Dienstag, 19. März 2024

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Sexueller Missbrauch in der DDR
Kriminalisierte Opfer

Der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der DDR wurde oft vertuscht und totgeschwiegen, obwohl sich die DDR gerne als "Staat der Jugend" sah. Bislang war das Thema nicht erforscht. Ein Buch setzt sich nun mit den Hintergründen von sexuellem Missbrauch zu DDR-Zeiten auseinander.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 29.03.2018
    Ein junges Mädchen steht am Ende eines dunklen Flures.
    Über die Opfer liegen keine Zahlen vor. Sie blieben in der öffentlichen und internen Statistik unbeachtet (dpa / Nicolas Armer)
    Das Ausmaß sexuellen Missbrauchs in der DDR scheint mit dem in der Bundesrepublik vergleichbar. Wie häufig er auf dem Land und in der Stadt, in intellektuellen und anderen Kreisen stattfand, lässt sich noch nicht sagen.
    Christian Sachse stellt aber fest: "...dass der Missbrauch sich durch die gesamte Gesellschaft hindurch zieht, von den höchsten Spitzenfunktionären, Künstlern, Intellektuellen bis hin in die so genannte untere Ebene des Sub-Proletariats ist dieser sexuelle Missbrauch zu finden."
    Machtstellung wurde für Missbrauch ausgenutzt
    Das Besondere am sexuellen Kindesmissbrauch in der DDR ist, dass die sozialen Schichten hier eine Art Gelegenheitsstruktur boten, wie der promovierte Politikwissenschaftler sagt. In der SED-Diktatur konnten die Vertreter der Macht ihre soziale Stellung in besonderem Maße ausnutzen, weil sie Angst verbreiteten. Christian Sachse fand im Bundesarchiv und den Stasi-Unterlagen mehrere Fälle, in denen Uniformträger Kindern Repressionen androhten, wenn diese ihnen nicht gehorchten:
    "Das war ein Stasi-Mann, der hat sich seinen Dienst-Ausweis zunutze gemacht, wo er mit Uniform drauf zu sehen war und hat den an der Tür vorgezeigt und gesagt: Ich bin hier vom Rat des Kreises, ich muss die Wohnung betreten. Und nachdem er die Wohnung betreten hatte, hat er das zu einem Missbrauch genutzt. Und vorher ist er im Haus herumgegangen und hat die Gelegenheit ausspioniert und hat dort ohne Hemmungen und ohne Probleme an anderen Türen geklopft und hat gesagt: Ich brauche Auskünfte über dieses junge Mädchen. Wer ist das eigentlich? Wann ist sie zu Hause, wann ist sie nicht zu Hause? Und diese Auskünfte hat er bekommen."
    Über die Opfer liegen keine Zahlen vor. Sie blieben in der öffentlichen und internen Statistik unbeachtet, weil die DDR mehr auf die Täter schaute. Aber auch die Zahl der Anzeigen und eingeleiteten Ermittlungsverfahren erfasste der Staat nur teilweise.
    Besonders häufig scheinen Erzieher in den geschlossenen Heimen der DDR-Jugendhilfe das Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Zöglingen ausgenutzt zu haben. In diesen "totalen Institutionen", wie Sachse sagt, konnten sich die von der Außenwelt isolierten Betroffenen nicht gegen sie wehren.
    Der Staat schützte die Täter
    Zwar habe in der DDR einerseits ein hohes Interesse daran bestanden, gegen sexuellen Missbrauch vorzugehen, um die Familie als Kern der sozialistischen Gesellschaft zu schützen. Andererseits aber schienen Probleme mit der Sexualmoral zu sehr mit dem Versagen der sozialistischen Moral verknüpft, was Folgen hatte:
    "Unterschiedlich war der Umgang mit diesem sexuellen Missbrauch. Also wenn er im sogenannten Sub-Proletariat stattfand, dann gab es sehr schnell mal eine Verurteilung und dann hat das Jugendamt mitunter davon Wind bekommen und hat dann eingegriffen. Ein ganz normaler Polizist, wenn der solche Sachen gemacht hat, wurde erst mal geschützt, weil er das Ansehen der Polizei geschädigt hätte. Ein Lehrer, ein Parteisekretär selbstverständlich, ein Kulturfunktionär, die alle fielen unter die zu schützenden Bereiche. Das heißt, sie vertraten die Sexualmoral der DDR und hatten sich da keine Verfehlungen zu leisten. Wenn sie es getan haben, wurde zunächst vertuscht. Und wenn vertuschen nicht mehr möglich war, wurde dann zum Teil auch extrem hart bestraft, um deutlich zu machen: Das ist ein Einzelfall hier. Und den prangern wir jetzt ganz groß an."
