Düster ist es dort in der Unterwelt. Unheimlich. Seltsame Augenpaare starren durch das Dunkel. Feuerfunken stieben umher. Aus dem Hintergrund wirft ein rötlich gelber Feuerschein ein wenig Licht nach vorn auf klobig braunes Gestein.
Qualvoll, unendlich qualvoll ist ein jeder Schritt den rauen Gesteinshang hinauf. Wie lange schon müssen seine Füße diesen Aufstieg ertragen – und ihn selbst tragen. Ihn und den gewaltigen Felsbrocken auf seinen Schultern und Nacken.
Hart ist die Strafe, die Sisyphos erleiden muss. In Tizians Bild ebenso wie im uralten Mythos. Demnach haben die Götter Sisyphos, den sagenhaften Gründer und König von Korinth, dazu verdammt, einen schweren Gesteinsbrocken einen steilen Abhang hinauf zu stemmen. Doch sobald der Stein den höchsten Punkt erreicht, rollt er wieder in die Tiefe, und Sisyphos muss seine Arbeit von neuem beginnen.
In welcher Tiefe er den Stein zum wievielten Male schon auf seine Schultern geladen hat? Wer weiß? Man sieht nur, dass er steigt – immer weiter steigt. Die Muskeln und Sehnen seines kräftigen Körpers sind von der Last zum Zerreißen gespannt. Bloß der straffe Gurt um seine Lenden scheint dem Körper ein wenig Halt zu geben.
1548 hat Tizian das mehr als zweimal zwei Meter große Bild gemalt – als Auftragswerk für die Schwester Karls V. Der hochgeschätzte Renaissancekünstler war seit vielen Jahren vorzugsweise für die Mächtigen seiner Zeit tätig.
Strafe für die Überheblichkeit des Menschen
"Sisyphos" gehört in eine Gruppe von Gemälden, auf denen Tizian vier mythologische Figuren zeigt, die von den Göttern zu ewiger Qual verdammt werden. Neben Sisyphos sind es Tantalos, Tityos und Ixion. Sie gelten als "exempla doloris" – als Beispiele für die grausame Strafe, die den Menschen ereilt, sollte er sich in seinem Tun und Trachten überheben.
Denn sieh: Tief hat das Gewicht der Strafe das Haupt des Überheblichen auf die Brust hinabgedrückt und den Blick hinunter an den steinbeschwerten Schritt seiner Füße geheftet.
"Hybris" nannten die Griechen die Überheblichkeit des Menschen. Seine Vermessenheit, weiter über sich hinauszugreifen, als ihm gebührt. So heißt es in dem berühmten Chorlied aus der "Antigone" des Sophokles:
Ungeheuer ist viel. Doch nichts
Ungeheurer, als der Mensch.
Rat für alles weiß er sich, und ratlos trifft
Ihn nichts, was kommt.
Vor dem Tod allein
Wird er sich kein Entrinnen schaffen.
Ungeheurer, als der Mensch.
Rat für alles weiß er sich, und ratlos trifft
Ihn nichts, was kommt.
Vor dem Tod allein
Wird er sich kein Entrinnen schaffen.
Gegen dieses Los hatte Sisyphos sich gestemmt. Als er sterben sollte, untersagte er seiner Gattin, ihn zu bestatten. In der Unterwelt überredete er Hades, in die Oberwelt zurückkehren zu dürfen. Er wolle seine Gattin ermahnen, das Versäumte nachzuholen. Natürlich kehrte er von dort nicht zurück.
Zur Strafe muss Sisyphos immer wieder in die Tiefe hinabsteigen und auf ewig vergebens seine steinige Last hinaufstemmen. Denn den begehrten Gipfel – die Überwindung des Todes – wird er, der Sterbliche, niemals erreichen.
Sein Gesicht – die Stirn, Wangen, die gerade Nase – ist fast ganz in Dunkelheit getaucht. Als zählte von seiner Person nur noch dieser kräftige, hell ausgeleuchtete Körper, der besinnungslos sein sinnloses Tun zu verrichten hat.
