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Sexualisierte Gewalt in der Kirche
Gibt es einen pastoralen Tätertyp?

Auf jahrelangen spirituellen Missbrauch folgt sexualisierte Gewalt: Ein Münsteraner Forscher hat in einer Studie Merkmale eines pastoralen Tätertyps herausgearbeitet. Bestätigt sich diese Annahme, sollten Konsequenzen für das Verständnis des Priesteramtes und die Ausbildung der Geistlichen folgen.

Von Ludger Fittkau | 13.06.2021
Eine Frau sitzt alleine auf einer Kirchenbank und wird von einem Lichtstrahl, der durch Fenster fällt, angestrahlt.
Es sei an der Zeit, sich von einem allzu unkritischen Leitbild des Pastors als "Hirten" und Seelenführers zu lösen, meint Klaus Große Kracht (imago / photothek / Ute Grabowsky)
Der Münsteraner Historiker Klaus Große Kracht leitet seit anderthalb Jahren ein vom Bistum Münster geförderte Forschungsprojekt. Es trägt den Titel: "Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige" im Bistum. Die ersten Forschungsergebnisse des Projektes zeigen: Es gibt möglicherweise tatsächlich einen speziellen "katholischen Geschmack" des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker, wie es ein Opfer einmal formuliert hat.
Bischöfe stehen im Gottsdienst zwischen den Kirchenbänken.
Aufarbeitung sexualisierter Gewalt - "Das muss Klick in ihren Köpfen und ihren Herzen machen"Sexueller Missbrauch in der Kirche ist ein Schwerpunktthema der Deutschen Bischofskonferenz. Doch solange Kardinal Woelki und andere Bischöfe sich selbst als Opfer fühlten, könne eine echte Aufarbeitung nicht stattfinden, so Journalist Derek Scally.
Dem sexuellen Missbrauch gerade pubertierender oder post-pubertärer Jugendlicher gehe nämlich des Öfteren eine langjährige spirituelle Manipulation durch den Priester voraus. Große Kracht greift bei der Beschreibung dieses Anbahnungs-Phänomens auch auf den Begriff "Pastoralmacht" des Historikers und Philosophen Michel Foucault zurück:
"Gerade das letzte Merkmal, die Kombination des Sexuellen mit dem spirituellen Missbrauch, macht diesen Tätertypus, wie ich meine, zu einem spezifisch kirchlich-religiösen, der sich vermutlich kaum in anderen gesellschaftlichen Bereichen auffinden lässt. Erst im Raum der Kirche und anderer religiöser Gemeinschaften findet er überhaupt einen sozialen Kontext für seine spezifische Anbahnungs-Strategie. Würde sich diese Annahme erhärten, hätte das erhebliche Konsequenzen für das Berufsbild des Priesters und für kirchliche Seelsorgekozepte."

Prävention schon in der Ausbildung

Die Pastoren nutzen das Macht-Gefälle etwa in der Jugendarbeit der Gemeinde, um sich zunächst als seelische Ratgeber der Heranwachsenden unentbehrlich zu machen, um anschließend zum sexuellen Missbrauch überzugehen. Noch seien weitere empirische Untersuchungen nötig, um diese Hypothesen zu diesem Tätertypus zu erhärten, betonte Klaus Große Kracht. Aber:
"Wenn die Annahme eines spezifischen pastoralen Tätertyps plausibel erscheint, dann sollte dies Konsequenzen im Hinblick auf das Verständnis des Priesteramtes und der Priesterausbildung innerhalb der katholischen Kirche haben. Prävention hat sich dann anders zu gestalten als in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie etwa Schule und Sportvereinen. Immer muss es darum gehen, die Autonomie des oder der Gläubigen in sämtlichen Fragen der Lebensgestaltung als höchstes Gut der priesterlichen Fürsorge fest in der Ausbildung und dem Amtsverständnis zu verankern und jede Form asymmetrischer Kommunikation zwischen Priester und Laien zu verhindern."
Kardinal Rainer Maria Woelki, Erzbischof von Köln, geht nach einer Pressekonferenz zur Vorstellung eines Gutachtens zum Umgang des Erzbistums Köln mit sexuellem Missbrauch
Erzbistum Köln - Das wachsende Misstrauen gegenüber Kardinal Woelki
Zum Umgang mit sexualisierter Gewalt im Erzbistum Köln wurden zwei Gutachten erstellt. Das erste wurde zunächst zurückgehalten. Das Vertrauen der Gläubigen in Kardinal Woelki ist tief erschüttert.
Im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil habe sich die Katholische Kirche vom Bild des "Hochwürden" als priesterlicher Respektsperson verabschiedet, so Klaus Große Kracht. Nun wäre es wohl an der Zeit, sich von einem allzu unkritischen Leitbild des Pastors als "Hirten" und Seelenführers zu lösen. Davon sei jedoch die Kirche auch in der aktuellen Krise noch sehr weit entfernt. Das zeige etwa die Formulierung "Weide meine Schafe!" im neuesten Brief von Papst Franziskus an den Münchener Kardinal Marx.

Strafrecht vor Kirchenrecht

Dass der Vatikan darin geübt ist, Erkenntnisse von Wissenschaftlern beiseite zu schieben, wenn sie nicht in das präferierte patriarchale Organisationsmodell passen, zeige auch das Beispiel des Zölibats. Darauf wies der renommierte Frankfurter Althistoriker Hartmut Leppin in der Diskussion nach seinem Vortrag über Missbrauchs-Arrangements vor allem mit Sklaven in der Antike hin. Längst sei doch erwiesen, dass Rom das Zölibat nicht aus dem Urchristentum ableiten könne, so Leppin. Andererseits könne man beim Thema Kindesmissbrauch aus der Antike für heute wenig lernen:
"Die wenigsten antiken Gesellschaften sahen in dem Kind einen Wert an sich, eine schlechthin schützenswerte Person. Bezeichnenderweise musste ein neugeborenes Kind einer freien Mutter vom Vater anerkannt werden, sonst wurde es ausgesetzt. Unzähligen Kindern mit sichtbaren Einschränkungen dürfte es widerfahren sein. Der Sohn sollte in der Lage sein, die Familie würdig fortzuführen, die Tochter eine wünschenswerte Ehe eingehen. Daher ist auch nicht zu erwarten, dass der Gedanke der Schutzwürdigkeit eines Kindes bei sexualisiertem Umgang in unseren Quellen eine große Rolle spielte. Es geht um es Schutzwürdigkeit der Bürgerkinder allein."
Ein Keuschheitsgürtel, fotografiert vor schwarzem Hintergrund
Zölibat - Gott liebt die Enthaltsamen - angeblich
Katholische Priester verpflichten sich zu Keuschheit und Ehelosigkeit. Dieses Versprechen wird beharrlich kritisiert - und ebenso beharrlich verteidigt. In den Begründungen des Zölibats erweist sich die Kirche als erfinderisch.
Fazit: Sowohl die Tradition der kirchlichen Pastoralmacht als auch die Sexualpraktiken der antiken Stadtstaaten bieten heutigen Gesellschaften nur wenig Anhaltspunkte für eigene Ethiken. Im Zweifel ist da das Strafrecht das bessere Instrument gegen den Machtmissbrauch – es muss aber auch konsequent in den kirchlichen Raum hineinreichen.