Freitag, 29. März 2024

Archiv

Silvesterübergriffe in Köln
"Wir müssen vermeiden, dass die Debatte kippt"

Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Irene Mihalic hat nach den Silvesterübergriffen am Kölner Hauptbahnhof davor gewarnt, die "Straftaten zu instrumentalisieren, um gezielt gegen Migranten und Flüchtlinge zu hetzen". Im DLF äußerte sie sich "erschüttert" über die bisherige Informationspolitik und fragte: "Wird da irgendetwas verheimlicht?"

Irene Mihalic im Gespräch mit Christoph Heinemann | 08.01.2016
    Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Irene Mihalic.
    Die Grünen-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Polizeibeamtin Irene Mihalic. (picture alliance / dpa / Gregor Fischer)
    Christoph Heinemann: Die Zeitung "Kölner Stadtanzeiger" berichtet heute, dass am vergangenen Mittwoch abermals eine junge Frau gegen 17:30 Uhr am Kölner Hauptbahnhof von jungen Männern offenbar arabischer Herkunft sexuell belästigt wurde. Der Verkehrsknotenpunkt bleibt also ein rechtsfreier Raum. Außerdem wurde inzwischen bekannt, dass die Kölner Polizei die Herkunft des Verdächtigen oder der Verdächtigen der Silvesternacht offenbar vertuscht haben soll.
    Und am Telefon ist Irene Mihalic, die Obfrau der Grünen im Bundestagsinnenausschuss und ehemalige Polizeibeamtin in Köln, guten Tag!
    Irene Mihalic: Guten Tag!
    Heinemann: Frau Mihalic, können Sie verstehen, worüber Moritz Küpper gerade berichtet hat, warum Polizisten die Herkunft von Verdächtigen vertuschen?
    Mihalic: Nein, das ist für mich vollkommen unverständlich und ich hoffe, dass sich nicht herausstellt, dass ...
    Heinemann: Frau Mihalic, Entschuldigung, die Telefonleitung ist leider sehr brüchig, wir versuchen, Sie abermals anzuwählen.
    Die Telefonleitung steht zu Irene Mihalic, Obfrau der Grünen im Bundestagsinnenausschuss. Sie ist ehemalige Polizeibeamtin in Köln. Guten Tag und erst mal vielen Dank für Ihre Geduld!
    Mihalic: Ja, guten Tag, nichts zu danken!
    Heinemann: Frau Mihalic, wir waren bei dem, worüber Moritz Küpper berichtet hatte, nämlich dass offenbar die Kölner Polizei die Herkunft der Verdächtigen vertuscht hat. Und Sie hatten gesagt, Sie haben da überhaupt gar kein Verständnis für!
    Mihalic: Richtig. Also, wenn es tatsächlich so gewesen sein sollte – das wird natürlich jetzt aufzuklären sein –, dann wäre das meiner Ansicht nach ein ungeheuerlicher Vorgang. Aber wir wissen es eben noch nicht genau. Wir haben jetzt viele Tage nach Silvester immer noch kein schlüssiges Lagebild über die Ereignisse in der Nacht, es gibt Berichte von nicht namentlich genannten Polizeibeamten in der Presse, es gibt offizielle Darstellungen, die teilweise eben auch in einem Widerspruch zueinander stehen. Und deswegen ist mir wichtig, dass man diese Ereignisse jetzt zunächst einmal aufklärt und wir dann auf der Basis von Fakten tatsächlich analysieren können, was dort gewesen ist.
    "Lagebild hätte sofort eingefordert werden müssen"
    Heinemann: Schlimm genug, dass es immer noch kein Lagebild gibt?
    Mihalic: Richtig, das ist immer noch schlimm genug und ich hätte mir gewünscht, dass anstatt sofort Verantwortliche zu benennen oder anstatt dass sofort politische Forderungen geäußert werden man erst einmal abwarten würde, was denn eigentlich tatsächlich in dieser Nacht vorgefallen ist, und dieses Lagebild eingefordert hätte. Das haben wir Grüne beispielsweise getan, wir haben sofort gesagt, wir müssen darüber im Innenausschuss des Deutschen Bundestages reden und wir müssen auch mit NRW-Innenminister Ralf Jäger über diese Vorfälle reden, aber auch mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière, denn auch seine Bundespolizei war dort im Einsatz. Und deswegen müssen wir natürlich jetzt erst einmal erfahren, was hat dort eigentlich genau stattgefunden, um dann eben entsprechende Schlüsse zu ziehen. Ich bin sehr gespannt auf die Auskunft der Bundesregierung am Mittwoch.
