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Siamesische Zwillinge mit Gruseleffekt

Die siamesischen Zwillinge Paul und Paco wurden als Kinder operativ getrennt, kommen aber beide unterschiedlich gut damit zurecht. Mit maliziösem Einfallsreichtum strickt Linda Stift ihre Geschichte um die ungleichen Brüder und die Mechanismen von Abgrenzung und Eroberung.

Von Katrin Hillgruber |
    Eine Schere aus schwarzem Gusseisen scheint schwer auf dem Buchumschlag zu liegen. Sie zerschneidet einen weißen Leinenstoff. Zerschnitten wurde einst auch die Verbindung zwischen den Brüdern Paul und Paco. Im Kindergartenalter wurden die siamesischen Zwillinge operativ getrennt. Während für Paul die Schere seine Befreiung von dem lästigen, aufdringlichen Paco symbolisiert, ist dieser bis heute nicht über die Trennung hinweggekommen. Paco, der mittelmäßige Schauspieler, nimmt jede Nacht eine Puppe als Bruderersatz mit ins Bett. Der introvertierte, aber freiheitsliebende Paul dagegen wird oft von einem Albtraum heimgesucht.

    Ein entsetzlich vertrautes Gesicht ist an meiner rechten Seite. Das kann nur eine Sinnestäuschung sein. Früher habe ich oft davon geträumt und bin schweißgebadet und zitternd aufgewacht. Die Welt war dann wieder ganz klein und eng. [ ... ] Ich möchte mich aufrichten, aber ich werde durch das Gewicht zurückgehalten. Es zerrt an mir. Mir wird übel. [ ... ] Jetzt erst bemerke ich, dass Paco neben mir liegt, und nach einigen endlos langen Sekunden begreife ich, dass ich keiner Sinnestäuschung unterliege.

    Auch in ihrem dritten Roman mit dem treffsicheren Titel "Kein einziger Tag" erweist sich Linda Stift als Spezialistin für unausweichliche Konstellationen und subtile Unterdrückungsmanöver. Stets geht es in ihren psychologisch dicht gewobenen Settings um die Mechanismen von Abgrenzung und Eroberung. Ein Ideal wie die Bruderliebe gerät bei Stift, die ihre Protagonisten bevorzugt in enge Räume zwängt, zur Vorstufe der Hölle. "Das Leben ist kannibalisch. Das eine Ich frisst das andere", zitiert sie Tennessee Williams. Aber verleugnet sich Paul nicht auch ein wenig selbst, wenn er seinen Bruder so sehr ablehnt?

    Paco gab dubiose Charaktere in zweitklassigen Fernsehserien, die mich manchmal erwischten, wenn ich das Gerät nicht schnell genug ausschaltete. Dann wurde ich mit meinem Gesicht und Körper konfrontiert. In pseudoeleganten Aufmachungen oder in peinlich bunter Sportkleidung, sonderte ich schlecht geschriebene Dialoge ab, die mir Gänsehaut verursachten, und küsste mit ehrlicher Begeisterung magersüchtige und farblose Blondinen.

    Bereits in ihrem 2005 erschienenen Debütroman "Kingpeng" hatte Linda Stift ihr dramaturgisches Talent für ungesunde Symbiosen bewiesen: Die geschwisterliche Verbundenheit zwischen den Jungunternehmern Kinga und Nick droht unter Druck von außen mehr und mehr ins Inzestuöse zu kippen. Eindringlinge treten auf den Plan, in diesem Fall neureiche Nachbarn, die ihre Macht erproben wollen. Nun erzählt sie von einem Brüderpaar, das sich in Hassliebe verzehrt. Worin liegt für die Autorin der besondere Reiz von Geschwisterkonstellationen?

    "Ich kann es gar nicht sagen, also, ich bin ein Einzelkind, und vielleicht hat das damit irgendwie zu tun. In Phasen meiner Kindheit oder Jugend habe ich mir vorgestellt, wie das wäre mit Geschwistern oder einem älteren Bruder. Habe mir auch welche gewünscht und vielleicht habe ich mir meine Geschwister hergeschrieben. Also ich finde es faszinierend, das Thema Zwillinge überhaupt. Die Ursprungsidee des Buches war die, dass sich zwei Freunde treffen nach langer Zeit und, also dass quasi einer den anderen besucht und eigentlich nicht mehr weggeht, sich da einnistet. Und irgendwie war dann die Idee, dass sie dann vielleicht Brüder sind. Und dann habe ich mir gedacht: Ach, mach es doch ganz wild, mach doch Zwillinge, und dann eben die siamesischen Zwillinge."

    Auch in Linda Stifts zweitem Roman "Stierhunger" hat sich die Ich-Erzählerin ihre Autonomie mühsam erkämpft. Ihr ganzer Stolz ist ihre Wohnung, in der sie sich jedoch bald nicht mehr sicher fühlt. Denn als die labile junge Frau in das Fangnetz zweier militanter Anhängerinnen der Kaiserin Sisi gerät, ist es mit ihrem freien Willen vorbei. So wie die Autorin die Perspektive des weiblichen Opfers aus "Stierhunger" in aller Konsequenz einnahm, so schlüpft sie nun in den glücklich getrennten Zwilling Paul. Er ist mächtig stolz auf seine Operationsnarbe, die für ihn eine Art Sicherung der eigenen Außengrenze symbolisiert. Umso größer sein Entsetzen, als Bruder Paco eines Tages vor der Tür steht. Impertinent wie eh und je beginnt er, sich bei ihm einzunisten. Dazu meint Linda Stift:

    "Die Idee hat mich fasziniert dass man nicht mehr in der Lage ist, sich da irgendwie herauszufinden. Einerseits bei 'Stierhunger': Die ist ja dann gezwungen worden mehr oder weniger in die andere Wohnung zu gehen und hier ist es umgekehrt, es kommt jemand in die Wohnung und geht nicht mehr weg. Diese Machtverhältnisse eben, also dass jemand so wenig Macht hat, dass er seine Grenzen gar nicht mehr verteidigen kann."

    Trotz einiger Allgemeinplätze aus der Zwillingsforschung und Austriazismen wie "das Keks" statt "der Keks" entfaltet der Roman eine mächtige Sogwirkung. Denn während Paco in der Küche seines Bruders ungefragt für eine neue Fernseh-Kochshow übt, hütet Schreibwarenhändler Paul im Keller ein dunkles Geheimnis. Hat er dort ein Tier oder einen Menschen eingesperrt? Nicht nur durch die Kriminalfälle Kampusch und Fritzl entsteht an dieser Stelle ein sehr spezieller Gruseleffekt, der allerdings dramaturgisch nicht recht überzeugt.

    Jedenfalls kann Paul nur vor diesem sogenannten Tier im Keller als singuläre Existenz erscheinen, während seine oberflächliche Freundin längst zu Paco übergelaufen ist. Und der kennt nur ein Ziel: Die Wiedervereinigung mit seinem Zwillingsbruder im Rahmen einer chirurgischen Casting-Show, bei der die Teilnehmer nach einer ersten vom Publikum bestimmten Operation die zweite frei wählen können. Wird das ein Wunschtraum bleiben? Bei Linda Stifts maliziösem Einfallsreichtum kann man nie sicher sein.

    Linda Stift: "Kein einziger Tag".
    Roman. Deuticke Verlag, Wien 2011. 175 Seiten, 16,90 Euro.