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Situation auf dem Mittelmeer
"Lifeline"-Kapitän: "So was ist einfach Mord"

Die Situation auf dem Mittelmeer sei dramatisch, so der Kapitän der "Lifeline", Claus-Peter Reisch, im Dlf. Sein Schiff nahm im Juni 234 Migranten an Bord - nun steht Reisch in Malta vor Gericht. Der libyschen Küstenwache warf er vor, Menschen im Meer "zum Sterben" zurückzulassen.

Claus-Peter Reisch im Gespräch mit Philipp May | 18.07.2018
    Such- und Rettungsmission im Mittelmeer vor der libyschen Küste am 27. Januar 2018. Zu sehen sind zwei Schlauchboote mit Menschen an Bord.
    Claus-Peter Reisch will Flüchtlingen auf dem Mittelmeer weiterhin helfen. Das Bild zeigt eine Such- und Rettungsmission im Mittelmeer vor der libyschen Küste am 27. Januar 2018. (PA/dpa/picture alliance)
    Philipp May: Mittlerweile aus Malta zurückgekehrt ist Claus-Peter Reisch, Kapitän des Flüchtlingsschiffs "Lifeline", das Ende Juni 234 Migranten im Mittelmeer aufgenommen hatte und erst nach tagelanger Irrfahrt im Hafen von Malta einlaufen durfte. Dort ist das Schiff jetzt festgesetzt und der Kapitän Claus-Peter Reisch muss sich vor Gericht verantworten. Deswegen muss er am 30. Juli, in anderthalb Wochen, wenn der Prozess weitergeht, auch wieder zurück sein. – Jetzt ist er aber erst einmal am Telefon. Schönen guten Morgen, Herr Reisch.
    Claus-Peter Reisch: Ja, guten Morgen.
    May: Herr Reisch, wie ist die Situation derzeit im Mittelmeer?
    Reisch: Die Situation ist dramatisch. Es dürfen keine Rettungsschiffe auslaufen. Es sind nur die zwei spanischen Schiffe "Open Arms" und "Astral" unterwegs. Es werden aber dringend weitere Schiffe dort gebraucht. Wie Sie es ja vorher schon beschrieben haben: Gestorben wird reichlich. Und jetzt kann es auch noch nicht mal mehr dokumentiert werden – dadurch, dass die beiden Suchflugzeuge, die "Moonbird" auf Malta und die "Kolibri" auf Lampedusa, nicht mehr starten dürfen. Das heißt, auf Malta ist einfach Flugverbot, sie dürfen nicht abheben, und auf Lampedusa werden sie einfach vom Sprit abgeschnitten, sie dürfen nicht tanken.
    "Ich empfehle den Leuten ja immer, fahrt einfach mal mit"
    May: Was denken Sie, wenn Sie die Kritik von rechten und konservativen Politikern wie zum Beispiel Horst Seehofer hören, sie würden quasi einen Shuttle-Service für Migranten von Libyen nach Europa betreiben?
    Reisch: Das ist einigermaßen absurd. Ich empfehle den Leuten ja immer, fahrt einfach mal mit. Ich mache eine Koje frei, kein Problem; dann könnt ihr euch selber davon überzeugen, was da passiert. Es ist völlig absurd.
    Jetzt aktuell zum Beispiel gestern hat die "Astral" – das ist ein Segelboot, was ein reicher Engländer zur Verfügung gestellt hat – ein zerschnittenes, vernichtetes Flüchtlingsschlauchboot gefunden. Auf diesem Flüchtlingsschlauchboot waren noch drei Personen drauf. Die haben die Libyer nicht mitgenommen. Eine der Frauen konnte lebend geborgen werden, ein kleines Kind und eine weitere Frau sind Stunden vor der Ankunft der "Astral" auf diesem Wrack verstorben.
    May: Weiß man, warum die libysche Küstenwache die Frauen nicht mitgenommen hat?
