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Sexuelle Gewalt
Warum missbrauchten Kindern oft nicht geholfen wird

Pro Schulklasse sind im Durchschnitt ein bis zwei Kinder von sexueller Gewalt betroffen. Oft sprechen sie über ihre traumatischen Erlebnisse, werden aber nicht gehört. Weite Teile der Gesellschaft sind für das Thema nicht sensibilisiert - Polizisten, Sozialarbeiter und Richter oft mangelhaft geschult.

Von Mirko Smiljanic | 09.05.2019
Ein Mädchen sitzt am Straßenrand und vergräbt ihr Gesicht in einem Stofftier, das sie in ihren Armen hält.
Die Weltgesundheitsorganisation vermutet, daß in Europa rund 18 Millionen Minderjährige von sexueller Gewalt betroffen sind (picture alliance / Photoshot)
Gießen, in den Räumen der "Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität", kurz ZIT. Keine spektakulären Büros, eher typisch deutsche Amtsstuben einer Außenstelle der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main. Und doch zählt die Anfang 2010 gegründete Sondereinheit mittlerweile zu einer der wichtigsten Strafverfolgungsbehörden beim Kindesmissbrauch und beim Besitz und Handel von Kinderpornografie sobald es einen Bezug zum Internet gibt.
Über Arbeitsmangel können sich die rund zehn Staatsanwältinnen und Staatsanwälte nicht beklagen. 2018 gingen 4.000 neue Ermittlungsverfahren bei Ihnen ein, verglichen mit 2017 ein Plus von 25 Prozent. Einfache Fälle waren darunter, aber auch juristische Schwergewichte, wie dieses Internetportal.
"Das ist jetzt die Startseite von Elysium, so wie man sie gesehen hat, wenn man die entsprechende Onion Domain eingegeben hat im Tor Browser."
Elysium ist ein Begriff aus der griechischen Mythologie und bedeutet "Insel der Seligen". Das Kinderpornoportal Elysium war allerdings eine "Insel des Grauens". Wer sich anonym angemeldet hat, fand eine hochdifferenzierte Auswahl an Kinderpornografie – so Dr. Julia Bussweiler, leitende Staatsanwältin im Elysium-Fall.
"Und dann gab es insbesondere die Kategorien unterteilt nach Alter und Geschlechtsbereichen in denen das kinderpornografische Material abrufbar war, wie man beispielsweise hier sieht. Wenn man jetzt den Präferenzbereich bei Mädchen hat und dann einen bestimmten Altersbereich wie beispielsweise null bis fünf Jahre, also "Babys and Toddlers" Babys und Kleinkinder, dann wäre man hier fündig geworden."
Fahndungen im Darknet sind sehr schwierig
"Pre-teen hardcore", "pre-teen softcore, "nudism", "Cam" oder "fetish" – jede nur erdenkliche Perversion bot die deutsche Tauschbörse – hochgeladen von weltweit rund 100.000 Nutzern – so Julia Bussweiler.
"Jeder, der dort angemeldet war, konnte sowohl das Material beziehen, als auch selbst Material einstellen, man musst schlicht und ergreifend einen Link zum Material posten, und dann war es jedem möglich, das Material herunterzuladen."
Die Nutzer fühlten sich erstaunlich sicher. Dass Fahnder den mitten in Hessen in einer Autowerkstatt untergebrachten Elysium-Server überhaupt fanden, lag an einem Fehler in der Programmierung der Website. Normalerweise ist das Darknet, die dunkle Seite des Internet, stockfinster – so Georg Ungefuk, Oberstaatsanwalt und Pressesprecher der "Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität".
"Es ist regelmäßig sehr, sehr aufwändig und sehr schwer und auch ohne eine Erfolgsgarantie, Personen im Darknet zu identifizieren. Das heißt, die Ermittlungen in diesem Bereich sind von einem großen Aufwand geprägt. Es gibt wenige technische Möglichkeiten, mit technischen Mitteln wie Kommunikationsüberwachung, ist eine Identifizierung nicht möglich, wir sind dann angewiesen auf klassische Ermittlungsverfahren, wie den Einsatz von verdeckten Ermittlern."
