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Shimon Stein zu Israels Annexionspläne
"Unklar, was genau am 1. Juli geschehen wird"

Die israelische Regierung will auf Grundlage des Nahost-Plans von US-Präsident Trump bis zu 30 Prozent des besetzen Westjordanlands annektieren. Dies stehe für ihn nicht im Einklang mit seiner Vorstellung von einer Zwei-Staaten-Lösung, sagte Shimon Stein, ehemaliger Botschafter Israels in Deutschland, dazu im Dlf.

Shimon Stein im Gespräch mit Christine Heuer | 30.06.2020
Der frühere Botschafter Israels in Deutschland, Shimon Stein.
Die EU solle als Vermittler Israel und Palästina ermuntern, zu Gesprächen zusammenzukommen, so Shimon Stein, Ex-Botschafter Israels in Deutschland, im Dlf. (imago / Christian Thiel)
Der Stichtag ist der 1. Juli: Von diesem Tag an könnte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Pläne seiner Regierung zur Umsetzung des umstrittenen Nahost-Plans von US-Präsident Donald Trump verkünden - und eine schrittweise Annexion von Teilen des Westjordanlands einleiten.
Die Annexionspläne sorgen international für Kritik. Viele fürchten, dass ein solcher Schritt eine neue Welle der Gewalt auslöst. Die Palästinenser lehnen den Plan ab und werfen der US-Regierung vor, einseitig zugunsten Israels Partei zu ergreifen. Die Palästinenser beanspruchen das 1967 im Sechstagekrieg von Israel eroberte Westjordanland für ihren künftigen Staat mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Die EU und Deutschland stufen eine Annexion als Verstoß gegen internationales Recht ein.
Was würde eine solche Annexion für den Nahen Osten bedeuten und wie sollte Deutschland, wie sollte die EU darauf reagieren? Zu diesem Thema sprach der Deutschlandfunk mit Shimon Stein, dem ehemaligen Botschafter Israels in Deutschland. In seiner Zeit als israelischer Botschafter in Deutschland galt Shimon Stein vielen als Hardliner an der Seite des damaligen israelischen Premierministers Ariel Sharon. Inzwischen gilt er genauso vielen als Israel-kritischer Verfechter der Rechte auch der Palästinenser.
Shimon Stein bezeichnete den Nahost-Plan Donald Trumps im Deutschlandfunk als "ganz schwierig": "Trumps Plan ist steht für mich nicht im Einklang mit meiner Vorstellung von einer Zwei-Staaten-Lösung."
Was genau am 1. Juli, dem Stichtag geschehen werde, darüber herrsche völlige Unklarheit. Über die Rolle der EU als Vermittlerin mache er sich nicht allzu viele Hoffnungen - es gebe in Europa keine einheitliche Haltung zu dem Thema, sagte Shimon Stein. Dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu sei es gelungen, einen Keil zwischen die EU-Mitgliedsstaaten zu treiben. Von Deutschland erwarte Shimon Stein mehr Engagement und eine eindeutigere Haltung - gerade aufgrund seiner besonderen historischen Verantwortung Israels gegenüber.
Shimon Stein begrüßte, dass sich die Palästinenserführung mittlerweile zu direkten Gesprächen mit Israel bereit erklärt habe - hätte sich diese Gesprächsbereitschaft aber früher gewünscht. Gespräche seien eine Möglichkeit, die Annexionspläne theoretisch zu verzögern.
Blick aus seinem Fenster auf Kinder auf der Straße im Westjordanland
Nahostkonflikt - Israels Annexionspläne im Westjordanland
Israel will ab Juli Teile des Westjordanlandes zu seinem Staatsgebiet erklären. Das sieht auch Donald Trumps sogenannter Friedensplan für den Nahen Osten vor.

Das Interview in voller Länge:
Christine Heuer: Was glauben Sie? Beginnt Israel diese Woche tatsächlich damit, das Westjordanland zu annektieren, oder zumindest sehr konkret zu sagen, wie es das vorhat?