    Reisch: Es wird gemutmaßt, dass sich die zwei Frauen geweigert haben, bei den Libyern an Bord zu gehen. Ich meine, wenn man weiß, was in Libyen passiert, in diesen Lagern, dann kann man das auch gut verstehen. Aber so was ist einfach Mord. Die lassen Leute auf dem offenen Meer zurück zum Sterben.
    May: Aber der Vorwurf, der an Sie ja immer gerichtet ist, ist ja, dass Sie die Schlepper, die ja auch Radar haben, regelrecht anlocken und die dann ihre Boote, die nicht tauglich für eine Überfahrt sind, mit wenig Benzin einfach nur in Ihre Richtung schicken.
    Reisch: Ja, das ist auch so eine Mär. Wissen Sie, derzeit ist überhaupt kein Rettungsschiff in der Rettungszone, seit Wochen nicht, und die Todeszahlen gehen raketenartig nach oben. Diesen Monat bereits schon über 700 Tote. Der Juli wird als der tödlichste Monat in die Geschichte der Seenotrettung vor der libyschen Küste eingehen. Und wenn dem so wäre, dass die Schlepper und die NGOs zusammenarbeiten würden, dann würden ja gerade jetzt, wo keine Boote vor Ort sind, auch keine Schlauchboote und Holzboote losgeschickt werden.
    May: Nein, nein! Es wird ja auch nicht gesagt, dass sie zusammenarbeiten würden, sondern dass die Schlepper Sie einfach orten und wissen, Sie sind da, und dann schicken sie ihre Boote los.
    Reisch: Na ja. Aber jetzt wissen sie, dass wir nicht da sind, und schicken trotzdem die Boote los.
    May: Okay. – Jetzt haben Sie die 234 Menschen im Mittelmeer gerettet, in libyschen Gewässern. Warum haben Sie die Flüchtlinge nicht danach der libyschen Küstenwache übergeben?
    Reisch: Zum einen habe ich sie nicht in libyschen Gewässern gerettet, sondern einmal 19 und einmal 24 Meilen vor der Küste. Das ist nicht in libyschen Territorialgewässern. Und warum man die Menschen nicht zurückgeben kann an die Libyer – die waren ja bei uns an Bord -, das ist ganz einfach. Es gibt eine Genfer Flüchtlingskonvention mit dem Non Refoulement Prinzip. Man kann die Leute nicht dorthin zurückbringen, wo sie geflüchtet sind. Libyen ist ein extrem gefährliches, unsicheres Land. Es gibt auch noch die europäische Menschenrechtskonvention. Nach der ist das auch verboten. Und alleine diese beiden Gesetze verbieten es, die Leute dahin zurückzubringen.
    "Europa muss einfach seine Handelspolitik mit Afrika ändern"
    May: Das heißt, wie sollte Europa dann mit diesem Problem umgehen?
    Reisch: Zum einen sind wir ja nur der Notarzt. Europa muss einfach seine Handelspolitik mit Afrika ändern. Es kann nicht sein, dass Afrika von den westlichen Staaten ausgeplündert wird und ausgedrückt wird wie eine Zitrone. Da gibt es viele Beispiele dafür: Die Geschichte mit den Tomaten, den Hühner-Karkassen, Kleiderspenden, Fisch etc., etc. Es wird reichlich ausgebeutet und dann wundert man sich, wenn man die Wirtschaftsgrundlagen dieser Länder zerstört hat, dass es dann an der Tür klingelt und die Leute vor der Tür stehen.
    Auch ist Deutschland ja einer der größten Waffenexporteure der Welt. Überall auf der Welt, wo geschossen wird, ist Deutschland mit dabei. Das kann man auch unterbinden und man muss einfach erträgliche Lebensbedingungen in den Ländern schaffen, wo die Leute wegen Krieg oder Hunger davonlaufen. Das ist mal das eine. Und das andere ist: Bis man das schafft, muss man einfach Seenotrettung betreiben. Man kann die Menschen nicht einfach im Meer ertrinken lassen.
    May: Nichts desto trotz werden gerade jetzt europaweit bevorzugt Politiker gewählt, die für Abschottung und Härte stehen, weil die Menschen das Gefühl haben, es ist zu viel.