Das Dunkelfeld sei groß, zu fassen bekomme man immer nur Einzelfälle, so Ungefuk. Warum ist das so? Dafür gibt es mehrere Gründe. Das Internet ist ein globales Medium, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Behörden funktioniert allerdings nur unzureichend; Befugnisse und technische Ausstattung von Ermittlungsbehörden sind begrenzt und mangelhaft; mangelhaft ist häufig auch die Ausbildung von Polizisten und Sozialarbeitern, Staatsanwälten und Richtern.
Viele wissen nicht, woran und wie sie misshandelte Kinder erkennen können. Hinzu kommt, dass weite Teile der Bevölkerung nicht wirklich sensibilisiert sind für sexualisierte Gewalt an Kindern. Es ist ja noch gar nicht so lange her, dass die Gesellschaft Kindern überhaupt eigene Rechte zuerkannt hat.
Kinder hatten bis vor kurzem kaum eigene Rechte
"Wenn wir an Kindheit und Jugend heute denken, dann denken wir an eine Lebensphase und wir sehen Kinder und Jugendliche als Subjekte mit eigenen Rechten. Wenn wir in die Geschichte schauen, dann gab es Kindheit und Jugend immer schon als biologische Entwicklungsphasen, aber nicht als solche eigenständigen Lebensphasen, und es war eine Entwicklung über mehrere Hundert Jahre, dass Kinder tatsächlich als Subjekte mit eigenen Rechten wahrgenommen wurden."
Ulrike Urban-Stahl, Professorin für Sozialpädagogik an der Freien Universität Berlin.
"Wenn wir ins Mittelalter schauen, dann waren Kinder das Eigentum des Vaters, und es war legitim oder wurde zumindest nicht bestraft, Kinder auch zu bedrohen, ihnen sexuelle Gewalt anzutun, sie zu verkaufen, sie zu schlagen und sie zu quälen. Das heißt, unser Blick heute ist ein völlig anderer, als der, den wir vor einigen Hundert Jahren hatte. Und selbst wenn wir in die letzten fünfzig Jahren schauen, dann gab es immer wieder Entwicklungen, in denen bestimmte Themen von Gewalt gegen Kindern enttabuisiert wurden und einhergehend damit auch gesellschaftliche Sensibilisierung stattfand für diese Themen."
Das Züchtigungsrecht der Eltern gegenüber ihren Kindern wurde in Österreich stufenweise zwischen 1975 und 1989 abgeschafft. In Deutschland strich der Gesetzgeber dieses Recht endgültig erst im Jahr 2000 durch eine Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Seither haben Kinder ein "Recht auf gewaltfreie Erziehung".
"In den 80er-Jahren waren es vor allem Selbsthilfegruppen betroffener Frauen, die sexuelle Gewalt durch ihren Vater thematisierten und entsprechende Unterstützungsangebote auch für Mädchen aufbauten, das war deutlich entstanden aus der Frauenbewegung. Die nächsten Schritte waren dann aber, zu sagen, nicht nur Mädchen sind betroffen von sexualisierter Gewalt, sondern auch Jungen sind betroffen davon, und nicht nur Männer sind Täter, sondern auch Frauen sind Täterinnen."
Frauen als Täterinnen sexualisierter Gewalt
Wie schwer es fällt, sich Frauen als Täterinnen sexualisierter Gewalt vorzustellen, offenbarte der Fall in Staufen bei Freiburg aus dem Jahr 2018, bei dem eine Mutter ihren Sohn im Internet Freiern zur Vergewaltigung angeboten hat. Hinzu kommt, dass sexuelle Gewalt von Frauen an Kindern häufig gar nicht als Übergriff gesehen wird, so Ulrike Urban-Stahl.
"In unserer heutige Gesellschaft ist es ja immer noch so, dass ein Großteil der Pflegearbeit Frauen übernehmen, Frauen bauen in diesem Rahmen häufig eine auch körperlich sehr viel nähere Beziehung zu Kindern auf. Und hier die feine Grenze zwischen tatsächlich einer engen Bindung und Übergriffigkeit zu ziehen, ist sehr schwer. Das Thema Grenzziehungen in Beziehungen ist sowieso ein ganz zentrales Element bei diesem gesamten Thema, und gerade bei Frauen wird häufig das eher als eine sehr enge beispielsweise Mutter-Sohn-Beziehung definiert oder interpretiert."
