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Sicherheitsexperte: NATO läuft die Zeit weg

Die NATO hat ihre Angriffe auf die libysche Hauptstadt Tripolis intensiviert. Marco Overhaus, Sicherheitsexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, hält das momentan für den einzig gangbaren Weg, fordert aber, die politische Dimension stärker zu berücksichtigen.

Marco Overhaus im Gespräch mit Anne Raith |
    Anne Raith: Seit bald zwei Monaten bombardiert die Militärallianz Ziele in Libyen, ohne das gewünschte Ziel erreicht zu haben, denn noch immer kommen Zivilisten um, noch immer hält Gaddafi an der Macht fest. In der vergangenen Nacht hat die NATO nun ihre Angriffe intensiviert. Binnen einer halben Stunde sollen mehr als 20 Explosionen die Hauptstadt erschüttert haben, damit war es der heftigste Angriff seit Beginn der Luftangriffe auf Tripolis. Mitgehört hat Marco Overhaus, er arbeitet bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und forscht über die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU und über das internationale Krisenmanagement mit zivilen und vor allem militärischen Mitteln. Guten Tag, Herr Overhaus.

    Marco Overhaus: Schönen guten Tag, Frau Raith.

    Raith: Läuft dem Westen die Zeit davon, oder was lesen Sie aus diesem Großangriff und vor allem auch aus dem Einsatz von Kampfhubschraubern?

    Overhaus: Ich würde sagen, die jetzige Eskalation, die militärische Eskalation, ist im Grunde vor dem Hintergrund der Situation konsequent, insofern, dass es der einzige Ausweg zu sein scheint, um zu verhindern, dass eine von zwei Situationen eintritt, die man in jedem Fall in den westlichen Hauptstädten verhindern möchte: zum einen ein Sieg Gaddafis über kurz oder lang und zum anderen, was momentan wahrscheinlicher erscheint, ein nicht enden wollender zäher militärischer Konflikt auf niedriger Flamme, der längerfristig mit enorm hohen Kosten für die Zivilbevölkerung verbunden wäre.

    Raith: Das heißt, für Sie ist das die richtige Strategie, diese festgefahrenen Fronten nun aufzuweichen?

    Overhaus: Na ich würde sagen, es ist derzeit nach Stand der Dinge der einzig gangbare Weg. Die Versäumnisse des Westens gegenüber Libyen sehe ich eher sozusagen früher angesiedelt, vor dem Beginn der militärischen Intervention im März, wo man im Grunde auf politischer Ebene erst angefangen hat, intensiv über Libyen zu beraten, als man nur noch die Wahl hatte zwischen zwei Übeln, nämlich nicht militärisch zu handeln und damit in Kauf zu nehmen ein Massaker im Osten des Landes, oder eben militärisch mit hohem Risiko zu handeln und sozusagen auch angezogener Handbremse.

    Raith: Aber die Opfer dieser Angriffe sollen, so heißt es zumindest, ja auch Zivilisten gewesen sein. Das würde doch dann wieder Gaddafi in die Hände spielen?

    Overhaus: Selbstverständlich. Das meine ich mit Risiko. Jedes militärische Handeln birgt das Risiko von zivilen Opfern, was immer der Gegenseite in die Hände spielt. Das ist ja letztendlich auch jetzt der Grund, warum Franzosen und Briten ins Spiel gebracht haben, ihre Kampfhubschrauber einzusetzen, um eben dieses Risiko ein Stück weit besser kontrollieren zu können.

    Raith: Aber würden Sie sagen, der Einsatz dieser Kampfhubschrauber wird von der UNO-Resolution gedeckt?

    Overhaus: Nun, ich würde sagen, dass die UNO-Resolution selbst ja sehr viel Spielraum lässt, was militärisch machbar ist und nicht, solange eben das Ziel bleibt, die Zivilbevölkerung zu schützen. Also insofern von Seite der UNO-Resolution sehe ich da keine Beschränkung.

    Raith: Heißt das, dass unter Umständen auch Bodentruppen folgen?

