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Sinn: Erhebliche Risiken für die finanzielle Stabilität Deutschlands

Kanzlerin Merkel habe bis zum Schluss "gekämpft wie ein Löwe", sagt Hans-Werner Sinn. Aber beim EU-Gipfel in Brüssel wollte man an das deutsche Geld heran. Der Präsident des Ifo-Wirtschaftsforschungsinstituts kritisiert, dass "im Extremfall" eine Haftungssumme von etwa 700 Milliarden Euro auf Deutschland zukommen könnte.

Hans-Werner Sinn im Gespräch mit Jürgen Liminski | 02.07.2012
    Jürgen Liminski: Kurz vor der Einführung des Euro, Ende 1999, zitierte der "Spiegel" den künftigen Chef der Eurogruppe Jean-Claude Juncker mit diesen Worten: "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter, Schritt für Schritt, bis es kein zurück mehr gibt." In den letzten Jahren sind viele kleine Schritte erfolgt, seit der Lehman-Krise 2008 auch immer schneller. Heute steht die Eurozone mit einem Bein in der gemeinschaftlichen Schuldenhaftung und ist dabei, diesen großen Schritt nun zu vollziehen. Was kostet das die Deutschen? Was bedeutet die jetzt in Brüssel beschlossene Haftung über den europäischen Schuldenmechanismus ESM und wie groß ist der letzte Schritt zu den Eurobonds? - Zu diesen und anderen Fragen begrüße ich am Telefon den Präsidenten des Ifo-Wirtschaftsforschungsinstituts, Professor Hans-Werner Sinn. Guten Morgen, Herr Sinn.

    Hans-Werner Sinn: Ja schönen guten Morgen!

    Liminski: Herr Sinn, Deutschland haftet nun mit für die maroden Banken in Italien, Spanien, wo möglich auch in anderen Ländern, vorbehaltlich der juristischen Fragen, die da noch zu klären sein könnten. Um welche Größenordnung geht es hier? Man spricht bei den spanischen Banken von 60 bis 80 Milliarden.

    Sinn: Ja das ist ja erst der Anfang. Es geht ja um sehr viel mehr. Wir haben verschiedene Mechanismen, durch die wir schon haften: zum Ersten die Kredite, die die EZB gegeben hat, die zulasten der Bundesbank gehen. Wenn da nicht zurückgezahlt wird, dann teilen sich die überlebenden Banken, Zentralbanken das brüderlich. Dann ist es der Rettungsschirm mit seinen verschiedenen Facetten, vor dem EFSF das Griechenlandpaket, dann dieser EFSF, dann der Naturkatastrophentopf der EU und dann eben neuerdings auch der ESM, der jetzt gerade letzte Woche ratifiziert worden ist vom Deutschen Bundestag. In der Summe kommt da ein Haftungsvolumen für alle Länder zusammen von 2100 Milliarden Euro auf den Tisch. Aber wenn da was schief geht und sagen wir mal die fünf Krisenländer gehen wirklich Pleite - man muss ja heutzutage mit allem rechnen -, dann kommen auf Deutschland Haftungssummen von etwa 700 Milliarden Euro zu. Aber das ist natürlich nur der Extremfall für den Fall, dass die nicht zurückzahlen - hoffen wir, dass das nicht passiert. Nur muss man sich ja mal Gedanken machen, wie groß die Summen sein könnten.

    Liminski: Gibt es denn zuverlässige Schätzungen über die gesamten Bankenschulden im Euroraum?

    Sinn: Ja, natürlich. Die kann man ja in der aggregierten Bilanz der Bankensysteme ablesen. Das sind natürlich Riesensummen, aber es geht ja nicht um alles. Es geht um die fünf Krisenländer, und wenn wir die nehmen, für sich genommen, also Italien, Griechenland, Portugal, Spanien, Irland, dann haben wir da 9,2 Billionen. Das sind also 9200 Milliarden Euro. Und da liegt eigentlich schon ein Aspekt, der vielen Bürgern überhaupt nicht klar ist. Die denken, na ja, jetzt haben wir die Staaten gerettet, dann können wir da die Banken auch noch retten. Weit gefehlt! Die Bankschulden sind ja fast dreimal so groß wie die Staatsschulden. Die Staatsschulden dieser fünf Länder sind 3,3/ 3,4 Billionen, und hier reden wir über 9,2 Billionen Bankschulden. In der Summe, wenn man die Doppelzählung herausnimmt, sind das gigantische 12.000 Milliarden Euro. Nun heißt das ja nicht, dass diese Lasten dann auf irgendwen zukommen, also die Abschreibungsverluste aus den Immobilienkrediten, die in Südeuropa gegeben wurden, und aus den Unternehmenskrediten, die sind da, aber die sind natürlich nicht so groß. Nur weiß es kein Mensch und potenziell begibt man sich auf eine Schiene, wo irgendein Prozentsatz von diesen zwölf Billionen halt verlustig gehen wird. Dass das erhebliche Verluste sein werden und dass das hier nicht mit 100 Milliarden Euro getan ist, das scheint mir klar zu sein.

