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"Sie nutzen jeden denkbaren Trick, den Versicherten abzuwimmeln"

Der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Karl Lauterbach, hat deutlich gemacht, dass Versicherte bei Pleite-Kassen von anderen Krankenkassen aufgenommen werden müssen. Zudem setzte er sich für eine baldige Abschaffung des neuen Zusatzbeitrages ein. Es wäre besser, die Kosten wieder zu gleichen Teilen auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu verteilen.

Karl Lauterbach im Gespräch mit Dirk Müller |
    Dirk Müller: Daniel Bahr heißt der neue Bundesgesundheitsminister. Der FDP-Politiker hat in den kommenden Monaten alle Hände voll zu tun, denn neben einer Reform der Pflegeversicherung werden dem Liberalen auch die Krankenkassen wieder einmal schwer zusetzen, denn von guten Zahlen können die deutschen Krankenkassen seit längerem nur träumen.

    Die Krankenversicherung City-BKK ist bankrott und die nächsten Insolvenzen sind bereits fest eingeplant. 168.000 Versicherte sind akut davon betroffen, viele davon stehen bei anderen Kassen deshalb auch vor verschlossenen Türen. "Wir haben genug mit unseren eigenen Mitgliedern zu tun", heißt es oftmals. Die Neukunden sind oft zu alt und oft auch zu teuer.

    Die Finanznot einzelner Kassen wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf viele weitere Versicherungen ausweiten. – Darüber sprechen wollen wir nun mit Karl Lauterbach, gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag. Guten Morgen.

    Karl Lauterbach: Guten Morgen, Herr Müller.

    Müller: Herr Lauterbach, haben wir schon amerikanische Verhältnisse?

    Lauterbach: Nein, aber wir nähern uns hier ganz klar solchen Verhältnissen. Was bisher schon immer das Problem war, dass bei uns ältere Menschen, behinderte Menschen, kranke Menschen sich nicht privat versichern konnten. Die privat Versicherten, das sind in der Regel gut verdienende junge Menschen, die anderen werden nicht aufgenommen.

    Jetzt wird dieses System übertragen in die gesetzliche Krankenkasse, jetzt wird selbst in der gesetzlichen Krankenkasse derjenige, der älter ist, derjenige, der behindert ist, derjenige, der chronisch krank ist, mit dem Signal konfrontiert, er ist kein willkommener Kunde. Das ist natürlich für unser Solidarsystem, wie wir es gekannt haben, verheerend.

    Müller: Aber nicht willkommen zu sein ist immerhin besser, als gar kein Mitglied zu sein.

    Lauterbach: Na ja, also zunächst einmal: Natürlich kann man hier Mitglied werden, aber die Kassen nutzen jeden denkbaren Trick. Zum Teil verweisen sie sogar darauf, dass sie für die bestimmte Krankheit keine guten Angebote haben. Sie nutzen jeden denkbaren Trick, den Versicherten abzuwimmeln. Zum zweiten werden auch sehr viele Leistungen derzeit gestrichen. Die Krankenkassen versuchen durch die Hintertür zum Beispiel, die Mutter-Kind-Kuren zu streichen, da ist ein Drittel weniger bewilligt worden, um die Zusatzbeiträge zu verhindern. Das geht also jetzt auch schon zu Lasten der Versorgung, es ist nicht nur das Abwimmeln von Versicherten.

    Müller: Warum lässt das die Politik zu, dass die Krankenkassen offensichtlich tricksen können?

    Lauterbach: Im Wesentlichen beklagen ja auch Union und FDP hier die Folgen ihrer eigenen Reform. Der Zusatzbeitrag wird dramatisch ansteigen in den nächsten Jahren, weil der Arbeitgeberbeitrag komplett eingefroren ist. Man hat ja, um den Arbeitgebern im Prinzip die Herausforderungen der steigenden Kosten zu ersparen, folgendes gemacht: jede weitere Kostensteigerung läuft in diesen Zusatzbeitrag. Daher müssen die Kassen verzweifelt versuchen, den Zusatzbeitrag zu verhindern, da nutzen auch die guten Worte des Ministers nichts, Herrn Bahr. Das ist im Prinzip die Folge seiner eigenen Reform.