    Overhaus: Na ja, Bodentruppen sind nach wie vor das heiße Eisen, an das sich niemand heranwagen will. Es ist etwas umstritten, ob Bodentruppen zulässig wären oder nicht unter der UN-Resolution. Die Resolution spricht ja selbst nur von Besatzungstruppen. Aber ich sehe momentan nicht den politischen Willen, nicht einmal in Frankreich oder Großbritannien, umfassend Bodentruppen einzusetzen. Es geht eher um Spezialkräfte, die vor Ort die Effektivität der militärischen Schläge verbessern sollen.

    Raith: Die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton hat jetzt auch weitere NATO-Staaten aufgerufen, sich zu beteiligen. Haben Sie das Gefühl, der NATO geht langsam die Kraft aus, diesen Druck auf Gaddafi aufrecht zu erhalten?

    Overhaus: Die NATO ist natürlich ein Bündnis demokratischer Staaten. Alle Regierungen in diesem Bündnis müssen sich den innenpolitischen Forderungen stellen, und da steigt natürlich der Druck insbesondere auch der Parlamente, und insofern läuft, so kann man das sagen, der NATO die Zeit auch weg. Das Grundproblem, das wir jetzt haben, ist, dass wir sehr stark über militärische Lösungen, über das Militärische debattieren, während die politische Dimension, also die Frage, wie ein politischer Prozess aussehen könnte, vollkommen hinterherhinkt.

    Raith: Glauben Sie denn, um noch mal kurz anzuschließen, die Verbündeten haben mit schnelleren Ergebnissen gerechnet? Dauert dieser Einsatz schon länger als gedacht?

    Overhaus: Ich denke, man hat in jedem Fall darauf gehofft, schneller Ergebnisse zu erzielen. In den ersten Tagen nach dem Beginn der militärischen Intervention Mitte März sah es ja auch so aus. Allerdings denke ich auch, dass man im Grunde genommen keine wirklich klare Strategie hatte für den Fall, dass es eben dann doch deutlich länger dauern würde, und insofern ist jetzt eben ad hoc Krisenmanagement gefragt.

    Raith: Wie könnte denn dieses Krisenmanagement nun aussehen in dieser Situation?

    Overhaus: Man muss vor allen Dingen versuchen, die politische Dimension des Libyen-Konflikts stärker in den Vordergrund zu stellen. Das ist ja jetzt auch bereits geschehen in Ansätzen, in zu kleinen Schritten, wie ich finde. Beispielsweise werden zunehmend Kontakte aufgenommen direkt mit den Akteuren vor Ort, zunächst einmal vor allen Dingen in Bengasi. Die Europäische Union hat kürzlich ein Verbindungsbüro eröffnet. Das alles deutet ja darauf hin, dass man erkennt, dass der politische Prozess zumindest eruiert werden muss, dass man herausfinden muss, wer sind die Akteure, wo gibt es möglicherweise Gemeinsamkeiten und wie kann eigentlich der politische Prozess das Militärische, das jetzt doch sehr stark dominiert, sinnvoll flankieren.

    Raith: Flankieren, sagen Sie, eventuell auch ablösen. Wann könnte denn ein politischer Prozess den militärischen ablösen? Wann gilt die Resolution als umgesetzt?

    Overhaus: An dem Punkt sind wir jetzt natürlich noch nicht, die Kämpfe dauern an. Aber gute Politik zeichnet sich ja auch dadurch aus, dass man bereits frühzeitig Planungen macht, frühzeitig Kontakte zu allen Akteuren aufnimmt und eruiert und herausbekommt, welche Verhandlungsmöglichkeiten es sozusagen gibt. Das Militärische kann ja nur ein Mittel sein, um an der einen oder anderen Stelle Druck auszuüben. Letztendlich steht und fällt - und das ist das große Problem natürlich - jeder politische Prozess mit der Zukunft Gaddafis. Es ist ja kaum vorstellbar, dass Gaddafi selbst an der Macht bleibt, mit ihm ist ein politischer Prozess kaum zu machen.

    Raith: Einschätzungen von Marco Overhaus von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin über die Lage in Libyen nach den Großangriffen der NATO vergangene Nacht. Herzlichen Dank für das Gespräch!

    Overhaus: Sehr gerne! Auf Wiederhören.