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Sicherheit der europäischen Staatsbürger aufs Spiel gesetzt

Ensminger: Es sieht gar nicht gut aus im Nahen Osten, und selbst die diplomatischen Vertreter, die zur Zeit in der Region unterwegs sind, geben sich nicht sehr optimistisch, was eine mögliche Rückkehr der Konfliktparteien an den Verhandlungstisch betrifft. UNO-Generalsekretär Annan soll gestern vor dem Sicherheitsrat gesagt haben, dass er keine Chance für ein Ende der gegenwärtigen Abwärtsspirale sehe, wenn nicht endlich der Kern des Nahostproblems angepackt werde - die Besetzung, die Gewalt, der Terrorismus und die wirtschaftliche Not der Palästinenser. Der israelische Ministerpräsident Scharon bot nach eigenen Angaben dem EU-Nahost-Beauftragten Moratinos an, europäische Diplomaten könnten Arafat mit einem Hubschrauber ausfliegen. Bedingung sei jedoch, dass er nicht wieder in die Palästinensergebiete zurückkehre. Am Telefon ist jetzt der stellvertretende Repräsentant der Europäischen Kommission für Gaza und Westbanks, Nadim Karkutli. Guten Morgen.

    Karkutli: Guten Morgen.

    Ensminger: Herr Karkutli, wie beurteilen Sie denn zur Zeit die Situation?

    Karkutli: Ja, ich denke ähnlich wie der UNO-Generalsekretär. Die Lage ist natürlich nicht nur äußerst kritisch, sondern in einer Abwärtsspirale, die im Moment nicht aufzuhalten scheint.

    Ensminger: Wer hat denn da versagt?

    Karkutli: Ich denke, die internationale Diplomatie hat sicherlich versagt; das ist eine Niederlage für die Diplomatie. Die Gewalt hat obsiegt im Moment, und es sieht im Moment nicht so aus, als ob sich das verändern würde - und das trotz einer Konstellation, wie wir sie eigentlich lange nicht hatten, nämlich dass eigentlich seit schon den ausgehenden letzten Wochen der Clinton-Administration in Washington sich eine internationale Zusammenarbeit zwischen Europa, den Amerikanern und anderen Staaten bezüglich der Lösung des Konfliktes herauskristallisiert hat. Aber selbst diese Zusammenarbeit konnte es, was wir jetzt sehen, nicht verhindern.

    Ensminger: Trotzdem soll es heute abend eine Sondersitzung der EU-Außenminister geben. Was kann, was muss die EU denn eigentlich tun?

    Karkutli: Ja, das ist sicherlich eine gute und schwierige Frage. Diese Frage werden sich die EU-Außenminister heute abend auch stellen müssen. Zur Zeit ist der EU-Sonderbotschafter Miguel Moratinos hier - seit Samstagabend. Er hat versucht, mit Präsident Arafat sich zu treffen, und zwar zusammen mit dem amerikanischen Sondergesandten Zinni und dem UNO-Sondergesandten. Das ist von israelischer Seite nicht ermöglicht worden, so dass im Moment auch kein direkter Kontakt - außer zwei Telefonanrufen - besteht. Es gab auch weiter keine Möglichkeit, mit den Israelis über eine Einstellung der Angriffe zu verhandeln. Das wird im Moment offenbar durchgezogen, so dass, wenn die EU-Außenminister sich heute abend in Brüssel treffen, sie sich einige sehr schwierige Fragen stellen müssen, insbesondere die Fragen bezüglich der Grundkoordinaten, die bis jetzt für eine Friedenslösung sicher galten. Und das ist insbesondere das Bestehen der mit den Oslo-Verträgen geschaffene palästinensischen Autonomiebehörde und die Tatsache des seinerzeit demokratisch gewählten Präsidenten Arafat. Denn das, was wir in den letzten zwei, drei Tagen gesehen haben, ist letztlich ein komplettes Zusammenbrechen der Autonomiebehörde hier in der Westbank durch die Israelis - hier in den fünf autonomen Städten und mit dem Angriff auf das Sicherheitshauptquartier gestern in Ramallah und dessen Aufgabe und Zerstörung. Es gibt keine wesentliche effektive Ordnungsstruktur von palästinensischer Seite, die in Zukunft zum Kampf gegen den Terrorismus beitragen könnte - und die Situation von Präsident Arafat kommt noch dazu, so dass also insgesamt die Frage ist - die Frage auch an die Israelis natürlich und an die Amerikaner: Was ist am Tag danach? Wie soll das, wenn das mal vorbei ist, was soll danach passieren? Ich denke, diese ganz, ganz schwierigen Fragen - die gesamten Grundkoordinaten einer Friedenslösung sind im Moment nicht mehr vorhanden oder sie sind schwer durcheinander. Und insofern wird das sicherlich eine schwierige Sitzung heute abend.