    Liminski: Was schätzen Sie, wie viel kommt da auf uns zu?

    Sinn: Ich weiß es nicht. Kein Mensch weiß das. Aber wenn wir mal sagen, von diesen Schulden sind 20 Prozent abzuschreiben, dann sind das ja schon 2,4 Billionen. Das wäre ja einmal das deutsche Sozialprodukt fast. Also das sind ja keine Peanuts mehr. Nun gut, die müssen wir ja nicht selber tragen. Die anderen Länder tragen ja mit. Aber wenn dann einer nach dem anderen fällt? Also es sind doch erhebliche Risiken für die finanzielle Stabilität der Bundesrepublik Deutschland, die man jetzt hier so einfach eingeht. Frau Merkel hat ja gekämpft wie ein Löwe bis zum Schluss, aber sie waren sich alle einig: Man wollte an das deutsche Geld heran, da stand sie ganz alleine.

    Liminski: Die Banken sollen ohne Bedingungen rekapitalisiert werden, eben um an das deutsche Geld heranzukommen. Bei den Staaten gelten noch die alten Regeln. Könnten Banken nun auch Staaten sanieren, sodass man strikte Sparmaßnahmen, Reformanstrengungen über die Banken umgehen kann?

    Sinn: Ja natürlich! Das bedingt sich ja beides. Die Banken halten ja entsprechende Staatspapiere und wenn sie, sagen wir mal, Abschreibungsverluste auf diese Weise ausgleichen können durch neues Eigenkapital von der Staatengemeinschaft, können sie auch mehr Staatspapiere anschließend kaufen. Aber es ist ja nicht so, dass die Regelungen für die Staaten sich auch nicht geändert hätten. Die wurden ja zugunsten von Italien jetzt verändert. Vorher hieß es, man braucht da Auflagen, die Länder müssen also einen Teil ihrer Souveränität praktisch abgeben an den ESM, wenn sie Geld kriegen wollen, was unangenehm ist. Das ist ja einer der Gründe, weshalb die Griechen da so protestieren. Aber immerhin: Griechenland, Irland, Portugal mussten es machen. Und Italien sagt jetzt, wir wollen das eben nicht, und Monti hat es erreicht, dass er jetzt das Geld einfach so kriegt, und deswegen spricht er ja auch davon, dass praktisch dies der Einstieg in die Eurobonds sei, und das ist auch richtig, seine Aussage. Wir haben damit quasi Eurobonds, die allerdings noch nicht frei zugänglich sind. Es ist ja nach oben hin gedeckelt, also die Programme müssen schon noch vom Gouverneursrat des ESM beschlossen werden, und da hat Deutschland eine Sperrminorität. Also das ist noch ein gewisser Schutz. Aber wissen Sie, im Laufe der letzten zwei Jahre ist man schrittchenweise immer weiter gegangen. Jeder einzelne Schritt schien noch gerade verkraftbar, um eben Europa und den Euro zu retten. Aber in Ihrer Summe haben diese Schritte jetzt doch eine neue Qualität erreicht und ich glaube, das ist ein Thema, was das Verfassungsgericht hier mal angehen sollte.

    Liminski: Wenn der brave Bürger hierzulande seine Schulden nicht mehr bedienen kann, muss er sein Sparkonto leerräumen, das Auto verkaufen oder sein Häuschen. Haben die Länder, die jetzt ihre Anträge stellen, keine eigenen Reserven, um ihre Schulden zu zahlen, Gold, Immobilien, Inseln?

    Sinn: Na ja, sie haben natürlich noch eine Menge Realvermögen, sie haben eine Menge Gold, die Italiener insbesondere, und da gibt es ja auch durchaus Pläne im Petto, dass wenn das jetzt nicht geklappt hätte bei diesem Gipfel mit der Öffnung des ESM für weitere Zwecke, dann hätten sie, um die Zinsen im Griff zu halten, durchaus auch goldbesicherte Staatspapiere ausgeben können zu niedrigen Zinsen. Nur: Diese Maßnahme, die wollen sie sich natürlich für später aufbewahren, nachdem das Geld, was sie vom Topf der Staatengemeinschaft bekommen haben, verbraucht ist.

    Liminski: Sie haben mal für die Griechenlandproblematik einen temporären Austritt vorgeschlagen mit Hilfsmaßnahmen für die Auszeit. Sehen Sie auch eine Lösung für die Bankenkrise?