    Häufig seien diese Täter in ihren Kreisen bekannt gewesen. An der Vertuschung waren alle gesellschaftlichen Kräfte von der Polizei über die Staatsanwaltschaft bis hin zur Staatssicherheit und den Parteigremien beteiligt. Ko-Autorin Stefanie Knorr:
    "Und von daher hat man auch weitestgehend versucht, diese Täter zu schützen, in Anführungsstrichen, und irgendwie das außerhalb von gerichtlichen Verfahren und Öffentlichkeit zu lösen, indem man auch gezielt mit den Opfern, mit den Opferfamilien gesprochen hat, sie überredet hat, die Anzeige zurückzunehmen, dabei auch äußerst manipulativ vorgegangen ist. Und dadurch weitere Opfer in Kauf genommen hat, die dann daraus entstanden sind, dass dieser Täter dann eben mit einer Aussprache davon gekommen ist."
    Inwiefern verhinderte die hohe gesellschaftliche Kontrolle sexuellen Missbrauch? Arbeitskollektive und Hausgemeinschaftsleitungen, Massenorganisationen, Ordnungsgruppen der FDJ und ehrenamtliche Helfer der Volkspolizei wachten zwar über das soziale Leben. Doch die Forscher fanden keinen einzigen Fall, wo dies dazu führte, sexuellen Missbrauch aufzudecken. Christian Sachse:
    "Und da war mein Eindruck, dass diese soziale Mikrokontrolle, die einmal vom Staat her organisiert worden ist und einmal auch in der Gesellschaft vorhanden war, eine Art Kumpanei der Täter geschaffen hat. Der eine hat im volkseigenen Betrieb geklaut, der andere hat Kinder missbraucht. Und man hat natürlich dann nicht übereinander berichtet. Also diese Kumpanei des Verschweigens, die ist eigentlich bekannt, und die bezieht sich dann auch auf sexuellen Missbrauch."
    Sexueller Missbrauch wurde nicht thematisiert
    Hinzu kam, dass es in der DDR keinen "Sprachraum" gab, wie Stefanie Knorr es nennt. Gespräche über sexuellen Missbrauch waren mit einem Tabu belegt. Infolge dessen fehlten ein Konzept, um die Betroffenen zu beraten und spezialisierte Kliniken, um sie zu therapieren.
    Bei ihrer Arbeit in der Beratungsstelle "Gegenwind" für politisch Traumatisierte der SED-Diktatur bemerkt die Psychologin heute noch bei Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind: "...ein tief greifendes Misstrauen in Richtung alle institutionellen Bezüge, Funktionsträger etcetera bis hin zu Vertretern des Gesundheitswesens. Das kriegen wir in der Beratungsarbeit auch immer sehr deutlich mit, dass es da eigentlich gar keine Vertrauensgrundlage gibt, sich überhaupt an helfende Kräfte zu wenden und sich zu offenbaren. Das betrifft dann wirklich alle Betroffenen, also sowohl die von familiärem als auch institutionellem Missbrauch."
    Wie sich sexueller Missbrauch in der DDR auf die Opfer ausgewirkt hat, muss noch untersucht werden. Stefanie Knorr weiß aus ihrer Recherche und der Beratungsarbeit, dass viele Betroffene über einen langen Zeitraum mehrfach traumatisiert wurden. Sie mussten sexuellen Missbrauch in der Herkunfts- und in der Adoptiv- oder Pflegefamilie, aber auch im Spezialkinderheim oder im Jugendwerkhof über sich ergehen lassen - und wurden für ihr auffälliges Verhalten bestraft.
    "Das heißt, diese Jugendlichen oder jungen Erwachsenen sind tatsächlich kriminalisiert oder zu Staatsfeinden geworden in den Augen der Gesellschaft. Das heißt, wir haben viele Fälle, in denen mehrfache Haftkarrieren in der Folge stattgefunden haben. Und in all diesen Bereichen haben wieder schwerwiegende Beziehungstraumata stattgefunden mit schwerwiegender psychischer, physischer Misshandlung bis hin zu sexueller Gewalt."
    Titel: "Sexueller Missbrauch in der DDR" - Historische, rechtliche und psychologische Hintergründe des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen in der DDR

    Autoren: Christian Sachse und Stefanie Knorr, Benjamin Baumgart

    Springer-Verlag GmbH, 44,99 Euro