    Eine Krankenkasse, die Zusatzbeiträge nehmen muss, hat langfristig in diesem Markt keine Chance. Daher kommen wir in eine Lage, wo die Kassen nur noch ein Ziel haben: nicht mehr die Qualität der Versorgung, nicht mehr die Vorbeugung, nicht mehr die Service-Orientierung, sondern sie müssen ausschließlich versuchen, den Zusatzbeitrag zu verhindern, weil sie sonst die guten, gesunden und einkommensstarken Mitglieder sofort verlieren.

    Müller: Jetzt blicken wir, Herr Lauterbach, noch einmal auf die bankrott gegangene City-BKK. Jetzt stehen Tausende, wie wir jetzt gelesen haben, vor verschlossenen Türen. Das heißt, sie bekommen keine neue Versicherung. Dürfen das die Krankenkassen?

    Lauterbach: Nein, das ist völlig ungesetzlich. Wie gesagt, das sind Tricks der Kassen. Keine Kasse darf ein Mitglied der gesetzlichen Krankenkassen, der also versicherungspflichtig ist oder sich freiwillig versichern kann und will, ablehnen. Das ist überhaupt nicht möglich, rechtlich zumindest. Aber es ist natürlich sehr schwer zu verhindern.

    Was ich den Menschen rate ist, sofort eine Beschwerde, entweder beim Bundesversicherungsamt oder aber bei der zuständigen Landesbehörde oder beim Verbraucherschutz. Die Adressen sind jeweils im Internet abzurufen.

    Auch der Minister Bahr muss sofort handeln. Hier ist der Tatbestand so gravierend, dass man sogar die Vorstandshaftung überlegen muss, dass man also hier die Vorstände, die ja zurecht gut verdienen. Aber die stellen ihr eigenes, sehr hohes Einkommen in Frage in ihrer Vorstandsfunktion, wenn sie das bei ihrer Kasse zulassen, dass Mitglieder abgelehnt werden, obwohl sie ein Recht haben, Kassenmitglieder zu werden.

    Müller: Jetzt sagen Sie, die Patienten sollen sich beschweren. Das werden viele bestimmt auch tun. Aber was machen diese Patienten jetzt, diese Mitglieder, die keine Versicherung mehr haben und sich jetzt, heute, morgen, übermorgen, behandeln lassen müssen?

    Lauterbach: Na ja, die Kasse, wo sie gewesen sind, muss weiter alle Rechnungen bezahlen. Das heißt, Gott sei Dank ist hier keine Rechtslücke, sondern man kann weiter zum Arzt gehen. Das ist auch sehr wichtig, dass die Menschen das wissen. Die Rechnung muss bezahlt werden von der alten Kasse. Das wird aus der Insolvenzmasse nachher sogar noch bezahlt. Es ist nicht so, dass derjenige, der jetzt beispielsweise von der City-BKK weg geht oder nicht mehr dort versichert ist, die Rechnung nicht bezahlt bekommt. Niemand ist in einer Versicherungslücke; diese Lücke ist Gott sei Dank rechtlich geschlossen.

    Müller: Sie sagen, durch die Insolvenzmasse wird das alles abgedeckt. Auf der anderen Seite kennt ja niemand diese Insolvenzmasse.

    Lauterbach: Wenn die Insolvenzmasse nicht ausreicht, dann muss zum Schluss der Verbund aller Krankenkassen dafür haften. Also es gibt nie die Situation, dass aus der Insolvenz bedingt die Rechnungen des Versicherten einer Pleitekasse nicht bezahlt werden.

    Müller: Könnte jetzt der Arzt hingehen und sagen, das ist mir zu unsicher, wir machen jetzt erst mal nur Behandlung B anstatt Behandlung A?

    Lauterbach: Das darf kein Arzt, das machen Ärzte auch nicht. Das haben wir zum Glück bisher nicht beobachtet. Bei Ärzten gibt es andere Probleme, was die Krankenkassen angeht. Sie bevorzugen privat Versicherte sehr häufig. Aber wir beobachten zum Glück zum jetzigen Zeitpunkt nicht, dass die Mitglieder der City-BKK Nachteile bei der Behandlung haben. Offenbar sind Ärzte sich im Klaren, dass diese Rechnungen von der City-BKK noch bezahlt werden müssen, und das ist auch garantiert.

