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"So kann man nicht regieren"

Nach Einschätzung des ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Gottfried Mahrenholz, hat der Bundeskanzler das Recht, durch eine Vertrauensfrage Neuwahlen herbeizuführen. Wenn der Regierungschef bei der knappen rot-grünen Mehrheit von drei Stimmen im Bundestag das Gefühl habe, so nicht regieren zu können, dann erlaube die Verfassung diesen Weg.

Moderation: Jürgen Zurheide |
    Zurheide: Eigentlich hat Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Mehrheit im Bundestag, nicht allzu üppig, aber eine ausreichende Mehrheit. So war es zumindest in der vergangenen Woche und so ist es rein formal auch in dieser Woche. Aber es hat sich etwas anderes verändert, Sie wissen es: Er und seine SPD haben die Wahlen in Nordrhein-Westfalen verloren und damit hat sich die politische Lage in Deutschland verändert. Schröder will Neuwahlen, weiß aber nicht: Wie bekommt er das hin, ohne gegen die Verfassung zu verstoßen? Über dieses Thema wollen wir reden und dazu begrüße ich jetzt ganz herzlich am Telefon Ernst Gottfried Mahrenholz, den ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichtes. Herr Mahrenholz, wenn Sie nun hören, dass das Vertrauensvotum von Gerhard Schröder an die Steuerfrage verbunden werden sollen, und dass wir in diesen Tagen auch hören, dass es da Krach innerhalb der Koalition ganz plötzlich gibt, kann das eigentlich überzeugen, oder hat man nicht den Eindruck, das ist vorgeschoben?

    Mahrenholz: Die Vertrauensfrage mit der Steuerfrage zu verbinden ist ja deswegen nicht ganz fernliegend, weil die Steuerfrage an die Substanz der sozialdemokratischen und grünen Politik geht. Es wird das Kapital geschont und Hartz IV durchgeführt. Darum geht sicher keine Steuerfrage, die Sie und mich betreffen, sondern eine Steuerfrage, die die Unternehmen betrifft.

    Zurheide: Das heißt, Sie sagen, man kann oder muss in diesem Fall eine Sachfrage hinzunehmen, wenn man nach dem Vertrauen fragt.

    Mahrenholz: Man kann es tun, das ist die reine Einschätzung des Kanzlers. Das steht ihm zu, das zu tun, es steht ihm frei, das zu lassen. Das kann niemand kontrollieren, das kann auch das Bundesverfassungsgericht nicht kontrollieren. Wenn er das so tun will, dann mag er das tun.

    Zurheide: Wie groß ist aus Ihrer Sicht sein Spielraum? Hätte man auch sagen können, "Ich, Bundeskanzler Gerhard Schröder, glaube, dass die Mehrheit - auch möglicherweise in der eigenen Partei - nicht mehr da ist"? Wir wissen ja, es gibt den einen oder anderen Dissidenten. Reicht da sein subjektives Empfinden aus? Oder muss das objektiviert werden dadurch, das zum Beispiel Frau Skarpelis-Sperk oder sonst wer sagt, "Ich gehe aus der Fraktion raus"?

    Mahrenholz: Nein, es muss einfach eine plausible Einschätzung seiner Gefährdungslage sein. Das hat das Bundesverfassungsgericht seinerzeit festgestellt, als es darum ging, dass Kohl die Vertrauensfrage stellte. Und Kohl hatte etwa zwei Duzend Abgeordnete hinter sich, wenn nicht noch mehr und hat trotzdem die Vertrauensfrage gestellt, weil diese FDP-Abgeordneten damals praktisch eine sozialliberale Koalition ursprünglich gewollt haben und auch durchgeführt haben mit Helmut Schmidt. Also, er ist klamm, er hat eine ganz schmale Mehrheit, ich glaube, es sind drei Stimmen.

    Zurheide: Ja, in der Tat.

    Mahrenholz: Und von diesen drei Stimmen gibt es also zwei, die namentlich genannt werden, die jetzt sagen, nein, nein, sie wollten die SPD nicht verlassen. Das mag sein, aber es kann ja sein, dass in den letzten 16 Monaten noch einige Zumutung auf ihn zukommt, dass sie sich einfach einer bestimmten Gesetzesvorlage verweigern. