Ich finde es eher ein tolldreistes Unternehmen. Der Tod des Mannes war nicht unbedingt geplant gewesen, aber dass es traurig endet, das war schon geplant. Und deshalb der Titel auch, der beim Leser um Nachsicht wirbt."

    Erzählt wird diese flüchtige Liebesgeschichte in den Zeiten der Reizüberflutung aus der Perspektive der namenlosen Ich-Erzählerin, einer Frau mittleren Alters, die sich nach einem abgebrochenen Studium und dem Unfalltod ihres Mannes entschlossen hat, ihren Lebensunterhalt als Taxifahrerin zu bestreiten.

    "Ja, das hat sich erst zur Hälfte des Buches eingestellt, dass ich die Rolle der Frau übernehme, dass der Ich-Erzähler also eine Frau ist. Ich war damals ein bisschen müde der Rolle des Mannes in mir. Und ich habe mir eine Traumfrau gewünscht. Und zwar hochintelligent, hübsch, tollkühn und mitleidsvoll. Und vielleicht auch unbestechlich. Und so jemand hat in der Regel bei uns nach meiner Erfahrung nur noch die Chance, entweder Hartz 4 zu beziehen oder Taxi zu fahren."

    Ich gehe jetzt auf die 40 zu, ich sagte es. Ich hatte mit meinem Leben nicht viel anzufangen gewusst. Und wieso auch? Was war Gutes daran? Sex und Kammermusik. Und nach beidem musste man sich inzwischen schon umschauen, womöglich die Hacken ablaufen, wenn man nicht in die Scheiße fassen sollte. Ich spiele ganz gut Klavier. Da stand es, seit vielen Jahren unbenutzt. Ich war hübsch genug, mir erlauben zu können zu schweigen, wenn Männer ihren Blödsinn zusammenredeten. Hatte ich Lust, schleppte ich den Passabelsten ab.

    Hendrik steigt als Fahrgast in ihr Taxi und lässt sich zur Lichtung eines Wäldchens fahren, wo er sie auffordert, mit ihm die Kleider zu tauschen. Sie lässt sich auf das Spiel ein und findet ein kindliches Gefallen daran. Obwohl er ihr etwas unheimlich ist, beginnt sie eine Affäre mit ihm. Sie fahren gemeinsam nach Venedig – eine Gelegenheit für den Autor, den alltäglichen Event-Tourismus ad absurdum zu führen, so wie er die gemeinsamen Fernsehabende des Paares zur beißenden TV-Kritik nutzt.
    Hendriks Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend, an den autoritären Vater und die stets kränkelnde Mutter, die ihre Ehe als ein Martyrium empfand, für das sie indirekt den Sohn verantwortlich machte, erhellen die Gründe für sein gestörtes Verhältnis zu Frauen und seine Liebesunfähigkeit. Seinen eingeforderten Liebesbeweis, ihr beim Sex mit einem anderen Mann zuzuschauen, ignoriert sie zunächst, bis sie den richtigen dafür gefunden zu haben glaubt. Der Schluss, der gewissermaßen mit der für die Novelle typischen unerhörten Begebenheit in eins fällt, verblüfft in seiner unerbittlichen Rigorosität.

    Als wir ihn anhoben und ihn auf die Seite drehten, war er schon tot. Herzstillstand. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck maßlosen Entzückens.

    "Ja, nur wer sich bestürzen lässt, wer das riskiert, wird sich auch etwas merken. Das ist natürlich vor allem eine stilistische Frage, wie viel Kraft, wie viel Wagnis, wie viel Lakonie und Kompromisslosigkeit wende ich stilistisch auf. Wenn das alles schlafwandlerisch genau, gelenkig, rhythmisch und musikalisch gelingt oder fügt, dann stellt sich der Stoff von selbst ein und ein Thema ergibt sich dann erst am Schluss. Ein Text, der nichts wagt, nur gefallen will, verschafft uns dagegen vielleicht heiße Ohren beim Lesen, aber er geht am Arsch vorbei."

    Zu gefallen, "lesbare Literatur" zu schreiben, wie es an einer Stelle des Buches in Anspielung auf Deutschlands ältesten, noch lebenden Literaturkritiker heißt, war nie Piwitts Bestreben. Eher aufzurütteln, zu verblüffen, Bestürzung auszulösen und so gegen den Bedeutungsverlust der Literatur anzuschreiben. Die Intensität der Novelle liegt nicht zuletzt in der Lakonie und barschen Nüchternheit, mit der die Geschichte erzählt wird. Die durch abrupte Schnitte und Rückblenden erzielte Verdichtung zeugt von höchster sprachlicher Ökonomie. Umfang und Struktur der Novelle erinnern an ein Filmscript. Die auf das Notwendigste komprimierten Beschreibungen und Kürzestdialoge muten wie Regieanweisungen an.

    In Péter Nàdas', in diesem Frühjahr erschienenen Roman "Parallelgeschichten" findet sich die längste Beischlafszene der modernen Literatur, bei Piwitt die wohl kürzeste.

    "Robby Blubber", sagte er zu mir. Ich glaube, ich nannte ihn "Delfi Duck". Und kein Schwein störte uns. Er schob mir den Zwickel beiseite, und ich ließ ihn ein.

    Auch musikalische Assoziationen, bevorzugt an die Musik der Romantik, finden sich wieder. Eine der drei Lieblingsschallplatten Hendriks sind bezeichnenderweise Schumanns Eichendorfflieder. Und die Lebensbilanz der Ich-Erzählerin, einer Hobby-Klavierspielerin, mündet in der prägnanten Formel "Sex und Kammermusik" - die kleinstmögliche Kondensierung der für Piwitt symptomatischen melancholischen Grundstimmung und Trauer über die Mittelmäßigkeit des Lebens.

    "Ja, was bleibt letzten Endes? Was stimmt uns heiter und bringt uns zur Raserei, wenn nicht Sex und Kammermusik? Die Melancholie muss in guten Büchern sein, ich weiß nicht, warum die Leute nicht mal ernst sein können, das ist doch viel spannender. Ich rette mich sowieso in jeder verzweifelten Situation in Lachen. Welchen Grund sollte es geben zum Lachen, als wenn man verzweifelt ist?"

    Piwitt erweist sich in der Novelle als ein Meister der stilistischen Reduktion und Treffsicherheit. Nur wenige Worte braucht er, um die Protagonistin über das Alter oder "beichtende Männer, die ihr noch nie geheuer waren" räsonieren oder die Differenz zwischen Männern und Frauen in der heutigen Zeit reflektieren zu lassen. Die sprachliche Prägnanz und Präzision wirkt bisweilen schroff, spröde, aber niemals blutleer oder emotionslos. Piwitts Minimalismus ist vielmehr Ausdruck einer Emphase, mit der er an die Grundfragen unserer Existenz rührt.

    Buchinfos:
    Hermann Peter Piwitt, Erbarmen. Novelle. Wallstein Verlag, Göttingen 2012, 64 Seiten, 12,90 Euro