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"So etwas konnte nur in Ostdeutschland geschehen zum damaligen Zeitpunkt"

Dass normale Bürger den ausländerfeindlichen Mob in Rostock vor 20 Jahren beklatschen, sei ein Erbe der DDR, meint der Extremismusforscher Klaus Schröder. Sie habe keine Zivilgesellschaft hinterlassen. Noch schwerer wiege, dass der Staat damals nicht hart durchgegriffen habe.

Das Gespräch führte Dirk Müller | 22.08.2012
    Dirk Müller: So steht es sachlich und nüchtern im Kalender der Nachrichtenagenturen: Nach einer Demonstration gegen ein Asylbewerberheim im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen brechen mehrtägige ausländerfeindliche Krawalle aus. Das Heim geht in Flammen auf, das Feuer schlägt auf andere Gebäude über, die Polizei sieht dem Ausufern der Gewalt tatenlos zu, unter dem Beifall der Anwohner. In letzter Minute können sich die Bewohner – es sind überwiegend Vietnamesen – über Nachbarhäuser in Sicherheit bringen. – Lichtenhagen vor 20 Jahren steht seitdem für das Wegschauen, für das Wegducken, für die Claqueure, steht für die Ausländerfeindlichkeit, für fehlende Zivilcourage, für das schlechte Deutschland. Seitdem wird versucht, von vielen jedenfalls, es besser zu machen, es anders zu machen – vonseiten der Politik, vonseiten der Bürger.

    Die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen vor 20 Jahren, darüber sprechen wollen wir nun mit Professor Klaus Schröder, Extremismusforscher am Otto-Suhr-Institut an der FU in Berlin. Guten Tag!

    Klaus Schröder: Schönen guten Tag, Herr Müller.

    Müller: Herr Schröder, konnte so etwas nur in Ostdeutschland passieren?

    Schröder: Ja. So etwas konnte nur in Ostdeutschland geschehen zum damaligen Zeitpunkt, dass die Normalbewohner Rostocks sich hinstellen und klatschen, wenn ein tollwütiger Mob dort wütet. Das wäre in Mölln, in Lübeck, in Köln nicht möglich gewesen. Dort gab es auch Anschläge auf Ausländer, aber sie wurden feige in der Nacht verübt – Brandanschläge zumeist. Aber dass der Mob Beifall erhält von Anwohnern, das hat schockiert, das hat auch mich ganz persönlich damals schockiert, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Das ist aber das Erbe der DDR, die keine Zivilgesellschaft hinterlassen hat. Und was noch schwerer wiegt, Sie haben es eben schon angesprochen in dem Beitrag: das Versagen des Staates, das heißt der staatlichen Organe, die nicht in der Lage waren, diesem Mob Einhalt zu gebieten.

    Müller: Sie sagen, das kann nur im Osten passieren, im Westen war man in dem Punkt weiter, aufgeklärter, zivilgesellschaftlicher organisiert. Die Reaktionen der westlichen Politiker – wir haben ja eben auch den damaligen Innenminister Seiters gehört – gingen aber auch in eine andere Richtung.

    Schröder: Ja. Man hat natürlich versucht, von allen Seiten, auch von linker Seite, diese Vorfälle und Vorgänge zu instrumentalisieren. Das Asylrecht ist eine ganz andere Problematik. Das hat nichts damit zu tun, was dort in Rostock-Lichtenhagen geschah. Das kann man diskutieren und so oder so entscheiden. Aber das dann zu benutzen, um eine Entscheidung durchzusetzen, das war nicht okay. Und umgekehrt zu sagen, der Staat hat das provoziert, damit er das Asylrecht ändern kann, das halte ich auch für zu kurzschlüssig. Hier ist etwas zusammengekommen, wo hilflos, ratlos reagiert wurde, und hier hätte der Staat Stärke zeigen müssen. Er hat sie vor Ort in den Tagen nicht gezeigt und er hat sie auch später bei der juristischen Aufarbeitung nicht gezeigt. Also ein Versagen des Staates auf ganzer Linie.

