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Skandal?

Man gönnt sich ja sonst nichts. Osmin jedenfalls gönnt sich noch eine kleine Fellatio. Dann schlitzt er dem unter ihm strampelnden Mädchen die Haut auf. Zuletzt befreit mich noch die Tür, denken sich schon welche im Publikum und gehen. Aber Pause ist nicht. Die Martern aller Arten möchten ja doch nicht vor leeren Parkettreihen genossen werden. Und die Leute wollen was haben, woran sie sich entrüsten können. Tun sie auch.

Von Georg Friedrich Kühn |
    Der Serail als Puff. Die Synapsen des Skandalregisseurs Calixto Bieito und seiner Dramaturgie klicken schnell; gern hebt der Katalane die Gediegenheit seiner jesuitischen Erziehung hervor. So sehen wir zum Vorspiel eine Trapezkünstlerin sich schwingen im pink ausgeleuchteten Raum mit den Glasvitrinen, in denen die Damen auf Kunden warten. Puffwächter Osmin mimt Fangen mit einer seiner Gespielinnen. Die Hosen fallen, das Duschwasser rinnt, die Körper werden hingebungsvoll gecremt. Im Proszenium läuft ein Endlosfilmchen mit einer sich schminkenden Frau.

    Wie langweilig nackte Körper sein können! Zumal wenn sie zwischendurch Mozart-Arien zu singen oder zu hören haben. Puff-Boss Bassa muss nicht singen. Der Pascha holt sich bei einer der Damen auch so mal einen runter. Konstanze hält er am Halsband im Käfig. Es ekelt sie. Und dann kommt es doch noch mal zu so was wie einer Berührung. Erst sitzt sie mit ihm als Hundchen auf dem Sofa, er döst besoffen neben ihr. Dann hebt sie doch das Bein und gestattet ihm und sich einen Kuss. Später gibt sie den ihrer Leidensschwester Blonde weiter.

    Belmonte, ihr Macker - der Diener Pedrillo, der sich als Toilettenputze nützlich macht und dafür sich von Osmin ins Bein (nein) schießen lässt, staffiert ihn aus als Transvestit in Schwarz mit Stulpenstiefeln. Er wird der Gigolo der nächsten Generation, nachdem sie beim Befreiungsversuch (fast) alles kurz und klein geballert haben. Leichen heben das Geschäft. Der zunächst heil davon gekommene Bassa-Pascha wirft sich in Schale. Jetzt geht’s ums Ganze, orakelt er Klartext in seinem sonst gestelzten Libretto-Deutsch und bindet Konstanze frei. Die drückt auf ihn ab. Keine Läuterung, kein Erbarmen. Nur eine neue Leitung.

    Staunenswert an dem Abend ist lediglich, wie Kyrill Petrenko sich behaupten kann am Pult, wie er die Mozartsche Musik dieses "Singspiels" Entführung aus dem Serail feingliedrig und mit erlesener Delikatesse aus dem Graben strahlen lässt. Die sängerischen Leistungen auf der Bühne sind mit Ausnahme des Belmonte von Finnur Bjarnason bloßes Mittelmaß. Das Publikum nimmt am Ende die Sänger dennoch in seine Arme. Bieito kassiert die Buhs und Pfiffe, die er kalkuliert hat. Der Mechanismus funktioniert, auch wenn das Theater auf der Strecke bleibt.

    "Schülertheater" mault es mal zwischendurch vom Rang. Das ist noch sehr sehr freundlich. Aber es ist die neue Linie der neuen Intendanz. Alles klein geschmirgelt fürs vermutete "Lieschen Müller" des 21.Jahrhunderts. Es ist die einzige Lehre, die man vom großen Meister Felsenstein übernommen hat. Die Auslastungszahlen an der Behrenstrasse sind immer noch beängstigend mies. Da möchte man gern vorn mit rennen im Wettlauf um Titten, Schwänze, Blut und Sperma. Die Sackgasse, in die man rennt, ist allerdings ziemlich kurz. Draußen wird schon gepeilt, wie kurz.