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Slavoj Žižek: "Wie ein Dieb bei Tageslicht"
Ein Handbuch zur Revolution

Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek sieht die Welt auf dem besten Wege in den Systemkollaps. Doch er rät uns, die Nerven zu bewahren: Denn in der Katastrophe stecke die Chance für eine bessere Welt. Gewohnt witzig und sprunghaft zieht "Wie ein Dieb bei Tageslicht" den Leser in seinen Bann.

Von Max Heeke | 13.05.2019
Zu sehen ist der Autor Slavoj Žižek und sein Buch "Wie ein Dieb bei Tageslicht"
Der Schrifsteller Slavoj Žižek und „Wie ein Dieb bei Tageslicht“ (Autorenfoto: Santi Donaire Imago EFE/ Cover: S. Fischer Verlag )
Welche Aufgabe hat die Philosophie? Diese Frage treibt Philosophen seit Anbeginn ihres Tuns um und sie steht auch am Anfang von Slavoj Žižeks neuem Buch. Er antwortet zuerst nicht selbst, sondern verweist auf seinen Freund, den französischen Philosophen Alain Badiou:
"Alain Badious Versuch, ‚die Jugend zu verderben‘ beginnt mit der provokanten Behauptung, dass von Sokrates an die Funktion der Philosophie darin besteht, die Jugend zu verderben, sie zu entfremden von der vorherrschenden ideologisch-politischen Ordnung, radikale Zweifel zu säen und sie dazu zu befähigen, eigenständig zu denken."
Der Philosoph als Unruhestifter
Philosophie ist aus ihrer Natur heraus ein korrumpierendes Gewerbe, weil sie ein Denken fordert, das gegen die bestehende Ordnung agitiert. In dieser Tradition sieht sich auch der slowenische Unruhestifter Slavoj Žižek. Heutzutage seien die Dinge allerdings komplizierter geworden, glaubt er:
"Ich denke, heute funktioniert das System selbst in dieser Weise, es ist eine Art normalisierte Korruption. Die Gesellschaft erzählt uns heute nicht: Sei diszipliniert oder gehorche der Autorität, sondern: Drück dein Innerstes aus, trau dich zu experimentieren. Das System selbst ist subversiv und erlaubt uns alles zu tun."
In unserer heutigen Gesellschaft sieht Žižek das – primär westliche – Subjekt umgeben von zahllosen Freiheiten: Es kann reisen und konsumieren wie es will, seine sexuelle Neigung und persönliche Identität ständig neu erfinden oder als Unternehmer seiner selbst verschiedenste Jobs und Berufswege austesten. Doch, so Žižek, diese Wahlfreiheiten führen zu einer Wahlpflicht und münden in einen Zwang des Über-Ichs: Wir müssen immer weiter konsumieren, müssen uns immer neu erfinden, um mit der Geschwindigkeit der kapitalistischen Gesellschaft Schritt zu halten. Ganz zu schweigen von den so genannten Sweatshops, den ausbeuterischen Fabriken in Entwicklungs- und Schwellenländern, die die Kehrseite unserer westlichen Konsumfreiheit sind. Die wahre Aufgabe der Philosophie sei es angesichts dieser Lage, laut Žižek,
"der Jugend vor Augen zu führen, welche Gefahren in der nihilistischen Ordnung liegen, die sich selbst als Gebiet neuer Freiheiten präsentiert. Wir leben in einer außerordentlichen Zeit, in der wir unsere Identität auf keine Tradition mehr gründen können, kein Rahmen eines bedeutsamen Universums uns mehr befähigen könnte, ein Leben jenseits der hedonistischen Reproduktion zu führen.
Auf dem Weg zum Systemkollaps
Die außerordentliche Zeit zu beschreiben und Auswege aus dem Nihilismus zu skizzieren, das ist das anspruchsvolle Ziel des neuen Buches von Slavoj Žižek. Er sieht uns inmitten eines Wandels – darauf spielt auch der Titel an: "Wie ein Dieb bei Tageslicht", eine Wendung, die Žižek der Bibel entliehen hat. Während in der heiligen Schrift das Reich Gottes wie ein Dieb in der Nacht kommt, geht der Systemwandel bei Žižek vor unser aller Augen am helllichten Tag vor sich. Er will uns die Augen öffnen.
Ein erstes Anzeichen des Systemwandels sieht er im Aufstieg Chinas: Ein totalitär regiertes Land unter Führung einer sozialistischen Einheitspartei ist der erfolgreichste Manager des Kapitalismus. Ein Land, das unglaubliche Wachstumszahlen präsentiert und Menschenrechte mit Füßen tritt. Žižek sieht China als Blaupause für die Zukunft der Staaten:
"Ein neues System entsteht, nennen wir es den autoritären Kapitalismus und dieses System gewinnt Schritt für Schritt. Deshalb glaube ich, dass die größte Katastrophe diese Logik von ‚Amerika first‘ oder ‚Russland first‘ ist. Wir sind verloren, wenn das so weiter geht."
Neue Formen der Macht
Wenn jedes Land nur noch an nationale Interessen denkt, erscheinen globale Lösungen für drängende globale Probleme unmöglich und Konflikte sind absehbar. Ähnlich katastrophal beschreibt Žižek die Entwicklungen in der digitalen Welt: Was einst hoffnungsvoll als Raum kollektiver Freiheit gestartet war, entpuppt sich als neues Herrschaftsgebiet. Die Internetmonopolisten machen sogar aus unseren intimsten Wünschen eine Ware und kooperieren willig mit nationalen Geheimdiensten. Gleichzeitig gibt es keinen Bereich des Lebens mehr, der nicht mit dem Internet verbunden ist.
"Das sind neue unvorstellbare Formen der Kontrolle und sie bedrohen die klassisch demokratische Idee, dass die Leute selbst entscheiden sollen – wie denn? Wenn die Art und Weise wie wir kommunizieren durch Google und Co. kontrolliert wird."
Hinzu kommt der technologische Fortschritt, der Eingriffe ins menschliche Genom oder Computer-Hirn-Schnittstellen erlaubt: Wir steuern auf eine posthumane Zeit zu, in der unser Leben von Algorithmen gesteuert wird, glaubt Žižek.
Das Ende der Natur
Außerdem zeigen die Umweltkatastrophen, dass wir es mit dem Raubbau an der Natur zu weit getrieben haben. Wir erleben das, was der Philosoph als Ende der Natur beschreibt:
"Menschen können das tun, was sie wollen, nur insofern sie marginal genug bleiben, so dass sie die Parameter des Lebens auf der Erde nicht ernsthaft stören. Die Begrenzung unserer Freiheit, die mit der globalen Erwärmung spürbar wird, ist das paradoxe Ergebnis genau des exponentiellen Wachstums unserer Freiheit und Macht, das heißt, unserer steigenden Fähigkeit, die Natur um uns zu verändern bis zu dem Punkt, an dem wir die geologischen Grundlagen des Lebens destabilisieren."
Žižek ist bekannt für seine Schwarzmalerei. Dass wir in einer Art Endzeit leben, hört man von ihm nicht zum ersten Mal. Neu ist dagegen, dass die Schreckensszenarien, die er in der ersten Hälfte des Buches aufzeigt, den Raum für einen positiven Wandel eröffnen. Wir haben die Wahl zwischen Untergang oder radikaler Veränderung, davon ist der Philosoph überzeugt:
"Wir brauchen einen globalen Wandel. Es tut mir leid – Ich kann mir diesen Wandel nur innerhalb eines vagen kommunistischen Rahmens vorstellen, der nichts mit dem alten Kommunismus zu tun hat. Es geht um unsere Gemeingüter. Die Natur als unsere gemeinsame Grundlage ist bedroht. Hier brauchen wir eine globale Kraft, die stark genug ist, um die Interessen der Nationalstaaten und des Kapitals zu überwinden."