Höllische Strafe für die christlichen Sünder
Tizians "Sisyphos" – zusammen mit den drei anderen Gemälden – ist der erste Auftrag mit mythologischen Themen, den der schon fast 60-jährige Künstler erhält. Die fromme Schwester Karls V., Maria von Ungarn und Statthalterin der Spanischen Niederlande, hatte sie für ihr neuerbautes Schloss im wallonischen Binche bestellt. Als Mahnung an Höllenqual und ewige Strafe.
Denn als "pene infernali" stehen sie nun exemplarisch für die "höllischen Strafen", die dem christlichen Sünder drohen. Und sind zugleich eindringliche Mahnung, den Weg der Tugend zu beschreiten. In diesem Sinne heißt es auch bei Erasmus von Rotterdam in seinem "Handbüchlein des streitbaren Christen":
"Geh nun und vergleiche mit diesem Weg den der Tugend, der sogleich aufhört, steil zu sein, und mit jedem Fortschritt sanfter und angenehmer wird, über den man in sicherster Hoffnung zum höchsten Gut gelangt."
So verspricht es die Heilslehre des Christentums. Denn dem Gläubigen winkt am Ende seines langen Aufstiegs ein für ihn erreichbarer Gipfel – Erlösung und ewiges Heil.
Der unter seiner steinigen Last Gebeugte aber weiß, dass für ihn der Gipfel unerreichbar bleibt. Gebeugt ist er – doch er wirkt nicht gebrochen. Es scheint, als wäre sein Wille ganz in seinen kraftvollen Körper eingegangen. Stark genug, sein Schicksal zu tragen.
Die Freiheit des Menschen
Weniger ein Sünder ist Tizians "Sisyphos". Er besitzt die Kraft, für sein vermessenes Tun mit jeder Faser seines Seins selbst einzustehen. Darin erscheint sein Sisyphos zugleich als eine Gestalt der neuen Zeit.
Hatte nicht Pico della Mirandola 1486 in seiner berühmten "Rede über die Würde des Menschen" wegweisend für den Menschen sowie für den Geist dieser neuen Zeit geschrieben:
"Weder sterblich noch unsterblich bist du geschaffen, damit du wie dein eigener, frei entscheidender, schöpferischer Gestalter dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigeren entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen, wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt."
Alle Willens- und Gestaltungsfreiheit kommt somit dem Menschen selbst zu – und damit ebenso die Freiheit, maßlos fehlzugehen wie Sisyphos.
Ob Tizian diese Zeilen aus der Blütezeit des italienischen Renaissance-Humanismus kannte, ist nicht überliefert. 1576 stirbt der Maler im Alter von fast 90 Jahren. Nach einem ungewöhnlich langen wie ungewöhnlich erfolgreichen Leben, das ihn – auch er eine Gestalt der neuen Zeit – bis zum Gipfel unsterblichen Ruhms geführt hat.
Sisyphos aber stemmt weiterhin seine zentnerschwere Last hinauf. Erfolglos. Immer und immer wieder lädt er sich denselben Felsbrocken auf Schultern und Nacken. Immer und immer wieder denselben rauen Gesteinshang hoch.
Denn noch immer leistet jener Unglückselige seine sprichwörtliche "Sisyphos-Arbeit". Doch nicht nur er – längst geht es nicht mehr um den vermessenen Frevler oder den verworfenen Sünder, der auf ewig seine von den Göttern oder von Gott verhängte Strafe zu stemmen hat, nicht mehr um Unterwelt oder Hölle.
Längst geht es um das Geschick des Menschen überhaupt, geht es um sein Schicksal in der Welt. Der Altphilologe Bernd Seidensticker:
"In Sisyphos, der die Sinnlosigkeit der Wiederholung zu ignorieren scheint und unbeirrt seinen Stein nach oben wälzt, erkennen wir uns als Menschen wieder. Sisyphos provoziert, weil er uns zu uns selbst befragt – warum wir uns immer wieder den Bedingungen der menschlichen Existenz beugen und den Stein nicht einfach unten liegen lassen."