    Müller: Herr Lauterbach, an diesem Wochenende haben ja auch führende Gesundheitsexperten der Union, der CDU, der FDP gesagt, wir müssen diese Kassenchefs in Haftung nehmen. Das haben Sie eben auch noch einmal hier im Deutschlandfunk gesagt und gefordert. Ist das realistisch, wird man das tun?

    Lauterbach: Das sollte man tun, auf jeden Fall. Das ist aus meiner Sicht der größte Verstoß gegen die Aufsichtspflicht innerhalb einer Kasse, den wir in den letzten Jahren gesehen haben. Einiges war zu beobachten, zum Beispiel einige Kassen werben ganz gezielt nicht am Bau, weil sie keine Bauarbeiter als Mitglieder haben wollen. Also es gab auch vorher schon Verstöße. Aber das hier ist im Prinzip so gravierend, dass hier tatsächlich die Vorstandshaftung geprüft werden muss.

    Müller: Weitere Insolvenzen sind bereits fest eingeplant. Das hatte ich in der Anmoderation gesagt. Viele Beobachter haben davon gesprochen an diesem Wochenende. Ist das für Sie auch ausgemachte Sache, dass es so kommen wird?

    Lauterbach: Ich glaube ganz sicher, dass es mittelfristig, das heißt in den nächsten fünf Jahren, zu vielen Insolvenzen kommen wird, weil der Zusatzbeitrag, der ist ja nach oben nicht mehr gedeckelt, der kann in wenigen Jahren 50 bis 70 Euro pro Monat betragen. Keine Kasse wird in der Lage sein, diese Zusatzbeiträge einzutreiben, ohne dass die Einkommensstarken die Kasse sofort verlassen, denn diese bekommen auch gar keinen Sozialausgleich, die müssen das netto bezahlen, und dann gehen die Mitglieder natürlich zu einer Kasse, wo das nicht anfällt. Und das ist das Problem. Das Problem ist der Zusatzbeitrag selbst. Der führt zu einem Wettbewerb, der im Wesentlichen nicht mehr um die Qualität geht, sondern nur noch um die Vermeidung von Kosten. Die Reform von Schwarz-Gelb muss zurückgedreht werden.

    Müller: Und Daniel Bahr wird mit Ihnen eventuell darüber reden können?

    Lauterbach: Also ich stehe jeder Zeit bereit. Ich halte Bahr für jemanden, der das zumindest gut verstehen muss, und er tut sich selbst keinen Gefallen als Gesundheitsminister, wenn er diese Reform so laufen lässt, weil das ist ja erst der Anfang des Problems, das ist ja die Spitze des Eisbergs. Jetzt sind die Zusatzbeiträge ja nicht hoch. Erst 2012, 2013 werden wir viel höhere Zusatzbeiträge sehen bei mehr Kassen. Dann wird das Problem richtig gravierend, es müsste eigentlich jetzt abgeräumt werden.

    Müller: Aber die Kassen brauchen ja zum Teil die Zusatzbeiträge, um sich selbst re- oder finanzieren zu können. Das heißt, es wird dann am Ende darauf hinauslaufen, wenn wir Ihnen folgen und ich Sie richtig verstanden habe, dass die normalen Beiträge wieder erhöht werden?

    Lauterbach: Richtig, genau so wäre es. Das wäre auf jeden Fall besser als Zusatzbeiträge, weil der normale Beitragssatz, der wurde in der Vergangenheit zur Hälfte von den Arbeitgebern und zur Hälfte von den Arbeitnehmern bezahlt, zumindest der Anstieg des Beitragssatzes, und das ist doch viel besser, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam einkommensabhängig den Beitragssatz leicht erhöhen, als dass ich von Rentnern, Geringverdienern und Familien aus dem Nettoeinkommen hier Zusatzbeiträge nehme, wo dann auch noch die guten Mitglieder die Kasse verlassen und die Kasse in die Pleite geht.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Karl Lauterbach, gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Lauterbach: Danke Ihnen, Herr Müller.