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Sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch Priester

Simon: In dieser Woche haben sich die katholischen Bischöfe zusammengesetzt, um ein heikles Thema zu beraten: Wie soll die Kirche in Deutschland umgehen mit dem Problem der Priester, die Jugendliche und Kinder sexuell missbrauchen. Den Bischöfen lag dazu eine Expertise vor, die Dr. Wunibald Müller erstellt hat. Der Theologe und Psychologe leitet das Recollectio-Haus in Münsterschwarzach. Dort finden Priester und Ordensleute in seelischen Schwierigkeiten Gehör und Hilfe. Mit ihm bin ich jetzt am Telefon verbunden. Guten Tag.

    Müller: Guten Tag.

    Simon: Herr Dr. Müller, wie weit verbreitet ist denn in Deutschland der Missbrauch von Minderjährigen durch Priester?

    Müller: Genaue Zahlen gibt es nicht, aber wenn man amerikanische Untersuchungen herzieht und das, was ich so von meinen eigenen Erfahrungen her weiß, kann man davon ausgehen, das ca. zwei Prozent der katholischen Priester Minderjährige sexuell missbrauchen. Dabei kann man noch mal unterscheiden zwischen sogenannten pädophilen Priestern und ephebophilen Priestern. Pädophil meint, jemand fühlt sich angezogen von Jugendlichen bis zu 13 Jahren, ephebophil meint, jemand fühlt sich angezogen von Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren.

    Simon: Herr Dr. Müller, sexueller Missbrauch ist ja neben der andauernden Verletzung des Opfers auch ein Verstoß gegen alle sittlichen moralischen Regeln unserer Gesellschaft. Wieso kommen Priester damit immer wieder in Konflikt?

    Müller: Nun, bei jemand, der pädophil ist, ist es eine Veranlagung. Da mag es zwar äußerlich Normen geben, aber diese Veranlagung, und dabei handelt es sich ja oft um ein Suchtverhalten, ist so stark, dass dann natürlich das in einer entsprechenden Situation überwiegt. Das andere ist, zum Beispiel bei ephebophilen Priestern, einer der Gründe - wenn sie sich ephebophil verhalten - liegt darin, dass sie zum Beispiel in ihrer sexuellen Entwicklung stehen geblieben sind, dass sie vielleicht aufgewachsen sind in einer Umgebung, in der Sexualität tabuisiert worden ist. Und dass sie eben nicht sich mit ihrer Sexualität auseinandergesetzt haben, also auch im Grunde genommen nicht in der Lage sind, ihre Sexualität für sich verfügbar zu machen, kann es immer wieder passieren, statt dass sie als Person im Fahrersitz sitzen und ihre Sexualität steuern, die Sexualität auf ihrem Fahrersitz sitzt und mit ihnen etwas macht.

    Simon: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist genau das der Fall bei der Mehrheit der Priester, die sexuellen Missbrauch mit Minderjährigen praktizieren.

    Müller: Das ist richtig. Ja, bis zu 80 Prozent, ja.

    Simon: In Ihrer Expertise für die katholischen Bischöfe kommen Sie zu dem Schluss, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch durch Priester gibt. Sehen Sie denn einen indirekten Zusammenhang?

    Müller: Einen indirekten Zusammenhang mag es in der Tat geben, aufgrund der eben genannten Gründe hinsichtlich der Sexualität. Wer Vorbehalte hat, sich wirklich mit seiner Sexualität auseinander zu setzen, sieht im Zölibat eine Form, wo er sich im Grunde genommen verstecken kann, also statt dass er sich all den Entwicklungsschritten stellt, die wichtig sind, damit ich mit meiner Sexualität in Kontakt komme, also dass ich meine Sexualität spüre, dass jemand für sich herausfindet, ob er jetzt homosexuell ist oder heterosexuell, dass er sich auch wirklich auf tiefe, bedeutungsvolle Beziehungen einlässt. Also, um das zu vermeiden, kann es sein, dass er denkt, zölibatär zu leben heißt, ich muss mich dem nicht stellen und dann diesen Weg neben anderen Motiven wählt. Dass es keinen direkten Zusammenhang gibt, denke ich, wird dadurch schon deutlich, dass der meiste sexuelle Missbrauch innerhalb der Familie geschieht, also durch Heterosexuelle.

    Simon: Nach Ihren Erfahrungen aus Gesprächen mit betroffenen Priestern, auch aus Therapien: Sind Menschen und sind damit auch Priester, die sich an Minderjährigen vergehen, eigentlich therapierbar.?

    Müller: Bei pädophilen Priestern ist die Prognose, was jetzt Heilung angeht, gleich Null. Hier kann das Ziel sein, dass sie ihre Sexualität kontrollieren können. Bei ephebophilen Priestern ...