Shimon Stein: Eine gute Frage, die ich sie am heutigen Morgen nicht so deutlich und klar beantworten kann. Um ehrlich zu sein: Alles hängt letzten Endes von der Entscheidung des Weißen Hauses ab, denn ohne ein grünes Licht von Präsident Trump, ohne eine Koordinierung mit Trump, meines Erachtens, wird Netanjahu sich nicht entscheiden, in welchem Umfang und wann soll diese Bekanntgabe der Annexion stattfinden.
"Koordinierung fand noch nicht statt"
Heuer: Wir waren nun davon ausgegangen, dass die Regierung Trump eigentlich schon mit dem Nahost-Friedensplan, den sie vorgelegt hat, dieses grüne Licht im Grundsatz gegeben hat, Herr Stein.
Stein: Im Grundsatz ist die Annexion ein Teil des Trump-Plans, aber die Koordinierung fand noch nicht statt. Letzte Woche waren Gespräche, fanden Gespräche in Washington statt und anschließend kam der amerikanische Botschafter mit einem Sondervermittler aus der USA nach Israel und hat dort Gespräche geführt. Aber wie gesagt: Bis heute herrscht Unklarheit, ob am 1. Juli und wenn am 1. Juli, was genau wird am 1. Juli passieren.
Heuer: Glauben Sie, es kommt überhaupt zu dieser Annexion?
Stein: Eine gute Frage, denn Sie haben Gantz erwähnt, der momentan noch nicht mit dem Premier einverstanden ist, wie soll man vorgehen. Und die Amerikaner beharren darauf, dass es zwischen den beiden Koalitionspartnern zu einer Übereinstimmung kommt. Gantz war gestern zitiert und sagte, das ist kein heiliges Datum, der 1., denn die Priorität ist jetzt, sich mit den Folgen der Corona-Krise beziehungsweise mit der Wirtschaftslage zu befassen. Insofern: Auch bei ihm momentan scheint diese Eindeutigkeit, bezogen auf den 1. Juli, gar nicht so klar.
Heuer: Okay. Wir wissen nicht, ob und wann es wirklich losgeht, aber die Drohung steht im Raum. Wenn es zu dieser Annexion kommt, Herr Stein, gibt es dann einen neuen Gewaltausbruch in der Region?
Stein: Wissen Sie, es gibt sehr viele Szenarien, bezogen auf was wird am Tag danach oder an dem Tag, wo Netanjahu bekannt gibt, was er vorhat, passieren. Eines der Szenarien spricht über einen Ausbruch von Gewalt in den palästinensischen Gebieten beziehungsweise in Jordanien, in den besetzten Gebieten Judäa und Samaria. Andere sprechen über einen Ausbruch in Gaza von Seiten der Hamas. Die Antwort oder Reaktion von Hisbollah ist auch unbeherrschbar. Aber es ist möglich, dass es nicht unbeantwortet über die Bühne laufen wird. Das alleine macht mir aber nicht die Sorge, Frau Heuer.
Annexionspläne mit Gesprächen "theoretisch verzögern"
Heuer: Moment! – Moment! – Herr Stein, ich möchte da noch mal eine Frage stellen, weil wir heute Morgen auch lesen, dass die Palästinenser signalisieren, sie seien nun wieder zu direkten Gesprächen mit Israel bereit. Macht Ihnen das nicht Hoffnung?