Aber selbst wenn es sexualisierte Beziehungen zu Kindern gibt – gleichgültig ob sie von Eltern oder Erziehern, Priestern oder Verwandten ausgehen – wird der Missbrauch als solcher fast nie erkannt und benannt. Es ist ein verstörend seltsames Phänomen: Die meisten Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder finden im sogenannten Nahbereich statt, in der Familie, in Kitas, in Freizeitgruppen und so weiter. Und trotzdem dringt von den Taten nichts nach außen. Merkt niemand, was passiert? Will niemand etwas merken?
Kinder sprechen über die schlimmen Erlebnisse
"Die eine Möglichkeit ist, die Mutter weiß das und hat Angst, das deutet darauf hin, dass sexualisierte Gewalt in sozialen Beziehungen auch in Machtverhältnissen stattfindet, in der die Personen eine Beziehung miteinander haben, eine Geschichte miteinander haben."
Friederike Lorenz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Bergischen Universität Wuppertal.
"Ein anderer Fall kann aber auch sein, dass einem Kind sexualisierte Gewalt angetan wird, ihm aber nicht geglaubt wird, weil aufgrund dieser engen Beziehung, die Beziehung auch andere Dimensionen hat, die Beziehung auch Nähe hat, Zuwendung, eine familiäre Geschichte, einen familiären Alltag, in dem das Kind eine bestimmte Rolle hat, was die Thematisierung erschwert."
Aber nicht unmöglich macht. Wissenschaftler wissen zum Beispiel, dass betroffene Kinder durchaus über erlebte sexuelle Gewalt sprechen. Allerdings tun sie dies mit Worten und Hinweisen, die entweder niemand versteht oder niemand verstehen will.
"Aus den Erzählungen der Betroffenen wird deutlich, sie haben gesprochen, sie haben sich geäußert, aber sie wurden nicht ernst genommen, ihnen wurde nicht geglaubt, oder sie wurden sogar gezielt von den Tätern und zum Teil auch Täterinnen diskreditiert und als unglaubwürdig dargestellt."
Pädagogische Mitarbeiter können sexuellen Missbrauch leicht vertuschen
Noch schwieriger ist es für Kinder, die in Institutionen wie Kitas, Schulen und Heimen sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind. Lehrer, Erzieher und Gruppenleiter verfügen über Machtmittel.
"Diese Machtmittel betreffen zum Beispiel: über Kinder zu dokumentieren, über Kinder Berichte zu verfassen, Kinder in Teambesprechungen zu besprechen, mit den Eltern über Kinder zu sprechen. Und in all diesen Sprachsettings der Erwachsenen haben sie die Möglichkeit, ein Bild vom Kind zu zeichnen. Und wenn fortwährend über ein Kind das Bild gezeichnet wird, es ist unglaubwürdig oder es ist vielleicht selbst übergriffig und so weiter, erschwert es wiederum Momente, wo dieses Kind selbst Übergriffigkeiten thematisiert, weil bereits ein bestimmtes Bild gezeichnet wurde."
Friederike Lorenz hat für dieses Phänomen den Begriff "Schweigen im Sprechen" geprägt.
"Also im vielfältigen Sprechen über Kinder in pädagogischen Institutionen, in Schreiben, in Fallbesprechungen und so weiter kann Gewalt – auch mit Hilfe von Fachvokabular – verschwiegen werden."
Erschwerend kommt noch etwas anderes hinzu: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in pädagogischen Institutionen wie Heimen kennen den sexuellen Missbrauch an Kindern häufig nur als mediales Ereignis. Erstaunlicherweise können sie sich nicht vorstellen, "… dass in ihrem nahen Umfeld, dass ein Kollege von ihnen, eine Kollegin von ihnen, sexuelle Gewalt an Kindern verübt, die bei ihnen sind. Sie sagen zum Beispiel, das ist ein Unding, das kann ich mir gar nicht vorstellen."
Nur der Verdacht kann großen sozialen Schaden anrichten
Meike Wittfeld, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Duisburg-Essen.
"Wenn man das abstrahiert von den ganz konkreten Fällen wird deutlich, dass sexuelle Gewalt etwas ist, was unsere Grundfesten berührt, die Ordnung quasi, in der wir leben, auf den Kopf stellt. Und das macht es sowohl für Betroffene als auch für Menschen, die dabei sind, die Zeugen sind, oder Menschen sind, die parallel anwesend sind, macht es so schwierig."