    Sinn: Ja. Also erst mal bei Griechenland: Es gibt nur einen einzigen Weg, wie Griechenland gesunden kann - Austritt, Abwertung und vielleicht später wieder einzutreten. Und das ist etwas, was man Griechenland erleichtern sollte. Statt diesen Prozess zu verteufeln, sollte man Wege ebnen. Sonst wird das mit der Eurozone nichts, sonst wird sie auseinanderbrechen. Wir müssen sie reduzieren auf einen funktionsfähigen Kern. Und was die Bankenkrise betrifft? Noch mal: Es sind hier 9200 Milliarden Bankschulden in den fünf Krisenländern. Das ist eine so gigantische Summe, dass auch moderate Abschreibungsprozentsätze nicht von der Staatengemeinschaft übernommen werden können, wobei wir Deutschen ja dann automatisch mit 43 Prozent dabei wären, wenn die anderen nicht zahlen können - eigentlich nur 27, aber wenn die ausfallen, wird das hochgekurbelt auf 43. Auch wir Deutschen können das nicht zahlen. Der Bundesetat ist ja mal nur gerade über 300 Milliarden. Wie sollen wir also diese Verluste tragen, was immer der Prozentsatz auf die 9,2 Billionen wäre? Für meine Begriffe gibt es nur einen einzigen Weg: Gerade weil diese Summen so groß sind, gibt es nur eine Gruppe, die die Verluste tragen kann. Das sind nämlich die Vermögensbesitzer selber, die diese 9,2 Billionen Schulden als Gläubiger haben, denn zu jedem Schuldner gehört ja ein Gläubiger, der einen Vermögensanspruch hat. Da sind also entsprechende reiche Vermögensbesitzer da, die diese 9,2 Billionen besitzen, und die müssten akzeptieren, dass ein Teil ihrer Forderungen gestrichen wird.

    Nun gibt es ja auch noch das Eigenkapital der Banken, das kann man ja erst mal heranziehen, und das Mittel der Wahl für solche Fälle ist der sogenannte "debt equity swap". Das heißt, die Aktionäre verlieren ihr Eigenkapital, geben ihre Aktien an die Gläubiger der Banken, die Gläubiger leisten einen Forderungsverzicht und werden durch die Aktien kompensiert. Sofern die Abschreibungsverluste kleiner sind als das Eigenkapital, würde das sogar reichen. Wenn die größer sind als das Eigenkapital, dann reicht es natürlich nicht, wenn man den Gläubigern die Aktien gibt, aber immerhin gibt es auch keine andere Gruppe als sie selber, die diese Verluste tragen können, denn sie sind es ja auch, die die Anlageentscheidung getroffen haben. Man kann nicht andere Gruppen in der Gesellschaft finden, die mit der ganzen Sache nichts zu tun haben, die diese Lasten zu übernehmen haben.

    Liminski: Sehen Sie denn in der Politik irgendein Anzeichen, dass solche Gedanken erörtert werden?

    Sinn: Nein! Das liegt daran, dass die Schuldnerstaaten natürlich am liebsten Dritte haben, die das bezahlen, damit sie weiter kreditwürdig sind. Und die Gläubiger - das sind Investoren aus aller Welt, das sind amerikanische Investmentbanken, das sind Chinesen, die investiert haben über London, das sind die Banken in Frankreich in erster Linie -, die wollen natürlich auch jemand anderen haben, der die Rechnung übernimmt. Gläubiger und Schuldner haben ein Problem miteinander und sie suchen jetzt einen Dritten, der die Last übernimmt, und das sind wir. Und das geschieht dadurch, dass man jetzt eine Bad Bank gründet, in Luxemburg mit dem Namen ESM, und die soll den Gläubigern ihre toxisch geworden Staatspapiere der südlichen Länder abkaufen. Darum geht es im Kern. Und damit werden wir letztlich und unsere Kinder zu Gläubigern der südlichen Länder, wir dürfen dann anschließend in den Süden gehen und all das Geld zurückfordern. Jetzt wird diese ganze Politik als Friedenspolitik verkauft. Ich halte das für einen falschen Begriff, denn nichts wird mehr Unfrieden schaffen, als wenn man aus Nachbarn und Freunden Gläubiger und Schuldner macht.

    Liminski: Die Bankenkrise, die Brüsseler Beschlüsse und was auf Deutschland zukommt - das war hier im Deutschlandfunk der Präsident des Ifo-Wirtschaftsforschungsinstituts in München, Professor Hans-Werner Sinn. Besten Dank für das Gespräch, Herr Sinn.

    Sinn: Gerne!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.