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Sexualisierte Gewalt
"Dürfen die Opfer in der Not nicht alleine lassen"

Fast sechs Jahre Haft für einen Fußballtrainer, Ermittlungsverfahren gegen einen Judotrainer. Lange wurde sexualisierte Gewalt im Sport totgeschwiegen - jetzt wird das Problem offen angesprochen und die Behörden setzen langsam auf Gegenmaßnahmen.

Von Andrea Schültke | 14.12.2019
Kinder und Jugendliche spielen Fußball auf der Straße
Kinder und Jugendliche spielen Fußball auf der Straße (imago sportfotodienst)
Es führt kein Weg mehr daran vorbei. Sexualisierte Gewalt steht bei Sportversammlungen inzwischen immer häufiger auf der Tagesordnung. Das liegt auch daran:
"Dass ja in den Medien durchaus scharf darauf hingewiesen wird, dass da vielleicht nicht genügend gemacht wird. Und das, was man macht, muss dann eben auch sichtbar sein.", so Beate Lohmann, Leiterin der Abteilung Sport im Bundesinnenministerium. Ihr Vorgänger, Gerhard Böhm, hatte schon vor zweieinhalb Jahren den Ansatz: Wer kein Konzept hat gegen sexualisierte Gewalt im Sport, bekommt kein Fördergeld vom Staat:
"Das als eine Voraussetzung zu statuieren, die einen Verband überhaupt erst in die Lage versetzt, dass er einen Antrag stellen kann. Also wie so eine Art Testat." Das setzt das Bundesinnenministerium jetzt langsam in die Tat um.
Eigenerklärung unterschrieben
Seit diesem Jahr müssen Sportfachverbände eine sogenannte Eigenerklärung abgeben. Darin legen sie sich fest, bestimmte Punkte eines Schutzkonzeptes innerhalb eines vorgegebenen Zeitplans umzusetzen. Passiert das nicht, gibt’s kein Geld. Und siehe da: "Alle geförderten Verbände haben die Eigenerklärung unterzeichnet bzw. abgegeben.", teilt das für die Prüfung zuständige Bundesverwaltungsamt auf DLF-Anfrage mit.
"Lag keine Eigenerklärung vor, wurden die Bewilligungen zurückgestellt." Erläuterte das Bundesinnenministerium ebenfalls auf Anfrage. Und weiter: "Aktuell entwickelt das BMI gemeinsam mit der Deutschen Sportjugend im DOSB Verfahren zu einem begleitenden Berichtswesen der aus der Eigenerklärung umzusetzenden Maßnahmen."
Ein Fortschritt, denn noch im Sommer hatte ein Staatssekretär im BMI auf die Frage nach solchen Prüfverfahren keine Antwort.
Der Täter, so das Landgericht Hannover, habe Jungen im Alter von 13 bis 17 Jahren sexuell missbraucht.
Sexueller Missbrauch - Fußballtrainer muss fast sechs Jahre in Haft Schlaf- und Essstörungen, Depressionen, Mobbing: Das Landgericht Hannover hat am Mittwoch einen Fußballtrainer zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt: Er soll acht Jungen sexuell missbraucht haben. Um ihnen näher zu kommen, tarnte der Täter sich als Fußballmanager. Die Kinder leiden noch immer.
Die Eigenerklärung listet in Sachen Kinderschutz Minimalanforderungen auf. Verbände müssen zum Beispiel: das Thema in ihre Satzung aufnehmen, erweiterte Führungszeugnisse einholen, Schulungen durchführen und eine Person benennen, an die sich Betroffene wenden können. Nur der letzte Punkt muss bis zum Jahresende umgesetzt sein. Für den Rest gibt es noch bis zu zwei Jahren Zeit. Das dauert sehr lange, aber vielleicht macht der Druck des Geldgebers mehr daraus als eine bloße Unterschrift unter ein Stück Papier.
Gemeinsamer Einsatz
Innerhalb der Sportstrukturen ist das Thema sexualisierte Gewalt bei den Jugendorganisationen angesiedelt. Die Federführung im DOSB hat die Sportjugend. Deren Geschäftsführerin Christina Gassner will jetzt ein Signal senden: "Ein Signal dahingehend, dass der gesamte organisierte Sport zusammensteht und sich geschlossen für dieses wichtige Thema einsetzt.
Und wir wollen zeigen, dass wir das nicht machen, weil andere das von uns verlangen, sondern weil wir selbst davon überzeugt sind", sagte Gassner vor einer Woche in Frankfurt.
Turnteam Deutschland mit Sarah Voss (GER)Emelie Petz (GER) Elisabeth Seitz (GER) Kim Bui GER Pauline Schäfer Schaefer (GER) 
Kim Bui und Alfons Hölzl (Turner-Bund) - "Ganz klare Konzeption gegen sexualisierte Gewalt" Im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen in der US-Turngeschichte hat Alfons Hölzl, Präsident des Deutschen Turner-Bundes, auf umfassende Präventionsmaßnahmen in seinem Verband hingewiesen. "Wir hoffen, dass uns so etwas nie ereilen wird", sagte Hölzl im Dlf. Turnerin Kim Bui hob die "gute Transparenz im DTB" hervor.

