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Sinfonische Musik
Abbados Vermächtnis auf einer DVD

Claudio Abbado dirigierte mit 81 Jahren sein letztes Eröffnungskonzert zum Auftakt des Luzerner Festivals im Sommer 2013. Das Luzerner Festival Orchester, das aus handverlesenen, führenden Musikern der großen Orchester der Welt besteht, hatte er zehn Jahre zuvor zusammengebracht. Nun ist eine DVD des letzten Eröffnungskonzertes erschienen. Abbado verstarb im Januar dieses Jahres.

Von Dieter David Scholz | 29.06.2014
    Der italienische Dirigent Claudio Abbado bei der Eröffnung des Luzerner Festivals 2007
    Der italienische Dirigent Claudio Abbado bei der Eröffnung des Luzerner Festivals 2007 (picture-alliance / dpa/Eddy Risch)
    Im Sommer 2013 eröffnete der Dirigent Claudio Abbado das Luzerner Festival, mit der ihm ganz eigenen "mysteriösen Verführungskraft und legendären Eleganz", wie die Zeitschrift "Le Monde" damals schrieb. Auf einer soeben erschienenen DVD kann man sich davon überzeugen.
    Auf dem Programm standen die Tragische Ouvertüre von Johannes Brahms, das Orchesterzwischenspiel mit dem "Lied der Waldtaube" aus den "Gurre-Liedern" von Arnold Schönberg und Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 3, die sogenannte "Eroica".
    Es war Abbados letztes Eröffnungskonzert "seines" Festivals, das er zehn Jahre zuvor ins Leben gerufen hatte. Nur wenige Monate nach besagtem Konzert sollte die Welt Abschied nehmen von diesem großen Dirigenten. Das Konzert wurde als audiovisuelles Dokument aufgezeichnet und ist soeben beim Label Accentus veröffentlicht worden. Es ist Abbados letzte Konzertaufnahme.
    Mit der Tragischen Ouvertüre von Johannes Brahms in d-Moll, op. 81 hebt das denkwürdige Konzert an, das mit allen drei Werken, die an diesem Abend gespielt wurden, von der Endlichkeit des Daseins sprach.
    Tragische Ouvertüre
    Energiegeladen, mit großer Emotionalität und doch mit unsentimentaler Klarheit lässt Claudio Abbado diese "tragische" Musik des "konservativen Revolutionärs", wie Johannes Brahms genannt wurde, spielen. Brahmsens 1880 uraufgeführte, düster-zerklüftete "Tragische Ouvertüre", das nach den Worten des Komponisten "weinende" Gegenstück zur offiziösen "Akademischen Festouvertüre", wirkt in der Interpretation Claudio Abbados und des Luzerner Festivalorchesters gar nicht so tragisch, dafür so transparent, so vielschichtig, wie man das Stück selten gehört hat. Man meint, beinahe schon Bruckner und Mahler vorausahnen zu können.
    Erstaunlich, wie agil Claudio Abbado sein letztes Konzert dirigiert. Da ist nichts von Altersstil oder zurückgenommenen Gesten zu sehen. Im Gegenteil: Claudio Abbado ist ganz in seinem Element. Er animiert – durchaus mit Temperament - das Luzerner Festivalorchester zu brillantem, klangprächtigem Spiel. Es ist ja auch "sein" Orchester. Nach dem Abschied vom Berliner Philharmonischen Orchester wurde Luzern zur letzten Heimat dieses Dirigenten. 2003 hatte er dort, gezeichnet von einer schweren Krebserkrankung, ein "Orchester der Freunde" – wie er es nannte - gegründet, eben das Luzerner Festival Orchester, das aus handverlesenen, führenden Musikern der großen Orchester der Welt besteht. Mit ihnen konnte er in großer Vertrautheit und auf höchstem Niveau musizieren. Man hat beim Betrachten der DVD nicht den Eindruck, dass da jemand um sein Leben ringt.
    Nach der "Tragischen Ouvertüre" von Brahms lässt Claudio Abbado das Luzerner Festivalorchester mit fast romantischer Expressivität, überwältigender Farbigkeit und geschärftem, konturenreichen Klang das Zwischenspiel aus Arnold Schönbergs 1913 uraufgeführter Kantate für Soli, Chor und Orchester "Gurrelieder" spielen. Es geht in ihr um den Tod und die nicht verschmerzbare Wunde, die er den Herzen der Hinterbliebenen zufügt. Frei nach der mittelalterlichen dänischen Legende um König Waldemar auf Schloss Gurre. Mit geradezu jugendlichem Elan feuert Abbado sein Orchester an. Seine Lesart des Stücks ist ansteckend.
