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Skisprung
Die Geburtsstunde des V-Stils

Früher hielten Skispringer ihre Ski parallel - sonst gab es Punktabzug. Der heute gängige V-Stil entstand aus einem Sprungfehler. Am 10. Dezember 1988, vor 25 Jahren, wurde erstmals ein Weltcup-Sieg im V-Stil erzielt.

Von Gerd Michalek | 14.12.2013
    Ein Skisprung soll möglichst weit sein, doch bitte ästhetisch!
    "Der Flug soll gut aussehen, er soll exakt aussehen. Das war am Anfang nicht zu verbinden mit einem Abspreizen der Beine."
    Biomechanik-Professor Gert-Peter Brüggemann erinnert sich gut an die 1980er Jahre. Springer, Trainer und Funktionäre folgten bis dahin einer fest etablierten Flugästhetik: Beide Ski haben in der Luft parallel zu bleiben! Doch dann machte Jan Boklöv 1987 den Trainingsfehler seines Lebens. Versehentlich brachte der unbekannte Schwede seine Ski aus der Lehrbuch-Stellung. Die bildeten ein V. Ein neuer Stil war geboren. Und Jan Boklöv flog weiter als je zuvor! Er wiederholte das im Wettkampf und erntete Kopfschütteln. Die Kampfrichter sanktionierten ihn mit satten Punktabzügen bei den Haltungsnoten.
    "Erst nachdem ein paar Versuche gezeigt haben, dass es von sportlichem Vorteil ist, akzeptierte man dann 1994 international akzeptiert, diesen V-Stil zu springen."
    Schon am 10. Dezember 1988 sorgte Jan Boklöv für Furore. Stets auf hintere Plätze abonniert, landete der Schwede seinen ersten Weltcupsieg. Warum der V-Stil klar die bessere Variante ist? Die Ski in V-Stellung bieten dem Wind mehr Angriffsfläche. Das erhöht die Auftriebskraft. Wie viel das gegenüber dem Parallelsprung ausmacht, berechneten Gert-Peter Brüggemann und seine Kollegen 1994 in Lillehammer.
    "Wir reduzieren den Effekt der Gravitation um die Hälfte. Bei der alten Technik lag die Reduktion nicht bei 50 Prozent, sondern bei zehn bis 20 Prozent."
    Der Auftrieb wirkt also doppelt so stark wie beim Parallelsprung - ein klarer Vorteil. Andererseits verlangt der V-Stil eine Haltung, vor der man starke Skrupel hat. Sprungtrainer Bastian Tielmann:
    "Man springt nach vorne raus, man muss in ein Nichts. Das ist nicht ganz so leicht zu erlernen wie eine andere sportliche Bewegung, wo ich nicht unter Stress stehe, mit einem Puls von 190 bis 200 da runter zu kommen."
    Hinzu kommt, dass der V-Stil ein sehr riskantes Element hat.
    "Um früh in die günstige Ausgangsposition zu kommen, müssen die Springer einen Salto vorwärts provozieren, um dann eine stabile Fluglage einzunehmen. Das war bei der traditionellen Technik nicht so extrem."
    Deshalb passierten gerade in der Frühphase des V-Stils einige Salto-Unfälle. Es dauerte einige Jahre, bis die Weltelite umlernte. Viele Asse waren auf den alten Stil geeicht. Andere wiederum – wie die DSV-Springer Dieter Thoma und Jens Weißflog - schafften den Technikwechsel, wenn auch zunächst mühsam. 1992 - mitten in der Umbruchphase - haderte Weißflog, der Olympiasieger von 1984, bei den Olympischen Spielen in Albertville, als er Neunter beziehungsweise 33. auf der Großschanze wurde!
    "Für mich bringt die Diskussion im Moment gar nichts. Ich springe im Moment klassisch! Andere springen V. Jeder muss sehen, wie er mit seinem Stil momentan zu recht kommt."
    1994 dagegen holte Weißflog mit 29 Jahren dank V-Stil erneut Olympiagold. Für das Umlernen ist es nie zu spät. Das zeigt auch das Beispiel von Anton Zapf. Als Jugendlicher lernte er den Parallelstil, pausierte und stieg als Mittvierziger wieder ein.
    "Da haben die Fachleute gesagt: 'Du kannst wieder springen, jetzt in dem Alter, aber du wirst nie den V-Stil lernen können.' Besonders das hat mich gereizt."
    Nach sechs Jahren Übung, im stolzen Alter von 53 Jahren, gelang Zapf im V-Stil sein erster 100-Meter-Sprung. Jan Boklöv hingegen beendete seine Karriere bereits 1993 mit 26, als V-Stil Standard war und er - nach fünf Weltcupsiegen - wieder ins sportliche Mittelfeld rutschte. Ob seine Erfindung das letzte Wort der Sprung-Evolution ist, bleibt ungewiss.