    Müller: Und das hat sich geändert?

    Schröder: Es hat sich etwas geändert, weil die Zivilgesellschaft in Ostdeutschland, nicht nur in Rostock, zumindest ein zartes Pflänzchen inzwischen darstellt. Es gibt Initiativen, nicht nur von linksradikalen Antifas, sondern auch von "normalen" Bürgern, die sich für einen fairen Umgang mit- und untereinander einsetzen, die sich auch schützend dann vor Ausländer stellen würden, wenn so etwas wieder geschieht. Aber immer noch haben wir im Ost-West-Vergleich in etwa doppelt so viele gewaltbereite rassistische, rechtsextreme Gewalttäter, wir haben mehr Gewalttaten immer noch. Also es ist etwas geschehen, aber es ist noch nicht so, dass man sagen könnte, die Zivilgesellschaft blüht und gedeiht.

    Müller: Wenn Sie, Herr Schröder, als Grund dessen und dieser Entwicklung – das haben Sie eben ja auch getan – die DDR, die Geschichte, die politische Konstellation in der DDR als Argument anführen, und Sie sagen, im Westen hat das so nicht passieren können, heißt das für Sie automatisch, Demokratie macht toleranter?

    Müller: Ja. Der Umgang miteinander, andere zu tolerieren, aber auch Grenzen zu setzen, andere zu verstehen, aber anderen auch zur Seite zu stehen, wenn etwas geschieht, das muss man lernen. Auch in Westdeutschland hat das ja lange gedauert, ehe man sich an die sogenannten Gastarbeiter in den 60er-Jahren gewöhnt hat. Aber irgendwann war es so, dass es ein Auskommen gab und dass zumindest solche Exzesse in der Regel nicht mehr möglich waren. Es gibt natürlich auch in Westdeutschland jede Menge rassistisch eingestellte Jugendliche, die gewaltbereit sind, aber man stellt sich ihnen entgegen, in viel stärkerem Maße als im Osten. Und wenn ich sage, das Erbe der DDR, dann heißt das, dass die DDR keine Zivilgesellschaft war, sondern die Menschen waren es gewohnt, dass ihnen gesagt wurde, was sie zu tun haben, und die Staatsgewalt in Form der Stasi oder der Volkspolizei griff hart ein, wenn die SED es befahl. Da konnte keine Eigeninitiative, keine Zivilcourage entstehen. Und die Freiheit, die nach dem Fall der Mauer da war, die wurde missbraucht, und das haben gerade westdeutsche Politiker nicht begriffen, dass dann, wenn die Zivilgesellschaft nicht vorhanden ist, der Staat eingreifen muss. Das war das Versäumnis – im Übrigen nicht nur in Rostock. Wenn Sie denken: Ein, zwei Jahre zuvor gab es ja schon Ausschreitungen gegen Ausländer in Hoyerswerda. Da hätte man gewarnt sein müssen.

    Müller: Gewarnt sein müssen, sie haben falsch reagiert. War das Staatsversagen von damals und strukturell ist es das bis heute?

    Schröder: Ja, es war Staatsversagen damals, sowohl was die Polizei angeht, die kommunalen Vertreter, als auch die juristische Aufarbeitung. Das waren ja viele Westjuristen, das sind ja keine ostdeutschen Juristen gewesen, die so viel Milde haben walten lassen. Heute, glaube ich, würde der Staat härter reagieren. Vor allen Dingen er muss ja auch abschrecken. Damals die jugendlichen Mitläufer, die das alles als Event, als toll fanden, da besoffen rumzugrölen und gewalttätig zu werden, die hätte er abschrecken müssen durch harte Strafen. Das hat er nicht getan und deshalb konnte sich in Ostdeutschland eine rechtsextreme Szene, die im Übrigen schon vor dem Fall der Mauer in den 80er-Jahren sich herausgebildet hat, verfestigen und vergrößern.

