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Sherko Fatah
Entführungsgeschichte und zugleich Ideologiekritik

Die Begegnungen einander fremder Kulturen prägen das Schreiben des 1964 in der DDR geborenen Sherko Fatahs. "Der letzte Ort" heißt der neue Roman des Sohnes eines kurdischen Irakers und einer Deutschen. Er erzählt, wie zwei Menschen in Todesangst aufeinander angewiesen sind, ohne doch eigentlich etwas voneinander wissen.

Von Detlef Grumbach | 03.12.2014
    Der deutsche Schriftsteller Sherko Fatah posiert am Donnerstag (15.03.2012) in Leipzig auf der Leipziger Buchmesse. Sherko Fatah ist der Sohn eines Kurden aus dem irakischen Kurdistan und einer deutschen Mutter. Er verbrachte die ersten Jahre seiner Kindheit in der DDR.
    "Es ist ja eigentlich die Geschichte einer Begegnung, einer zwangsweisen Begegnung. Es geht um Fremdheit und Nähe", sagt Sherko Fatah über seinen Roman "Der letzte Ort". (Jens Kalaene dpa)
    "Was siehst du?" Immer wieder stellt Albert sich diese Frage, an deren Antwort sein Leben hängen könnte. "Was siehst du? Präge dir alles genau ein!" Durch die Ritzen eines Holzverschlags blickt er nach draußen, an Händen und Füßen gefesselt irgendwo im Norden des Iraks, im Bürgerkriegsdurcheinander entführt von einer islamistischen Miliz. Mit dabei ist sein Dolmetscher Osama. Auf ihn allein muss er sich jetzt verlassen. Es ist schließlich Osamas Land, es sind seine Leute, die ihn hier bedrohen. Doch Osama ist genauso gefangen. Aus seiner Sicht war Albert es, Osamas Arbeit für den Deutschen, die ihn in die gefährliche Lage gebracht hat und als Kollaborateur einer fremden Macht erscheinen lässt. Albert und Osama - in Todesangst sind zwei Menschen aufeinander angewiesen, die aber eigentlich nichts voneinander wissen.
    Sherko Fatah: "Es ist dann schwer, nicht mit Widerwillen zu reagieren, nicht mit Abwehr. Und die Zeit vergeht und die Angst bleibt. Und was unter diesen Bedingungen hervorkommt, schwankt zwischen dem Versuch, Kontakt aufzunehmen, zwischen Abwehr und auch Widerwillen und Abstoßung, dann wieder Schwäche. Also es geht immer um Fremde und Nähe, die Möglichkeiten des Verstehens und die Unmöglichkeit des Verstehens. Wobei wichtig ist: Es gibt ja ein Verstehen. Das ist das Wunder. Sie können sich verstehen, aber nicht in allem. Das ist das Entscheidende."
    Große Bewegungen durch Raum und Zeit - und damit auch durch kulturell und ideologisch geprägte Systeme und Konflikte, sind typisch für die Romane Sherko Fatahs. In seinem Roman "Onkelchen" begibt sich ein junger Berliner auf die Spuren eines in seiner Nachbarschaft gestrandeten Bürgerkriegsflüchtling aus dem Irak, in "Ein weißes Land" erzählt er von einem jungen Iraki, der im Tross des Nazi-freundlichen Großmuftis von Jerusalem in den 1930er-Jahren nach Deutschland kommt. "Der letzte Ort" nennt er sein neues Buch. So wie Michael Kleeberg in seinem Roman "Das amerikanische Hospital" oder Dirk Kurbjuweit in "Die Kriegsbraut" rückt er die Realität eines fernen Kriegs in den Fokus der deutschen Literatur, der längst auch die Gesellschaft hierzulande unmittelbar betrifft. Neben einer atemberaubenden Entführungsgeschichte liefert er aber auch ein bedeutsames Stück Ideologiekritik - als Kritik falschen Bewusstseins, auch hier und heute.
    Sherko Fatah: "Mich interessieren Ideologien, mich interessieren auch die Ideologien, die Menschen mobilisieren, weil das ist ja letztlich der Stoff, aus dem die Geschichte ist."
    "Es geht um Fremdheit und Nähe"
    So erklärt der Autor die Motivation, aus der er diese äußerst komplexe Geschichte entwickelt hat. Albert ist der Sohn eines treuen SED-Genossen, ein Kind der untergegangenen DDR. Er entflieht einem Leben, in dem er - eigentlich unpolitisch - gegen den Druck eines Systems opponiert hat, das gegen jedes Argument immun war, in dem er sich nach dem Zerfall der DDR aber auch nicht zurechtfand. Im Irak arbeitet er mit, die alte Kultur vor den Raubzügen durch fundamentalistische Milizen zu retten. Die Geschichte spielt vor etwa zehn Jahren, die Amerikaner sind noch präsent, das Land ist ihm so fremd wie seine Heimat. Aber auch Osama lebt in einer zerfallenden Gesellschaft, auch er ist den Kräften eher ausgeliefert als dass er sie versteht.
    Sherko Fatah: "Es ist ja eigentlich die Geschichte einer Begegnung, einer zwangsweisen Begegnung. Es geht um Fremdheit und Nähe, es geht um DIE Fremde, DIE Fremdheit, etwas, was man einfach nicht in sein eigenes System ohne Weiteres hinein bekommt, etwas, womit man etwas tun muss, bevor es passt. Und wie man sich auch bemüht: Es fällt schwer. Und viele Dinge bleiben auch im Dunkeln. Die begreift man nicht."
