Donnerstag, 28. März 2024

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Situation in Bergkarabach
"Türkei und Russland entscheiden nicht, wann dieser Krieg zu Ende geht"

Der Konflikt um Bergkarabach habe sich mit dem Eingreifen der Türkei auf der Seite Aserbaidschans grundlegend verändert, sagte der Politologe Stefan Meister von der Böll-Stiftung im Dlf. Aserbaidschan glaube jetzt, den Krieg gewinnen zu können. Ein echter Waffenstillstand mit Armenien sei kaum möglich.

Stefan Meister im Gespräch mit Peter Sawicki | 12.10.2020
Aserbaidschan, Stepanakert: Ein Mann geht an einem Haus vorbei, das von der aserbaidschanischen Artillerie durch Beschuss zerstört wurde.
Stepanakert in Bergkarabach ist stark bombardiert worden (AP/dpa-Bildfunk)
Der Konflikt um Bergkarabach reicht im Kern über 100 Jahre zurück und bricht seit dem Ende der Sowjetunion immer wieder aus. Es geht um eine Region, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird. Beide Seiten erheben Anspruch darauf und weil beide Länder ehemalige Sowjetrepubliken sind, wird besonders auf die Rolle Russlands geschaut. Mittlerweile ist aber auch die Türkei offen involviert. Und mit dem Eingreifen der Türkei habe sich Grundlegendes verändert, sagte der Politologe und Leiter des Büros der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Georgien, Stefan Meister, im Dlf.
Russland sei nicht, wie immer wieder gesagt wird, ein Verbündeter Armeniens. Es sei mit Armenien verbunden, aber es liefere auch Waffen an beide Seiten. Aserbaidschan bekomme dabei die besseren Waffen, weil es auch mehr zahlen könne. Letztlich gehe es Moskau auch darum, diese beiden Länder in einem Abhängigkeitsverhältnis zu behalten. Und aus der Moskauer Perspektive seien Aserbaidschan und die Türkei auch keine Feinde, gegen die man kämpfen möchte. Grundsätzlich sei es aber ein armenisch-aserbaidschanischer Krieg, sagte Meister. "Diese externen Kräfte, Türkei und Russland, haben gewissen Einfluss, aber sie entscheiden nicht, wann dieser Krieg zu Ende geht."

Das Interview in voller Länge:
Peter Sawicki: Wir haben es gerade angesprochen: Eine Waffenruhe, die am Samstag durchaus überraschend verkündet wurde. Aber wir lesen heute Morgen bereits wieder von Luftangriffen – zumindest, wenn man der Darstellung Aserbaidschans glauben darf. Ist die Hoffnung auf Deeskalation schon wieder verflogen?
Stefan Meister: Es war leider, glaube ich, nicht zu erwarten, dass es zu einem echten Waffenstillstand kommen würde. Es ging ja vor allem darum, Verwundete und auch Tote auf beiden Seiten auszutauschen und aufzunehmen. Aber am gleichen Tag, an dem der Waffenstillstand am Abend verkündet worden ist, hat der aserbaidschanische Präsident Aliyev ja noch gesagt, dass es letztlich nur einen Waffenstillstand oder nur einen Frieden geben kann, wenn Armenien diese Territorien an Aserbaidschan gibt, und die aserbaidschanische Führung glaubt auch, dass sie diesen Krieg gewinnen kann. In deren Sicht war es leider wohl auch absehbar, dass aktuell es kaum möglich ist, hier einen echten Waffenstillstand hinzubekommen.
"Türkei greift militärisch viel stärker auf aserbaidschanischer Seite ein"
Sawicki: Lassen Sie uns über den weiteren Verlauf gleich noch genauer sprechen. Vielleicht noch mal kurz ein Rückblick. Die letzten großen Gefechte gab es ja im Jahr 2016. Die hatten damals nur wenige Tage gedauert, bevor man sich auf einen Waffenstillstand geeinigt hatte. Warum geht das diesmal nicht so ohne Weiteres?
Meister: Ich denke, weil sich etwas Grundlegendes verändert hat, und das ist das Eingreifen der Türkei. Die Türkei hat immer rhetorisch in erster Linie Aserbaidschan unterstützt, aber aktuell sehen wir – und das haben wir auch schon im Juli gesehen -, dass die Türkei auch militärisch viel stärker auf aserbaidschanischer Seite eingreift. Es gab eine Übung zwei Wochen vor dem Konflikt zwischen aserbaidschanischem und türkischem Militär. Dabei ist wohl Technik auch vor Ort gelassen worden. Es wird davon ausgegangen, dass es auch syrische Kämpfer gibt, die über die Türkei auf der Seite Aserbaidschans kämpfen und eingeflossen sind. Wir haben hier neue Spielregeln in diesem Konflikt und das Gefühl auf aserbaidschanischer Seite, man kann diesen Krieg gewinnen, und gleichzeitig aber auch das Gefühl, man ist allein gelassen worden von der internationalen Gemeinschaft, während Armenien immer stärker diese Gebiete Karabach und die sieben umliegenden Regionen integriert.
Eine Frau sucht Schutz in einem Keller in Nagorny, Karabach
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"Stepanakert ist sehr stark bombardiert worden"
Sawicki: Beim Stichwort syrischer Kämpfer: Ist das aus Ihrer Sicht bestätigt, dass die aufseiten Aserbaidschans kämpfen?
Meister: Man muss das natürlich mit Vorsicht genießen. Aber es gibt inzwischen so viele Berichte und Hinweise auch von glaubwürdigen Quellen, auch von Personen, die vor Ort in Syrien Interviews durchgeführt haben, dass man davon ausgehen kann, dass es wohl syrische Kämpfer auf aserbaidschanischer Seite gibt. Man muss sehr, sehr vorsichtig sein, aber die Indizien sprechen einfach sehr stark dafür.
Sawicki: Was hören Sie selbst? Was hört Ihr Büro denn aus der Region Bergkarabach selbst? Denn es ist ja durchaus schwierig, wie Sie sagen, überhaupt an Informationen zu gelangen. Wie ist da der Alltag derzeit für die Menschen?
Meister: Wir haben erneut eine große Fluchtwelle aus Bergkarabach Richtung Armenien. Viele Flüchtlinge, die in der armenischen Hauptstadt Jerewan ankommen und dort irgendwo untergebracht werden müssen, vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen, die hier fliehen. Stepanakert, die Hauptstadt dieses de facto Gebietes, ist sehr stark bombardiert worden, wird weiter bombardiert, ist stark zerstört worden, wohl auch hohe Opfer nicht nur bei den Soldaten, sondern auch in der Zivilgesellschaft. Wir kennen keine wirklich konkreten Zahlen, wie viele Menschen umgekommen sind. Man geht aktuell von bis zu tausend Personen auf beiden Seiten insgesamt aus. Aber vor Ort leidet vor allem die Zivilbevölkerung und wir haben massive Bombardements auf das Gebiet von Bergkarabach und vor allem auf die Hauptstadt.
"Es wird wirklich um jeden Millimeter gekämpft"
Sawicki: Gibt es die Möglichkeit, der Zivilbevölkerung vor Ort überhaupt von außen zu helfen?
Meister: Das ist sehr schwer, weil der Zugang natürlich auch sehr schwer ist. Das geht aktuell vor allem über Armenien. Armenien ist auch ein sehr armes Land, hat wenig Ressourcen auch, um der armenischen Bevölkerung, der armenischen Ethnie dort zu helfen. Aktuell gibt es kaum Zugänge. Das ist ja das Problem. Wir haben ja auch keine internationalen Beobachter an der Kontaktlinie. Wir haben das Rote Kreuz, was hier in erster Linie noch aktiv ist. Das ist eigentlich die einzige Organisation, die tatsächlich noch Zugang hat. Aber es ist auch Kampfgebiet, es ist Kriegsgebiet. Es wird ständig bombardiert und es wird wirklich auch um jeden Millimeter hier gekämpft. Es ist auch nicht leicht, gerade jetzt an der Frontlinie oder auch in den Orten und Dörfern, die an der aktuellen Frontlinie sind, hier wirklich für zivile Helfer Zugang zu bekommen.
Sawicki: Diese intensiven Kämpfe hat sich Russland eine gewisse Zeit angeschaut. Jetzt gab es ja diese diplomatische Offensive vonseiten Moskaus. Heute soll ja übrigens auch der armenische Außenminister noch einmal nach Moskau reisen, wenn wir das hier richtig gelesen haben. Spielt Russland diplomatisch da eine konstruktive Rolle?
Meister: Ich denke, das ist ein Grundproblem. Wir haben hier mit der OSZE-Minsk-Gruppe drei Co-Chairs, wo zusätzlich zu Frankreich und den USA Russland einer ist, und wir haben letztlich eine Art Disengagement, ein Herausziehen der anderen beiden Co-Chairs, und man hat diesen Konflikt über Jahre letztlich Russland gegeben, um dann diese Waffenstillstandsabkommen auszuhandeln. Russland ist aber nicht, wie immer wieder gesagt wird, Verbündeter Armeniens. Es ist natürlich durch die Sicherheitsorganisation ODKB mit Armenien verbunden, aber es liefert auch Waffen an beide Seiten, verkauft sie auch zu Marktpreisen an Aserbaidschan und zu günstigeren Preisen an Armenien. Aserbaidschan bekommt die besseren Waffen, weil sie auch mehr zahlen, und Russland hat sich immer als ehrlicher Makler in diesem Konflikt präsentiert, hat aber gleichzeitig diesen Konflikt auch für sich instrumentalisiert. Es geht letztlich Moskau auch darum, diese beiden Länder in einem Abhängigkeitsverhältnis zu behalten und diesen Konflikt dazu zu nutzen, und damit ist es natürlich auch, wie soll man sagen, diskreditiert aus armenischer Seite. Natürlich ist man von Russland abhängig, aber man weiß auch, dass man sich auf Russland nicht wirklich verlassen kann. Und aus der Moskauer Perspektive sind Aserbaidschan und die Türkei auch keine Feinde, gegen die man kämpfen möchte. In der Hinsicht ist es sehr schwer zu erwarten, dass Moskau militärisch in diesem Konflikt aufseiten Armeniens eingreift, und damit fühlt sich Armenien vor allem natürlich auch alleine gelassen und noch mal stärker unter Druck.
"Das ist ein armenisch-aserbaidschanischer Krieg"
Sawicki: Aber wenn man jetzt noch mal darauf schaut, dass es mutmaßlich diese syrischen Kämpfer gibt aufseiten Aserbaidschans, was ja sicherlich nicht im Interesse Russlands wäre, was heißt das dann fürs weitere Vorgehen Russlands bei diesem Konflikt?
Meister: Wir können uns erst mal vorstellen, dass Russland nicht völlig überrascht davon war, dass diese Attacke, die vor allem jetzt von Aserbaidschan ausgegangen ist und über Wochen vorbereitet worden ist, unbeachtet war. Auch die Bewegung von Gerät und von Personen, das sieht man über Satellitenbilder, aber das sieht man auch, wenn man vor Ort ist. Ich kann mir einerseits gut vorstellen, dass es für Russland auch akzeptabel ist, dass bestimmte Gebiete, zum Beispiel diese sieben umliegenden Provinzen um Bergkarabach, die ja auch von Armenien besetzt sind und zu aserbaidschanischem Territorium gehören, dass man da bereit ist, die auch an Aserbaidschan abzugeben, dass man hier auch eine Art Deal macht und möglicherweise so lange wartet, bis bestimmte Fakten on the ground geschaffen worden sind. Ansonsten kann Russland natürlich Druck ausüben, aber man muss wirklich auch verstehen: Das ist ein armenisch-aserbaidschanischer Krieg, den wir hier haben, und Konflikt. Diese externen Kräfte, Türkei und Russland, haben gewissen Einfluss auf diesen Konflikt, aber sie entscheiden nicht, wann dieser Krieg zu Ende geht, sondern es sind diese beiden Akteure.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.