    Ensminger: Wenn ich das richtig verstehe, ist eigentlich schon alles zu spät. Auch seitens der EU kann man nicht mehr vermitteln.

    Karkutli: Ja, die Vermittlungsversuche - wie ich bereits sagte - hier vor Ort, auch per Telefon, waren nicht von Erfolg gekrönt. Ob alles zu spät ist, das ist eine andere Frage. Es ist sicherlich alles zu spät für die unschuldigen Zivilisten auf israelischer und palästinensischer Seite, die in den letzten Wochen - und das ist ja seit Anfang März sehr eskaliert - ihr Leben verloren haben.

    Ensminger: Jetzt sind ja in den verschiedenen Gebieten - in den palästinensischen Gebieten - auch noch europäische Staatsangehörige, Staatsbürger. Was ist denn mit denen?

    Karkutli: Ja, das ist sehr unerfreulich, um mich milde auszudrücken. Die Botschafter und Generalkonsuln der EU-Mitgliedsstaaten hier vor Ort haben in den letzen zwei Tagen mit allen Mitteln versucht, ihre konsularischen Schutzrechte nach der Wiener Konvention durchzusetzen, zu ihren Staatsbürgern selber vorzudringen - sie entweder selbst zu versorgen oder sie zu evakuieren, vor allen Dingen aus Ramallah. Dies ist von israelischer Seite - von der Armee - verwehrt worden. Ein Konvoi mit den europäischen Vertretern ist gestern auf dem Weg nach Ramallah von der Armee aufgehalten und mit Waffengewalt zurückgezwungen worden. Und das einzige Angebot, das von israelischer Seite kam, war, dass während der zwei- bis dreistündigen Aufhebung der Ausgangssperre - dass eben diese Staatsbürger auf eigenem Weg sich aus der Stadt begeben könnten oder eben, dass die israelische Armee diese Staatsbürger evakuieren könnte. Beides ist letztlich inakzeptabel, und insofern ist die Situation durchaus dramatisch, wenn man einige Staatsbürger, die bleiben wollen - ich spreche jetzt von den regulär in Ramallah lebenden, es gibt sehr viele Palästinenser mit europäischen Pässen, dazu gibt es auch sehr viele Leute, die in Ramallah arbeiten an Entwicklungsprojekten; ähnlich ist es in Bethlehem. Wir werden eventuell heute versuchen - die Briten haben es gestern erfolglos versucht - Staatsbürger aus Bethlehem zu evakuieren. Sie sind auch nicht reingelassen worden. Also, alles das ist sehr unerfreulich, weil vor allem die Sicherheit dieser europäischen Staatsbürger enorm aufs Spiel gesetzt wird.

    Ensminger: Herr Karkutli, wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg in Ihren Vermittlungsbemühungen. Nadim Karkutli war das, stellvertretender Repräsentant der europäischen Kommission für Gaza und die Westbank.

    Link: Interview als RealAudio