    Zwischenspiel "Gurrelieder"
    Claudio Abbado, auch wenn er bei noch so herzzerreißenden Passagen "in die Vollen" geht, fasziniert doch immer wieder durch einen unsentimental dahinströmenden, natürlichen Duktus, der alles Forcierte, dick Aufgetragene vermeidet. Mit Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit begleitet er das "Lied der Waldtaube", das vom Sterben der Geliebten Tove erzählt, das den dänischen König Waldemar in wahnhafter Rastlosigkeit treiben wird. Den Musikern des Luzerner Festivalorchesters gelingt trotz der von Schönberg geforderten Riesenbesetzung des Orchesterapparates ein beinahe kammermusikalisches, hochdifferenziertes Spiel, das die Natur- und Seelenstimmungen der Musik glasklar entfaltet. Und Mihoko Fujimuras dunkel timbrierter, kristallin wie Rauchtopas klingender Mezzosopran fügt sich ideal ein in diese traumhafte Klanglandschaft.
    Lied der Waldtaube/Mihoko Fujimura
    Der dritte Programmpunkt der letzten Konzertaufzeichnung Claudio Abbados ist Ludwig van Beethovens 1804 uraufgeführte Sinfonie Nr. 3 Es-Dur, op.55, die sogenannte "Eroica", die Beethoven Napoleon Bonaparte gewidmet haben soll. Doch schon der erst Satz dieses "Heldenlebens" kommt ganz unheroisch daher. Abbado lässt alles Pathos außen vor, sodass der Kopfsatz fast mozartisch gelassen und heiter wirkt.
    Beethoven 1. Satz
    Was Claudio Abbados Interpretation der Eroica" zum Ereignis werden lässt, ist die transzendierende Ruhe, mit der er den zweiten Satz der Sinfonie, den Trauermarsch zum emotionalen Zentrum der Sinfonie erhebt. So verinnerlicht, so langsam, so in sich versunken, so verschattet hat man diesen Satz noch nicht gehört. Und man sieht Abbado die große innere Beteiligung an, die ihn zu dieser Lesart bewog, bei der man im vibratolosen Spiel der Streicher gleichsam einen Blick hinter die Grenze des Todes zu werfen meint, bevor dann im vorbeihuschenden Scherzo und im Finalsatz mit seiner weltumspannenden Utopie noch einmal das ganze Leben des unbekannten Helden, dem diese Sinfonie jedenfalls in der Überschrift der ersten Londoner Partiturausgabe von 1809 gewidmet war, vor seinem inneren Auge vorbeizieht.
    Beethoven 2. Satz (Trauermarsch)
    Claudio Abbados erschütternde Lesart der dritten Sinfonie Beethovens hat in ihrer Unheroik und Abgeklärtheit fast etwas Lebensabschiedshaftes.
    Die DVD, auf der der von seiner Krankheit gezeichnete, zerbrechlich-stark wirkende Claudio Abbado noch einmal zu sehen ist, eingerahmt von romantischen Kamerafahrten über den im Abendlicht liegenden Vierwaldstätter See, von Außen- und Innenansichten des Konzert- und Kongresszentrums seines Festivals, ist die letzte audiovisuelle Konzertaufzeichnung des Dirigenten, der am 20. Januar 2014 gestorben ist.
    Als ob das Publikum ahnt, dass es einem besonderen Moment beiwohnt, feiert es Claudio Abbado mit stehenden Ovationen. Der DVD kommt Vermächtnischarakter zu. Mit Claudio Abbado hat die Welt einen ihrer größten Dirigenten und einen bescheidenen, feinen Menschen verloren. Er war eher publikumsscheu und introvertiert als eitel und besaß als Musiker die seltene Tugend der Demut, wie Wolfram Christ, der erste Bratscher des Luzerner Orchesters, einmal bei anderer Gelegenheit in einem Interview betonte:
    "Ich hab das eigentlich bei ganz wenigen Dirigenten so erlebt wie bei ihm, dass er sich der Musik hingibt und nicht einer Show oder einer Theatralik. Sondern wirklich in der Musik vollständig aufgeht, im Konzert."
    Claudio Abbado/Lucerne Festival Orchestra/Mihhoko Fujimura:
    Brahms: Tragische Ouvertüre, Schönberg: Zwischenspiel und "Lied der Waldtaube" aus den "Gurreliedern", Beethoven: Sinfonie Nr. 3 Eroica.
    Accentus, Katalognummer: ACC 20282 (DVD)
    EUROARTS DVD 2053279 Claudio Abbado, Hearing the Silence