    Heinemann: Sie kennen die Kölner Polizei, was läuft da schief?
    Mihalic: Das ist eben schwer zu beantworten, ob da tatsächlich etwas schief gelaufen ist in der Silvesternacht, was da genau schief gelaufen ist. Ich kann verstehen, dass jetzt einige natürlich Parallelen ziehen zwischen Ereignissen rund um die Hogesa-Demonstrationen und der Informationspolitik und jetzt auch wie gesagt Schlüsse daraus ziehen, dass es jetzt in der Silvesternacht auch ähnliche Probleme gegeben haben soll. Ich persönlich bin da offen gestanden noch sehr unschlüssig, ob es tatsächlich ein Versagen aufseiten der Kölner Polizei gegeben hat. Wie gesagt, auch die Bundespolizei ist dort in diesem Bereich zuständig, da müssen meiner Ansicht nach jetzt erst einmal Verantwortlichkeiten geklärt werden. Was mich allerdings wirklich erschüttert, ist eben die Informationspolitik, dass es jetzt sozusagen so ist, dass wir jeden Tag neue Meldungen bekommen über das, was dort angeblich vorgefallen ist, und wir inzwischen nicht mehr unterscheiden können, was sind eigentlich Gerüchte, was ist tatsächlich faktenbasiert, was ist authentisch, wird da vielleicht irgendetwas verheimlicht oder was ist eigentlich wirklich offizielle Darstellung? Und das macht es für uns eben auch so schwer, diese Ereignisse dort zu bewerten.
    Heinemann: Frau Mihalic, welche Folgen hat es für die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, wenn Menschen, die erst seit Kurzem hier leben, gezielt Frauen überfallen?
    Mihalic: Das hat natürlich eine ungeheure gesellschaftspolitische Dimension und das zeigt natürlich auch, mit welcher Emotionalität diese Debatte aktuell um diese Ereignisse in Köln und in anderen Großstädten geführt wird. Und ich befürchte, dass es eben auch tatsächlich dann am Ende auf eine Debatte hinausläuft, was die Aufnahmebereitschaft der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf Flüchtlinge betrifft. Ich hoffe nicht, dass es dazu kommt, denn meiner Ansicht nach ist es wirklich unerträglich, was den Frauen dort in dieser Silvesternacht passiert ist, und es sind schreckliche Straftaten, die natürlich konsequent aufgeklärt werden müssen, aber jetzt sozusagen diese Straftaten zu instrumentalisieren, um eben ganz gezielt gegen Migranten und gegen Flüchtlinge zu hetzen, das ist meiner Ansicht nach sehr, sehr schlimm. Und wir müssen unbedingt vermeiden, dass eine Debatte in diese Richtung kippt, sondern im Vordergrund sollte jetzt wirklich die Aufklärung der Ereignisse in dieser Nacht stehen.
    "Es gibt keinen Bonus für irgendjemanden"
    Heinemann: Voraussetzung dafür, dass nicht instrumentalisiert wird, ist, dass man die schwarzen Schafe unter den Flüchtlingen wieder loswird. Wie denn?
    Mihalic: Zunächst einmal gibt es keinen Bonus für irgendjemanden. Also, Leute, die sich hier strafbar gemacht haben, müssen natürlich konsequent mit Strafverfolgung rechnen, das ist völlig klar. Und wenn diese Straftaten aufgeklärt werden und die Täter identifiziert werden, dann müssen sie natürlich auch unserer Gerichtsbarkeit zugeführt werden und dann müssen da auch Urteile gesprochen werden. Und das ist eine Selbstverständlichkeit im Rechtsstaat.