Stein: Mich macht es. Ich habe auf diesen Vorschlag, auf diese Initiative, die mir noch nicht so klar ist, gewartet, denn in der Tat steht es, dass die Palästinenser dem Quartett nun endlich ihre Bereitschaft übermittelt haben. Ich hätte mir gewünscht, diese Bereitschaft wäre früher gekommen, denn sie hätte die Karten auch eingemischt. Ich glaube, dass die Amerikaner, dass der Präsident Trump auf eine solche Initiative reagieren würde. Aber wie auch immer: Ich begrüße eine palästinensische Bereitschaft, denn gemeinsam mit dem Trump-Plan könnte es eine Basis sein, um zu verhandeln und damit auch dann die Annexionspläne theoretisch zu verzögern, denn für uns oder für mich geht es eigentlich darum, die Monate bis zu den Wahlen so auszudehnen, dass eine konkrete Entscheidung über die Annexion ausstehen wird. Insofern auf Ihre Frage: Ja, ich freue mich, wenn es soweit ist, denn das könnte vielleicht zu einer neuen Überlegung führen, ob man jetzt mit der Annexion anfängt, oder zunächst das anfängt, was mein seit 2014 von den Palästinensern erwartet, nämlich weiter die Diskussion fortzusetzen, auch jetzt das zu tun.
Donald Trump (r), Präsident der USA, und Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident von Israel, treffen zu einer Zeremonie im Ostsaal des Weißen Hauses ein.
Israel und Palästina - Trumps Nahost-Plan
US-Präsident Donald Trump und der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu haben einen Friedensplan für den Nahen Osten vorgelegt. Vertreter der Palästinenser wurden allerdings nicht mit einbezogen.
Heuer: Herr Stein! Aber wir waren eigentlich verabredet, um eine Krise und drohende Gefahr durch diese Annexionspläne zu besprechen, und nun stellt sich in unserem Gespräch heraus, eigentlich ist jetzt wieder Bewegung in der Sache und man kann vielleicht sogar die Hoffnung haben, dass alles etwas besser und etwas friedlicher wird. Es stellt sich die Frage, macht da die israelische Regierung, vielleicht macht auch Donald Trump da nicht vieles richtig?
Stein: Ob er wirklich alles richtig macht oder nicht, wird sich herausstellen. Sein Plan ist für mich ganz schwierig. Er steht für mich nicht im Einklang mit meiner Vorstellung einer Zwei-Staaten-Lösung. Wir haben keine Zeit, jetzt über die Einzelheiten des Trump-Plans zu sprechen, aber ich meine, das ist ein ganz schwieriger Plan. Aber wie auch immer: Wenn dieser Plan und ein palästinensischer Plan auf dem Verhandlungstisch liegen, dann können wir zumindest über diese Hoffnung, über die Sie sprechen, nachdenken, dass man miteinander spricht und nicht einseitige Entscheidungen gefällt werden, die meines Erachtens nicht in strategischen und im zionistischen Interesse des Staates Israel sind.
"Von Deutschland habe ich mehr erwartet"
Heuer: Deutschland, Herr Stein, übernimmt morgen die EU-Ratspräsidentschaft. Es übernimmt auch den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat. Was kann Deutschland, was kann die EU, was kann auch die Weltgemeinschaft in dieser Situation beitragen, um die Dinge auf einen besseren Weg zu leiten? Was erwarten Sie da?
Stein: Die Parteien zu ermuntern, noch einmal an dem Tisch zusammenzukommen und über die verschiedenen Alternativen zu verhandeln. Was die Europäische Union anbelangt, mache ich mir momentan keine große Hoffnungen, weil die Europäische Union als solche ist in dieser Sache zerstritten. Es ist Premier Netanjahu gelungen, einen Keil innerhalb der Europäischen Union zu treiben, so dass Ungarn für unsere Interessen sorgen wird, damit es keinen Konsensus gibt, bezogen auf eine europäische Reaktion. Und was Deutschland anbelangt: Von Deutschland habe ich eigentlich etwas mehr erwartet, dass hier die Bedeutung der historischen Verantwortung für den Staat Israel anders vor dem Hintergrund der Annexion interpretiert wird und es nicht so belässt, wie es momentan der Fall ist.
Heuer: Deutschland soll sich stärker engagieren? Das ist richtig, ja oder nein, Herr Stein?
Stein: Ja, und zwar eindeutig.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.