    Albert wollte reisen, suchte das Abenteuer, doch werden er und Osama jetzt gefesselt von Ort zu Ort, von Verließ zu Verließ, durch die karge irakische Wüste bis an die Küste gebracht. Auf fast 300 Seiten erzählt Fatah, wie sie immer wieder neuen Gruppen von Bewachern übergeben werden, wie sie fliehen können und ihre Wege sich trennen, wie Albert erwischt wird und Osama versucht, den Deutschen zu retten, wie er dabei selbst wieder in die Fänge der Miliz gerät. Doch die rasanten Bewegungen treten in ihrer Bedeutung zurück. Beide, Albert und Osama, werden im Fokus der Entführung auf die Grundfragen ihres eigenen Lebens zurückgeworfen, werden eingeholt von ihrer Vergangenheit. Bei Albert ist das sein Verhältnis zu seinem Vater, die Geschichte der DDR und ihres Untergangs, bei Osama sind es seine Verstrickungen in das Chaos, das ihn umgibt. Denn schon lange bevor die Milizen ihre Kriege mit archäologischen Schätzen finanzieren, blühte der illegale Handel mit dem Raubgut. Osama war als Jugendlicher selbst daran beteiligt, zusammen mit seinem Freund Abdul, den er in einer brenzligen Situation jedoch verraten hat. Diesem Abdul begegnet Osama jetzt wieder. Abdul ist der Chef der Kunsträuber, der Emir der Miliz, die Albert und Osama gefangen hält. Er entscheidet über Leben und Tod. Abdul muss glauben, dass Albert und Osama ihm auf der Spur waren, Osama muss ihm plausibel machen, dass Albert harmlos und die Entführung letztlich ein Zufall ist.
    Sherko Fatah: "Auf der anderen Seite versucht Osama die ganze Zeit, zu verstehen, wer der ist, dieser Albert, weil er muss es verstehen. Denn die Geschichte, die Albert ihm eigentlich so zuwirft, überzeugt niemanden. Die Gefahr besteht, dass er verdächtigt wird, ein Agent zu sein. Aus diesem Grund muss Osama herausbekommen: Wer ist dieser Deutsche?"
    Bilder, keine Lösungen
    Wer ist der andere und wie weit kann ich ihn verstehen? Diese Frage stand schon zwischen dem Vater und Albert, sie steht zwischen Albert und Osama, Osama und Abdul. Sie rührt an die Existenz, am "letzten Ort" wird die Antwort buchstäblich zur Überlebensfrage. Wie ist Albert an diesen Ort gekommen? Was hat ihn hierher geführt? Er wüsste nicht einmal, wofür er sterben würde, und erzählt Osama von seinem Vater, der vor dem großen Bauernkriegspanorama des DDR-Malers Werner Tübke gestanden hat und Geschichte noch erklären konnte. Nur dass Albert gerade gegen diese Erklärungen rebelliert hatte, dass seine Schwester in der DDR sogar mal wegen ihres aufmüpfigen Verhaltens verhaftet worden ist. Der Autor stellt solche Geschichten in den Raum. Zusammen mit den Ereignissen der Gegenwart bilden sie eine Art Mosaik von Situationen, in denen festgefahrene Weltbilder in Sprachlosigkeit hier und Machtdemonstrationen dort münden. Während Albert und Osama reden, bereiten ihre Entführer ein Selbstmordattentat vor. Doch soweit kommt es nicht mehr. Albert erwacht durch eine Detonation und wird von seinem Bewacher nach draußen gezogen. In einer apokalyptischen Szenerie fallen die Räume der Gefangenschaft, aber auch die Heilsräume der islamistischen Bewacher, in Schutt und Asche. Osama sieht durch ein Mauerloch amerikanische Militärfahrzeuge. Die Amerikaner müssen ihn für den Feind halten, er geht ins Innere der zerfallenden Gemäuer.
    Sherko Fatah: "Dieser Lauf von Osama durch diese Ruinen, wo er immer einen neuen Weg in einen nächsten Raum findet, das ist ja im Grunde beschleunigt noch einmal das Ganze Bauprinzip des Buches. Sie gehen von Raum zu Raum – und diese Räume sind die ideologischen Räume. Es ist ja sowieso ein Buch, in dem die Psychologie durch die Landschaften zum Ausdruck gebracht wird. Wie sieht das um mich herum aus und spiegelt mich wieder? Es ist die Einsamkeit Alberts in der Höhle am Meer, es ist genauso die Ruinenlandschaft am Schluss. Das sind ja auch innere Landschaften. Und so sind diese Innenräume, die zerstörten, diese Reste eigentlich von einstigem Alltag dann Bilder für diese ewigen Versuche, Räume überhaupt zu schaffen."
    Am Ende wird es still. Osama erreicht befreit von den Islamisten den Turm einer uralten Moschee. Er sieht Albert langsam auf die Amerikaner zugehen. "Ich würde laufen", denkt er und lächelt. Ein Happy End sieht anders aus. Aber sind jetzt beide wenigstens wieder ganz bei sich? Es bleibt vieles in der Schwebe in diesem großartigen Roman. Sherko Fatah entwirft Bilder, er liefert keine Lösungen.
    Sherko Fatah: "Der letzte Ort"
    Roman
    Luchterhand 2014, 286 Seiten, 19,99 Euro