Aufruf zur Revolution
Seine Inspiration für den radikalen Wandel findet Žižek bei Lenin. Er will die Ideen des Vordenkers der bolschewistischen Revolution für die heutige Zeit nutzen. Konkret heißt das: Žižek fordert im Geiste Lenins weltweite Demonstrationen, eine globale politische Kraft, die das Momentum nutzen kann und eine Expertenclique, die im Dienste aller das Internet und kritische Infrastruktur übernimmt. So ließe sich laut Žižek der Kommunismus erneuern und eine echte humanistische Ära jenseits kapitalistischer Ausbeutung einläuten:
"Im Kapitalismus bin ich genau dann versklavt, wenn ich mich ‚frei fühle‘: Folgen wir der kapitalistischen Freiheit bis ans Ende, schlägt sie in ebenjene Form der Knechtschaft um, und wenn wir aus der kapitalistischen 'servitude volontaire' ausbrechen wollen, muss die Beteuerung unserer Freiheit wieder die Form ihres Gegenteils annehmen, die eines freiwilligen Dienstes für eine Sache."
Die Neuerscheinung liest sich fast wie ein Handbuch zur Revolution. Dafür fehlen sicherlich konkrete Handlungsanleitungen, genau wie Žižek bei manchen Analysen zu ungenau bleibt. Angesichts des selbst gesteckten Ziels, die Entwicklungen der letzten Jahre auf weniger als 300 Seiten zu beschreiben, bewerten und Lösungen zur Debatte zu stellen, ist das beinahe unvermeidbar. Doch er konfrontiert uns mit der unbequemen Frage, ob ein Systemwandel möglich ist und gibt eigene Antworten – in Zeiten alternativlos genannter Politik eine wohltuende Alternative.
"Es nützt nichts, auf den richtigen Augenblick zu warten, in dem ein sanfter Wandel möglich sein wird; dieser Moment wird nie eintreten, die Geschichte wird uns nie eine solche Gelegenheit eröffnen. Man muss das Risiko eingehen und eingreifen, selbst wenn das Ziel unmöglich erscheint (und in gewisser Weise auch ist) – nur dadurch kann man die Situation verändern, so dass das Unmögliche möglich wird, in einer Art und Weise, die man niemals hätte voraussagen können."
Konservative Töne eines Aufwieglers
Neben den aufwieglerischen Gedanken, die uns zum radikalen Wandel anstacheln sollen, findet man im neuen Buch Žižeks beinahe schon unerhört konservative Ideen:
"Das wirklich Schreckliche an Trump sind seine schlechten Manieren. Das ist kein Witz! Radikale Linke würden sagen: vergesst die Manieren, wirkliche Dinge zählen. Nein: Manieren sind entscheidend – und hier bin ich konservativ: Im Privaten sind wir alle böse Chauvinisten, man kann's nicht ändern: aber in der Öffentlichkeit? Selbst wenn es scheinheilig ist, benehmt euch in der Öffentlichkeit."
Der Kommunist, der sich zum Bewahrer öffentlicher Sitten aufschwingt; der Schwarzseher, der auf einen emanzipatorischen Wandel hofft: Widersprüche sind Žižeks gedanklicher Treibstoff, hier findet man Anklänge an seinen theoretischen Lehrmeister Hegel.
Doch wo Žižek drauf steht, ist natürlich vor allem auch Žižek drin: anzügliche Witze dürfen genausowenig fehlen wie Auslassungen über einen posthumanen Sex und eingehende Analysen von Hollywoodblockbustern wie La La Land oder Blade Runner 2049.
Unverkennbar: Žižek!
Sein eklektischer Stil, der Hollywood mit dem Kommunismus verwebt oder mal eben die Schriftstellerin Agatha Christie zur Advokatin einer verloren gegangenen Moral macht, sucht seinesgleichen. Sein wilder Stream of Consciousness macht ihn mitunter schwer zu lesen, andererseits so lesenswert: Er findet ein ums andere Mal neue Wege und Beispiele, um seine Gedanken zu untermauern.
Egal welchen Lauf die Geschichte nehmen wird, Slavoj Žižek wird weiterhin Philosophie betreiben – also die Jugend aufwiegeln oder warnen. Angesichts der Weltlage wird ihm das Arbeitsmaterial wohl nicht ausgehen.
Slavoj Žižek: "Wie ein Dieb bei Tageslicht. Macht im Zeitalter des posthumanen Kapitalismus", aus dem Englischen von Karen Genschow, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, , 274 Seiten, 19 Euro