    Simon: ...das sind diejenigen, die sich an Minderjährigen, also nicht mehr Kindern, sondern Jugendlichen, vergehen...

    Müller: ...genau, da liegt die Prognose günstiger. Da ist es schon auch möglich, dass die Betreffenden therapierbar sind.

    Simon: Das ist in der Vergangenheit so gut wie ganz selten nur vorgekommen. Warum?

    Müller: Also, ich würde sagen, vor zehn Jahren ist es ganz sicher nur selten vorgekommen. Innerhalb der letzten zehn Jahre waren einige Bistümer schon auch so weit, dass sie die Leute jetzt nicht in irgend eine andere Pfarrei geschickt haben, sondern von denen verlangten, dass sie in Therapie gingen. Warum das vorher nicht geschehen ist, liegt darin, dass früher keine Sensibilität in dem Umfang vorhanden war wie jetzt, und auch offensichtlich das Wissen nicht stark genug verbreitet war, dass jemand, der pädophil ist oder auch ephebophil ist, allein durch den guten Willen oder dass er sagt: "Ich bete jetzt" nicht heilbar ist, sondern dass es sich dabei um eine Krankheit oder um eine psychische Beeinträchtigung handelt, die einfach therapeutisch oder psychiatrisch angegangen werden muss.

    Simon: Glauben Sie, dass es auch damit zu tun hat, dass man in den Rängen der oberen Geistlichkeit gesagt hat: "Das ist ein Thema, das ist so unappetitlich, das möchten wir nicht haben, also beschäftigen wir uns nicht damit"?

    Müller: So was ist nie auszuschließen. Wenn ich an meine eigene Entwicklung denke, war ich am Anfang auch eher geneigt, das zu beschönigen, weil ich dachte: Das darf doch nicht wahr sein! Und da meine ich jetzt, dass man angesichts dessen, dass es Tatsache ist, dass man sich mehr von der Wirklichkeit konfrontieren lässt, auch bereit ist, die entsprechenden Schritte zu tun.

    Simon: Es hat ja immer in der Vergangenheit, auch in der Zeit als man das Thema als solches wahrnehmen wollte, Opfer gegeben und ganz selten auch mal Opfer, die etwas gesagt haben. Wie erklären Sie sich eigentlich den eklatanten Mangel an Empathie, an Mitgefühl auch in der Hierarchie gegenüber diesen Opfern sexuellen Missbrauchs durch Priester?

    Müller: Gut, es hat sicher damit zu tun, dass man nicht genau hinschaut, und auch offensichtlich nicht in der Weise versucht hat, sich in die Situation, in die Seele des betreffenden Opfers hineinzuversetzen. Wenn dann jemand aber wirklich hört und es nicht nur hört, sondern es auch vom Herzen her hört, dass es mit einem Seelenmord oft vergleichbar ist, dass einem Menschen ein unsäglicher seelischer Schaden zugefügt wird, dann denke ich, ändert sich das. Ich kenne aber auf der anderen Seite auch eine ganze Reihe von Bischöfen, die schon auch diese Seite immer wieder gesehen haben. Dass das in der Art und Weise, wie sie sich nach außen hin um die Opfer gekümmert haben nicht immer zum Ausdruck gekommen ist, das ist bedauerlich, natürlich, ja.

    Simon: Jetzt nach dieser Bischofskonferenz: Was wird Ihrer Meinung nach die Kirche tun können? Wie wird sie sich besser um Opfer und auch um die Täter kümmern müssen? Die kann man ja auch nicht einfach so weitermachen lassen wie bisher.

    Müller: Zunächst mal, indem sie konsequenter als bisher handelt, also dass die Täter tatsächlich bei Verdacht oder auch bei Vergehen suspendiert werden, zumindest vorübergehend, dass ihnen zur Auflage gemacht wird, dass sie eine Therapie machen. Ist nachgewiesen, das sie Minderjährige missbraucht haben und nicht therapierbar sind, dann dürfen sie nicht mehr in den seelsorgerischen Dienst zurückgehen. Das ist die eine Konsequenz, denke ich, die aus den neuen Richtlinien sich ergeben wird. Was die Opfer angeht, denke ich, dass die Kirche eben genau das, was Sie vorher so kritisierten, stärker als bisher konkret zum Ausdruck bringt, nämlich Empathie, indem der Bischof oder ein Vertreter auf das Opfer, die Betroffenen zugeht, sich entschuldigt, dass die Kirche sich im menschlichen, seelsorglichen, und was die Therapie angeht, auch finanzielle Mittel zur Verfügung stellt, um den Opfern zu helfen.

    Simon: Das war Wunibald Müller. Er hat die Expertise erstellt für die Deutsche Bischofskonferenz, auf der Grundlage, von welcher sie entschieden hat, wie sie umgehen will mit Priestern, die Minderjährige sexuell missbraucht haben.

    Link: Interview als RealAudio