Doch was bleibt diesem Mann dort auf dem Gesteinshang anderes, als unbeirrt zu tun, was er tut? Mag es auch sinnlos sein. Was bleibt ihm, als sein menschliches Geschick zu tragen und zu ertragen?
Im Herbst 1939 notiert der 27-jährige Albert Camus in sein Tagebuch:
"Eines Abends, wenn man vor den Spiegel tritt, liegt eine etwas tiefere Falte um den Mundwinkel. Was ist das nur? Wenn es stimmt, dass das Absurde offenbar geworden ist, dann stimmt es auch, dass alles Tun gleichermaßen lehrreich ist. Unter der Bedingung, dass der Mensch diese Erfahrung im Besitz seiner ganzen Hellsichtigkeit auf sich nimmt."
Wie aber soll das möglich sein? Liegt doch das Gesicht des Mannes fast vollständig im Dunkeln. Alle Helligkeit und alle Sicht sind ihm genommen. Und wirkt er nicht eher wie mit Blindheit geschlagen, wie er da seinen schweren Stein den Abhang hochschleppt?
Der Rückweg ist die Stunde des Bewusstseins
So geschieht es beim Aufstieg des Sisyphos. Was aber passiert bei seinem Abstieg? Albert Camus wird der erste in der langen Geschichte der Sisyphosdeutungen sein, der sich auf diesen Augenblick konzentriert. 1942 veröffentlicht der Schriftsteller seinen berühmten Essay "Der Mythos des Sisyphos". Darin schreibt er:
"Auf diesem Rückweg, während dieser Pause interessiert mich Sisyphos. Ich sehe, wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewusstseins."
Es ist die Stunde, in der – so Camus –, "das glühende Verlangen nach Klarheit" erwacht. Es ist die Zeit des Denkens, in der der Mensch Hellsicht für sich und seine Lage zu gewinnen trachtet. Für die Seinslage des Menschen in der Moderne, in der der Mensch anders als der mythische Frevler, anders als der christliche Sünder der existentiellen Erfahrung des Absurden ausgesetzt ist.
"Aufstehen, Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus. Eines Tages aber erhebt sich das "Warum?". Mit diesem Überdruss fängt alles an."
Und der Mensch beginnt, nach dem Sinn seines Tuns zu fragen. Nach einem Sinn, der seinem Leben über das bewusstlos blinde Auf und Ab seiner Tage hinaus Bedeutung und Rechtfertigung gibt. In der christlichen Tradition geschah dies im Vertrauen auf einen göttlichen Heilsplan, der der irdischen Mühsal einen letzten und höchsten Sinn verleihen sollte.
Dem Absurden in der Welt standhalten
Für Camus bedeutet eine solche Annahme jedoch – Flucht. Flucht aus der Welt, um der existentiellen Erfahrung des Absurden zu entkommen, durch einen "Sprung in die Transzendenz" – so bezeichnet es der Schriftsteller.
"Wenn es das Absurde gibt, dann nur im Universum des Menschen. Sobald der Begriff des Absurden sich in ein Sprungbrett zur Ewigkeit verwandelt, ist er nicht mehr mit der menschlichen Hellsichtigkeit verbunden. Dieser Sprung ist ein Ausweichen."
Statt in eine transzendente Überwelt auszuweichen, gelte es, dem Absurden in der Welt standzuhalten. Gelte es, Klarheit über sich und seine Lage zu gewinnen und sich vor allem seine Hellsichtigkeit zu bewahren. Wie Sisyphos auf seinem Weg den Berg hinunter.
"Sisyphos kennt das ganze Ausmaß seiner unseligen Lage: über sie denkt er nach während des Abstiegs. Die Hellsichtigkeit, die Ursache seiner Qual sein sollte, vollendet zugleich seinen Sieg. Die erdrückenden Wahrheiten verlieren an Gewicht, sobald sie erkannt werden."