Angst spielt eine große Rolle: die Angst, sich schuldig zu machen, die Angst, selbst unter Verdacht zu geraten, aber auch die durchaus berechtigte Angst, dass ein geäußerter Verdacht, der sich im Nachhinein als falsch herausstellt, großen Schaden anrichtet.
"Es gibt in der Tat Berichte von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dass das für sie fatale Folgen hatte, einen sozialen Tod quasi nach sich ziehen kann. Es gibt aber auch andersherum Berichte davon, dass in Institutionen sehr wohl gesprochen wird darüber, was eigentlich Grenzen sind, was man machen kann und nicht, und es braucht eine Kultur, in der man darüber spricht, was man darf und was nicht, und in der auch Fehler passieren können."
Sexuelle Gewalt an Kindern ist weitverbreitet, sie kurzfristig abzustellen wird nicht möglich sein. Aus diesem Grund sind Präventionsmaßnahmen wichtig, so Ulrike Urban-Stahl von der Freien Universität Berlin.
Präventionsarbeit muss immer auch Täterarbeit sein
"Eine verbreitete Präventionsstrategie ist es ja, Kinder zu stärken, also, sie zu ermutigen, ihre eigenen Grenzen wahrzunehmen, sich zu trauen, "Nein" zu sagen und sich Hilfe zu holen, wenn sie sich unwohl fühlen und ihre Grenzen überschritten sehen. Eine zweite Präventionsstrategie ist tatsächlich die Enttabuisierung, das in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, Gesellschaft zu sensibilisieren, Fachkräfte in Schule, in Jugendhilfe, in Gesundheitswesen zu sensibilisieren, damit sie so etwas überhaupt wahrnehmen und damit umgehen. Und eine dritte Präventionsstrategie ist dann auch die sogenannte Täterarbeit."
Die Arbeit mit Tätern und mit Menschen, die möglicherweise Täter werden könnten, spielt eine wichtige Rolle. Pädophile Präferenzen lassen sich durch Freiheitsstrafen – egal wie hoch sie ausfallen - weder ändern noch eindämmen. Dafür brauche man, so Georg Ungefuk, Oberstaatsanwalt an der "Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität", ganz andere Ansätze.
"Was sehr wichtig ist, ist therapeutische Behandlung, sogenannte Sexualtherapie, für Straftäter oder für Personen, die noch keine Straftat begangen haben, aber letztlich dann auch gefährdet sind, so etwas zu tun. Und dazu muss man feststellen, dass das entsprechende therapeutische Angebot auf dem Markt vergleichsweise gering ist. Das heißt, es gibt wenig Angebote auf diesem Bereich, es gibt wenig beispielhafte bundesweite Projekte wie das Projekt "Kein Täter werden", und das ist auch etwas, wo Nachholbedarf besteht. Das heißt, ohne funktionierende therapeutische Möglichkeiten, ohne die Kriminalprävention in diesem Bereich wird es auch eine nachhaltige effektive Strafverfolgungsbekämpfung im Bereich Kinderpornografie, sexueller Missbrauch von Kindern, nicht geben."
Der Elysium-Fall ist juristisch abgeschlossen, die Täter sind zu hohen Haftstrafen verurteilt. Für die Staatsanwältin Dr. Julia Bussweiler vom ZIT in Gießen bedeutet das: neue Fälle über misshandelte und gequälte Kinder müssen aufgeklärt werden, Tausende Filme und Bilder sind dabei zu sichten – eine Belastung, der sie sich freiwillig aussetzt.
"Jeder, der in dem Bereich arbeitet, der sollte sich das gut überlegt haben, sollte das auch ausgetestet haben zuvor, ob das so ist oder nicht. Was man aber nicht vergessen darf, auf der anderen Seite birgt dieser Bereich eine hohe Motivation in sich. Man weiß, wofür man ermittelt, man weiß, man kann bestenfalls den sexuellen Missbrauch eines Kindes beenden, weil, jedes Bild zeigt einen sexuellen Missbrauch, und wenn es Bilder sind, die uns noch nicht bekannt sind, noch nicht bekannt ist, wer ist Täter, wer ist Opfer, dann kann man möglichweise einen aktuellen Missbrauchsfall aufklären, und das ist schon motivierend."