    "Täteridentifikation ist die Grundvoraussetzung für alles folgende"
    Heinemann: Das klappt ja gerade nicht. Wie wirkt es auf Täter, wenn Taschendiebe zum Beispiel jedes Mal, wenn sie geschnappt werden, gleich wieder freigelassen werden?
    Mihalic: Da gibt es unterschiedliche Erkenntnisse darüber, ob das tatsächlich sozusagen motivierend auf einzelne Täter wirkt. Da könnte man natürlich jetzt die Wissenschaft bemühen, ob das tatsächlich irgendwie Straftaten fördert oder nicht. Ich persönlich bin der Auffassung, dass, wenn Straftaten festgestellt werden, dass die natürlich auch konsequent geahndet werden. Voraussetzung dafür ist selbstverständlich, dass man die Täter auch identifizieren kann. Und da scheint es mir jetzt tatsächlich auch ein Problem zu sein, da werden wir natürlich auch genau schauen, was hat in dieser Silvesternacht stattgefunden, gibt es da Probleme, die Täter zu identifizieren, um sie tatsächlich auch dingfest zu machen? Und gibt es da eventuell Nachbesserungsbedarf? Also, die Täteridentifikation ist doch die Grundvoraussetzung für alles, was danach geschieht!
    "Habe Zweifel an härteren Strafen"
    Heinemann: Ja, aber das andere eben auch. Das berichten ja Polizisten, das berichten auch Juristen, dass Straftäter die Polizei und die Justiz einfach auslachen. Haben Sie das in Ihrer aktiven Zeit nicht erlebt?
    Mihalic: In meiner aktiven Zeit habe ich da unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Es gibt sicherlich immer wieder Straftäter, die den Rechtsstaat nicht ernst nehmen, das ist vollkommen klar. Nur, die Frage ist natürlich, was hilft da? Und ich habe eben große Zweifel daran, dass beispielsweise jetzt härtere Strafen irgendetwas bewirken, das zeigen uns auch Studien beispielsweise, die eben nicht davon ausgehen, dass es irgendwie eine abschreckende Wirkung hat, dass, wenn härter sanktioniert wird oder wenn der Strafrahmen irgendwie höher ist, dass es dann eine Auswirkung darauf hat, dass sich Menschen dadurch abschrecken lassen. Das ist leider auch eine Erfahrung, die wir haben machen müssen.
    Deswegen halte ich ja auch die Diskussion über härtere Strafen in diesem Zusammenhang nicht für zielführend. Ich finde, wir brauchen jetzt eher eine Diskussion darüber, wie wir hier präventiv tätig werden können, wie wir solche Straftaten künftig verhindern können. Vor allen Dingen, wir brauchen noch mehr Informationen über dieses Phänomen. Wenn es tatsächlich ein neues Kriminalitätsphänomen ist, was wir dort erlebt haben, dann brauchen wir viel mehr Informationen darüber, wie ist denn die Vorgehensweise der Täter, woher kommen diese Täter, sind es vielleicht bandenmäßige Strukturen, das alles wissen wir noch gar nicht. Und nur wenn wir das genau wissen, können wir natürlich auch entsprechende Konzepte erarbeiten, die natürlich auch der Polizei nützen. Dann gibt es entsprechende Strategien und dann weiß man vielleicht auch, wie man diesen Straftaten angemessen begegnen kann. Alles andere lenkt meiner Ansicht nach von den tatsächlichen Erfordernissen nur ab.
    Heinemann: Die beste Prävention wäre wahrscheinlich, dass man die Straftäter gar nicht erst ins Land kommen lässt?
    Mihalic: Wir haben ja auch Straftäter im eigenen Land, ja? Also, das ist ... Ich glaube, das ist eine Debatte, ...
    Heinemann: Genau, die reichen ja.
    Mihalic: ... die auch am Thema vorbeiführt, jetzt zu sagen, wir hätten uns die Kriminalität mit Einwanderung importiert.
    Heinemann: Ja, offenbar teilweise ja!