Doch sieh – schon steigt Sisyphos den Abhang wieder hoch. Schon hat es den Anschein, als würde das Gewicht des Steins abermals seine Füße schwerer und schwerer in den felsigen Boden drücken. Und als würde sich seine Sicht erneut Schritt um Schritt verdunkeln. Verdüstert von der Gewissheit, dass der Gipfel unerreichbar bleiben und der Stein niemals oben liegenbleiben wird.
Sei's drum. Eins nimmt Sisyphos bei seinem Aufstieg trotz allem mit – die Erkenntnis, so Camus:
"Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache."
Deshalb sagt er Ja zu seinem vergeblichen Tun. Ja zu seiner "Mühsal ohne Ende", die stets von neuem beginnt und erst mit dem Tod ein Ende findet.
"Es macht aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muss. Überzeugt von dem rein menschlichen Ursprung alles Menschlichen."
Nichts Menschenunmögliches erstreben
Nicht von ungefähr hat Camus seinem Sisyphos-Essay eine Zeile des antiken Dichters Pindar vorangestellt: "Liebe Seele, trachte nicht nach dem ewigen Leben, sondern schöpfe das Mögliche aus."
Eine Mahnung, als Mensch nichts Menschenunmögliches zu erstreben, sondern sich auf sein menschliches, irdisches Maß zu besinnen. Weiter heißt es in Pindars Ode: "Es gilt zu suchen, was zu sterblichem Sinne passt, erkennend, was vor dem Fuß liegt: von welchem Geschick wir sind."
Vor dem Fuß liegt zum einen die steinige Last des Daseins, dessen Gewicht wir zu tragen haben. Vor und unter dem Fuß aber liegt ebenso die Erde, die wiederum das Gewicht von uns Menschen trägt und über deren mal harten, mal nachgiebigen Boden die Schritte unserer Füße ihren Weg in der Welt nehmen.
Sisyphos war ein glücklicher Mensch
Mal schwerbeladen, mal wie befreit von der Last, mal einen Abhang hinauf, mal einen Berg hinunter, mal verdunkelt von Anstrengung und Mühsal, mal in Helligkeit und Klarsicht. Seit undenklichen Zeiten. Von einer "Treue zur Erde" hat Friedrich Nietzsche gesprochen, nachdem auch für ihn die Annahme einer transzendenten Überwelt ihre Glaubwürdigkeit verloren hatte. In seiner Schrift "Also sprach Zarathustra" heißt es: "Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden."
Von einer Treue zur Erde spricht auch Albert Camus. Im letzten seiner vier fiktiven "Briefe an einen deutschen Freund" aus dem Jahr 1944 schreibt er:
"Ich habe mich entschieden, der Erde treu zu bleiben. Ich glaube weiterhin, dass unserer Welt kein tieferer Sinn innewohnt. Aber ich weiß, dass etwas in ihr Sinn hat, und das ist der Mensch, denn er ist das einzige Wesen, das Sinn fordert. Diese Welt besitzt zumindest die Wahrheit des Menschen."
Derweil beginnt Sisyphos erneut seinen Aufstieg.
Vielleicht trägt ihn nun diese Treue zur Erde den Gesteinshang hoch. Gewiss – mit seinem gewaltigen Fels auf Schultern und Nacken spüren seine Füße jetzt nur den harten, steinigen Boden. Aber er weiß zugleich, wie anders seine Schritte werden, wenn es wieder hinuntergeht. Vielleicht hat er ebenso verstanden, dass es einzig die Erde ist, die ihm und seinem grundlosen Dasein einen tragenden Grund zu geben vermag, hat außerdem verstanden, dass er mit seinem Geschick in der Welt nicht allein ist – und dass dies im Grunde genug ist.
Diesem Fazit seines "absurden Helden" würde Albert Camus vielleicht zustimmen können. Sein Essay "Der Mythos des Sisyphos" endet mit den Worten:
"Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Sisyphos jedoch lehrt uns die höhere Treue, die die Götter leugnet und Felsen hebt. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen."