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Sizilianisches Nachtstück

Der jüngst übersetzte Roman des Sizilianers Vincenzo Consolo, eines engen Freundes von Leonarda Sciascias und wie er poetischer Chronist der Insel, beginnt mit einer schaurig-gruseligen Szene, die gleich zu Beginn den Leser in geheimnisvolle Spannung versetzt; das kalte Licht des Vollmonds hüllt die Küstenlandschaft in eine geisterhafte Atmosphäre, da passiert etwas:

von Lerke von Saalfeld |
    Die Tür eines Hauses öffnete sich, und lautes Heulen zerriss die Stille, die über den Feldern lag, es war voller Verzweiflung und Schmerz, Schmerz der Zeit, vor dem es kein Entrinnen gab. Ein Schatten wälzte sich unter dem Mond, zwischen den Brombeersträuchern und dem Kalkgestein. Er lief, Mensch oder Tier, wie bedrängt, wie verfolgt von anderen Tieren oder unsichtbaren Dämonen. Und er weckt mit seinem Jammern, mit seinen traurigen Klagen Vögel Hunde Ziegen. Dann ertönt ein Konzert, ein Gekreisch, ein Gewinsel, ein Geblöke, wie wenn im Morgengrauen die Welt wieder erwacht oder eine Überschwemmung, ein Erdbeben sich ankündigt durch leichten Wind, wenn die Erde verhalten zittert.

    Das unheimliche Wesen schreckt die Dorfbewohner aus dem Schlaf, sie fürchten sich, sie glauben, ein Werwolf suche ihre Gegend heim. Das Ungeheuer irrt an allen Häusern vorbei zum Friedhof, immer wieder Laute der Klage und der Verzweiflung ausstoßend. Der im wahrsten Sinne des Wortes Verrückte ist ein abgehärmter alter Bauer, den die Mondsucht ergriffen hat und der in den silbrighellen Nächten von Angst und Entsetzen umgetrieben wird; bei seiner Frau auf dem Friedhof sucht er Trost. Sein Sohn Petro folgt ihm, wartet den letzten Krampf des Vaters ab, bis er ihn ohne Widerstand wieder nach Hause führen kann. Dieser Petro steht im Mittelpunkt des Romans "Bei Nacht, von Haus zu Haus" von Vincenzo Consolo. Die bedrohliche Eingangsszene kündet an, das Geschehen ereignet sich in einer Zeit der Verunsicherung, in der sich Unheil vorbereitet. Der Roman spielt Anfang der zwanziger Jahre in dem sizilianischen Küstenort Cefalù.

    Mussolinis Schwarzhemden schicken sich an, die Bevölkerung einzuschüchtern und mit Gewalt auf ihre Linie zu bringen. Petro ist Lehrer aus einfachen Verhältnissen; sein Freund Janu ist ein Hirte; das Dorf ist gespalten in arm und reich, in unten und oben. Das ist noch typisch sizilianisch, aber Consolo entwirft ein Dorfleben voller Merkwürdigkeiten. Ein reicher Adliger, der Baron Cicio ist entzückt von den pathetisch-faschistischen Versen von Gabriele d'Annunzio, während Petro, der ganz zum Schluß Schriftsteller werden will, Dante und Leopardi schätzt.

    Aber zunächst dringt eine ganz andere Realität in das dörfliche Leben ein: ein englischer Exzentriker, der Magier Aleister Crowley, eine wahre Figur der Literaturgeschichte, befreundet mit Pessoa, Yates und Somerset Maugham, taucht mit seinem weiblichen Gefolge in Cefalú auf, läßt sich in einer alten Villa nieder und beginnt ein Leben ausschweifender Exerzitien mit Drogen, okkulten Riten und religiösen Wahnvorstellungen. Der noble Orts-Faschist ist ebenso angezogen von der Truppe wie der Hirte Janu, der sich von den wilden Frauen des Engländers verführen läßt und sich bei ihnen die Syphilis holt. Es ist eine Gesellschaft, die wie ein Spuk über das dörfliche Sizilien hereinbricht:

    Auf den Wink der Ersten Konkubine, der Jungfräulichen Wächterin, des Pavians von Thot, Alostrael, Babalon, der Scharlachroten Frau auf dem Thron, löste er sich von der Wand mit obszönen Darstellungen, aus dem Halbdunkel des Tempels und trat in die Mitte Baron Cicio, der Hirte Daphnis im grünen Königsmantel, mit einem Lorbeerkranz, er schlug beharrlich die Zimbeln und hüpfte umher. In der Nähe, die Zweite Konkubine, Schwester Cypris, mit Gold im Haar, mit himmelblauen Kleidern, an der Hand führte sie den abwesenden Janu, nackt, ausgezehrt, mit einem gescheckten Fellchen um die schlanken Hüften.

    Die vertraute Welt gerät immer mehr aus den Fugen. Die Übersetzerin Maria Brunner, findet eine kongeniale Ausdruckskraft im Deutschen, den Einsturz der alten Welt sinnlich und sprachlich erfahrbar zu machen. Und, was selten ist, der Folio-Verlag stellt seine Übersetzerin auf dem Klappentext eigens mit ihrer Vita vor. Petro, die Hauptfigur des Romans, beginnt sein inneres Gleichgewicht zu verlieren, denn er liebt sein Dorf und ohne es genau bestimmen zu können, ahnt er, Umwälzungen von katastrophalen Ausmaßen bahnen sich an:

    Er spürte, dass er an diesem Dorf hing, es war voller Leben Geschichte Ränkespiele Zeichen Erinnerungen. Denn seine Bewohner hatten die Gabe, die Wahrheit zu erkennen und zu verteidigen, die Wirklichkeit und mit ihr im Einklang zu leben. Bis gestern. Nun schien ein Erdbeben einen Riss herbeigeführt, einen Abgrund aufgetan zu haben zwischen den Menschen und der Zeit, der Realität, als ob ein weit verbreiteter Wahn, ein Stachel alle auf Abwege führen, in das Durcheinander, in die Torheit stürzen würde. Und dies zersetzte die Sprache, verzerrte die Worte, ihren Sinn - das Brot war schwer zu verdienen, das Essen vergiftet, der Frieden zäh, die Vernunft in einen tiefen Schlaf gefallen.

    In einer Mischung aus Historie und Fiktion entwirft Consolo Bilder einer aufgewühlten Zeit, in der alte archaische Bilder ebenso belebt werden wie neue Mythen, die sich schwer über die Insel legen. Dummheit, Gewalt, Verwilderung bestimmen das tägliche Leben; die übelsten Typen des Dorfes haben die Macht übernommen. Für den Lehrer ist kein Platz mehr, er wird wegen seiner oppositionellen Gesinnung verfolgt. Petro sieht nur eine Möglichkeit, er flieht mit dem Schiff ins Exil auf die afrikanische Seite. Er will nichts mehr mit Politik zu tun haben, er sehnt sich nach einem Leben als Schriftsteller:

    Er dachte an sein Schreibheft. Zuerst mußte er die Ruhe wiederfinden, die Worte, den Tonfall, das Gleichmaß der Sätze, musste den Knoten in seinem Innern lösen, dann würde endlich erzählen können. Dann erst würde er all diesem Schmerz einen Namen geben können, den Grund dafür erkennen.

    Vincenzo Consolo
    Bei Nacht, von Haus zu Haus
    Folio Verlag, 169 S., EUR 18,-