Bei der DOSB-Mitgliederversammlung warb Christina Gassner dafür, einem entsprechenden Antrag zuzustimmen: "Wer stimmt dagegen? Keiner. Wer enthält sich? Ebenfalls keiner. Damit ist auch dieser Antrag angenommen". Das bedeutet: alle Verbände haben ein Jahr Zeit, ein Modell zur Prävention sexualisierter Gewalt zu erarbeiten.
Das ist dringend nötig. Denn Forscherinnen und Forscher weisen schon seit Jahren darauf hin: Der Sport ist von sexualisierter Gewalt genauso betroffen, wie andere Teile der Gesellschaft. Mindestens. Denn eine gerade veröffentlichte Studie der Uniklinik Ulm hat für den Breitensport festgestellt: "Wir haben in Deutschland ungefähr doppelt so viele Fälle wie in der katholischen Kirche", so Jörg Fegert, Kinder- und Jugendpsychiater von der Uniklinik Ulm in der ARD Fernsehdoku: "Das große Tabu".
Ergebnisse im Mai
Für einen weiteren Anstoß sorgt die Aufarbeitungskommission der Bundesregierung. Sie hört gerade Betroffene aus dem Sport an, die anonym über ihre sexuelle Gewalterfahrung im Kontext Sport berichten. Ergebnisse gibt es im Mai. Schon jetzt ist DOSB-Präsident Alfons Hörmann überzeugt: "Wir werden auch in diesem Thema noch konsequenter, noch breiter und wahrscheinlich noch viel schmerzvoller für diejenigen agieren müssen, die in Führung und Verantwortung sind."
Sabine Andresen, Vorsitzende der Aufarbeitungskommission, fordert, dass sich der „Sport seiner Verantwortung stellt“
Sexualisierte Gewalt - Die Verantwortung des organisierten Sports Die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen im Sport steckt noch am Anfang. Die Aufarbeitungskommission der Bundesregierung hat in Berlin Empfehlungen zur Prävention und gegen Vertuschung vorgestellt – und dabei vor allem die Sportverbände in die Verantwortung genommen.

Gerade erst ist der oberste Funktionär des deutschen Sports Mitglied im "Nationalen Rat" geworden, der der Bundes-Familienministerin zum Schutz vor sexuellem Missbrauch. Die konstituierende Sitzung hat bei Hörmann Spuren hinterlassen: "Dass jeder, der etwas Empathie hatte von dem, was man da hört und von einer Betroffenen geschildert bekommt, zutiefst gerührt war."
Für den sensiblen und empathischen Umgang mit den Betroffenen forderte Hörmann mehr Fachberatungsstellen und Hauptamtliche
Ansprechpersonen in Verbänden und Vereinen: "Nicht alleine lassen".
Bundesinnenminister Seehofer will Opfer nicht alleine lassen
Auch Bundesinnen- und Sportminister Horst Seehofer kommt an dem Thema nicht mehr vorbei. Vor einer Woche bei der DOSB Mitgliederversammlung ansprechen:"Wir allen wollen den Sport als einen Raum, der frei ist von Missbrauch und Gewalt. Wir können keine Toleranz dulden und dürfen die Opfer in der Not nicht alleine lassen."
Die angesprochen Opfer, die sich selbst als "Überlebende" verstehen, werden sich wundern: Sie werden seit Jahren allein gelassen. Teilweise sind sie schwer krank. Manche als Folge der oft jahrelangen sexuellen und seelischen Gewalterfahrung berufsunfähig, leben von Hartz 4.
Bis 2016 konnten Betroffene sexualisierter Gewalt im Sport einen Antrag auf Unterstützung stellen beim Fonds sexueller Missbrauch. Der Sport hatte dort 170 000 Euro eingezahlt. Das Geld ist längst aufgebraucht, weitere Zahlungen vom Sport gab es nicht. Wenn Horst Seehofer seine Worte ernst gemeint hat, kann er jetzt handeln.