    Mihalic: Es gibt natürlich auch unter der deutschen Bevölkerung Straftaten und wir haben auch Antworten des Rechtsstaates auf diese Straftaten. Und ich halte es für einen Trugschluss, jetzt zu sagen, wenn wir die Einwanderung in irgendeiner Art und Weise stoppen oder niemanden mehr ins Land lassen, dass sich dann diese Probleme erledigt hätten. Ich glaube, das ist nicht der Fall, solche Probleme hat es auch früher schon gegeben. Und deswegen muss man natürlich schauen, was sind das für Straftaten, die da begangen werden. Und wenn wir die Täter identifiziert haben, müssen sie auch entsprechend sanktioniert werden. Und dabei spielt die Herkunft der Täter überhaupt keine Rolle.
    Heinemann: Also weiter so?
    Mihalic: Weiter womit, ist die Frage?
    Heinemann: Ja, mit den gegenwärtigen Zuständen, sowohl was die Flüchtlinge, die Ankunft der Flüchtlinge betrifft als auch die Arbeit die Polizei und der Justiz. Haben Sie ja gerade gesagt.
    Mihalic: "Weiter so" ist die falsche Schlussfolgerung. Also mein Petitum ist, sich jetzt wirklich anzuschauen, was eigentlich konkret passiert ist und wo wir Defizite haben. Und nicht jetzt schon zu sagen, ohne die Fakten zu kennen, dass es Defizite in bestimmten Bereichen gibt. Wir brauchen erst einmal eine Analyse dessen, was überhaupt geschehen ist, und ob es vielleicht in gesetzgeberischem Bereich Lücken gibt, die wir schließen müssen, ob es im Bereich der Tataufklärung Lücken gibt, die wir schließen müssen, ob es zum Beispiel auch ein Personalproblem im Bereich der Polizei ist, was es eben abzumildern gilt. Da haben wir zum Beispiel Hinweise darauf, dass es insgesamt nicht genug Polizistinnen und Polizisten gibt. Also, insofern kann man jetzt noch nicht sagen, dass wir weiter so machen. Also, "weiter so" kann natürlich nicht die Lösung sein, sondern wir müssen erst einmal die Antworten finden, aber erst natürlich dann, wenn wir genau wissen, was geschehen ist. Und das ist aktuell noch nicht der Fall. Also, jeder, der jetzt schnelle Lösungen anbietet und genau weiß, was jetzt zu tun ist, handelt meiner Ansicht nach in höchstem Maße unseriös.
    Heinemann: Frau Mihalic, kann man es Bürgern verdenken, wenn sie jetzt selbst für Schutz sorgen wollen? Stichwort Bürgerwehren?
    Mihalic: Also, Bürgerwehren sind meiner Ansicht nach der völlig falsche Ansatz und ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger können sich selbstverständlich darauf verlassen, dass der Staat und auch die Polizei alles in ihrer Macht Stehende tut, um sie angemessen vor Straftaten zu schützen.
    Heinemann: Nur nicht in Köln?
    Mihalic: Natürlich auch in Köln, selbstverständlich. Und auch in Köln, bin ich mir sicher, tut die Polizei dort ihr Möglichstes, um die Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Aber das ist natürlich eine Debatte, die sich ja vermischt eben auch mit der Debatte um Flüchtlingspolitik, mit der Debatte um Einwanderung.
    Es werden da viele verschiedene Themen miteinander vermengt und am Ende kommt man dann zu dem Schluss, dass wir hier nicht mehr sicher sind. Also, ich fühle mich nach wie vor immer noch sehr sicher in diesem Land und ich glaube, alle anderen Bürger können das auch, können sich auch hier sehr sicher in diesem Land fühlen. Und wenn es in einzelnen Bereichen Defizite gibt, wenn beispielsweise nicht genug Polizei auf der Straße ist, dann muss man sich Gedanken machen, dass man da genug Polizei hinbekommt und dass wir da eine vernünftige Personalpolitik betreiben. Aber das sind eben Fragen, die müssen natürlich jetzt auf den Tisch und die müssen wir jetzt angemessen diskutieren.
    Heinemann: Irene Mihalic, die Obfrau der Grünen im Innenausschuss des Deutschen Bundestages. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Mihalic: Sehr gerne, auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.