    Reisch: Ja, das ist sehr traurig, das was da immer wieder kolportiert wird. Wie eingangs schon gesagt: Ich empfehle den Leuten, sie sollen einfach mal mitfahren. Dann können sie sich so ein Drama anschauen, wenn ein Flüchtlingsboot untergeht, und vielleicht ändert sich ja dann die Meinung, was ich bei manchen leider nicht glaube. – Ja, die Zeiten ändern sich und die Zeiten ändern sich leider offensichtlich nicht zum Guten. Das ist so, das muss man so einfach festhalten. Dieser Rechtsruck eines Herrn Salvini zum Beispiel, der einfach sagt, wir würden Menschenfleisch befördern – ich weiß gar nicht so recht, was ich darauf entgegnen soll. Ich dachte, vor 70 Jahren hätte man diesen Jargon in der alleruntersten Schublade verschwinden lassen und würde ihn nie mehr rausholen.
    May: Nichts desto trotz stehen Sie jetzt vor Gericht in Malta. Sie müssen am 30. Juli wieder zurück sein, weil dann geht Ihr Prozess weiter. Was werfen Ihnen die maltesischen Behörden eigentlich konkret vor?
    Reisch: Der einzige Vorwurf, der mir gemacht wird, ist, dass unser Schiff nicht ordnungsgemäß registriert gewesen wäre.
    May: Die suchen eigentlich einen Grund, oder?
    Reisch: Ja klar suchen sie einen Grund. Wenn sie mich vor Gericht stellen könnten, weil ich irgendein Seerecht gebrochen hätte, oder weil ich der Schlepperei oder sonst irgendwas beschuldigt worden wäre, dann würden die das garantiert tun. Da sie aber da nichts in der Hand haben, weil es auch nichts gibt in dieser Richtung, versucht man das dann einfach über die Bootspapiere. Die Bootspapiere, die ich vorgelegt habe, sind Originale. Das hat man mittlerweile zugeben müssen. Sie sind nicht selber gemacht und auch nicht gefälscht. Die Bootspapiere sind im richtigen Zeitraum, das heißt die gelten immer zwei Jahre. Das Zertifikat läuft im September nächsten Jahres ab. Das ist auch gut. Es steht auch drin: "Flag Dutch", Flagge Holländisch, und jetzt behauptet man, dieses Papier würde nicht gelten, es hätte keine Gültigkeit.
    Ich habe darüber hinaus ein weiteres Zertifikat in den Händen. Das ist unser Funkzertifikat. Wir müssen ja die Funkgeräte anmelden. Das ist vom holländischen Wirtschaftsministerium und auch da ist unser Schiff eindeutig beschrieben. Und es gibt eine sogenannte MMSI-Nummer. Das ist eine eindeutige Identifikationsnummer, die gibt es nur einmal auf der Welt, für die AIS-Transponder und die Funkgeräte auf dem Schiff. Die fängt immer mit einer dreistelligen Länderkennung an und die ist 244 für Holland.
    "Was ist das für eine absurde Welt!"
    May: Herr Reisch, weil wir nicht mehr so viel Zeit haben. Eine Frage würde ich gerne noch stellen. Werden Sie von den deutschen Behörden unterstützt?
    Reisch: Von den deutschen Behörden? Es ist eine Mitarbeiterin der Botschafterin im Gericht mit dabei, die verfolgt das. Aber das war es dann auch schon.
    May: Wenn das alles vorbei ist und das Schiff freigegeben wird, machen Sie dann weiter?
    Reisch: Ja freilich!
    May: Da gibt es gar keine Frage. Dann sind Sie sofort wieder draußen?
    Reisch: Ja.
    May: Haben Sie Sorge, dass Sie den Prozess verlieren könnten?
    Reisch: Eigentlich nicht.
    May: Aber schlimmstenfalls müssten Sie hinter Gitter.
    Reisch: Na ja. Wissen Sie, für so ein Bootspapier? Über was reden wir? Wir reden über einen Zettel, der angeblich nicht gültig sein soll, und da draußen sterben Menschen. Was ist das für eine absurde Welt!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.