    Müller: Gehen wir, Herr Schröder, von den Radikalen weg. Die meisten, auch gerade heute noch, wenn man sich diese Originalauszüge die wir eben von unserem Korrespondenten gehört haben, noch einmal vor Augen führt, beziehungsweise wenn man sich das anhört und vielleicht auch heute Abend im Fernsehen noch mal sieht, dann waren die meisten ja darüber geschockt, dass der "normale" Bürger eben das alles toleriert, unterstützt hat beziehungsweise weggeschaut hat. Nein, er hat hingeschaut, aber nichts unternommen. Hat sich das geändert?

    Schröder: Er hat geklatscht, er hat mitgegrölt, aber er war zu feige, wenn ich das mal zynisch sagen darf, mit gewalttätig zu sein. Widerwärtig war das und ich glaube, wenn ich die Bilder heute Abend noch mal sehe, wird mich der gleiche Schauer erfassen wie seinerzeit.

    Müller: Und heute sind wir mutiger?

    Schröder: Heute sind Einige mutiger. Heute würden viele in Rostock, Hoyerswerda, wo auch immer sich dazwischenstellen und sagen, so nicht. Aber es ist nicht so, dass es die Grundstimmung in der Bevölkerung ist, zumindest nicht in Ostdeutschland, und ich weiß inzwischen auch nicht, ob in Westdeutschland die Grundstimmung so ist. Aber in Westdeutschland wären viel mehr Menschen bereit, sich hier dazwischenzustellen, Zivilcourage zu zeigen. Das wird sich auch in Ostdeutschland weiterentwickeln unter jungen Leuten, also hier bin ich positiv gestimmt, aber Sie können sozusagen das negative Erbe einer Diktatur nicht innerhalb von wenigen Jahren überwinden. Hinzu kamen die sozialen Turbulenzen des Wiedervereinigungsprozesses. Also es war auch eine unglückliche Verkettung von Umständen, das Heim war völlig überbelegt, das hätte nie geschehen dürfen. Wenn man das im Nachhinein noch mal zusammenpuzzelt, dann zeigt sich doch, dass hier eine Spirale sich entwickelte, und da hätte der Staat, hätte die Polizei hart durchgreifen müssen, damit es nicht tagelang so weitergeht, denn das ist ja das eigentlich Skandalöse, dass man dies nicht binnen weniger Stunden unterbunden hat.

    Müller: Wir haben jetzt nur noch eine halbe Minute. Ich möchte das trotzdem noch mal fragen, weil mir das gerade eingefallen ist. Der Fall Brunner in München, wo es ja auch um Zivilcourage ging - es ging um den Einsatz von Gewalt an einem Passanten, der an den Verletzungen dann gestorben ist -, da hat auch jeder zugesehen. Und Sie sagen, es gibt nach wie vor – jetzt reden wir von der westlichen Perspektive – im Grunde nur Einzelfälle beziehungsweise Einzelne, die auch jetzt bereit wären einzuschreiten?

    Schröder: Ja. Das ist ja was anderes, wenn Sie alleine auf einem Bahnsteig stehen und mehrere Skinheads jemanden verprügeln. Da zwischenzugehen, das ist schon lebensbedrohlich und würde ich auch nicht empfehlen, sondern da muss man die Polizei rufen. Wenn aber sich so etwas ankündigt, dass ein mehrere Hundertschaften großer Mob da etwas macht, dann können Leute sich organisieren, können dann in großer Zahl sich dazwischenstellen. Das ist was ganz anderes, als wenn man als Einzelperson vor eine solche Situation gestellt wird. Da muss man sehr wohl aufpassen, dass man Zivilcourage nicht verwechselt mit Übermut, der dann das Leben kosten kann.

    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Professor Klaus Schröder, Extremismusforscher am Otto-Suhr-Institut an der FU in Berlin. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Schröder: Ja, bitte!

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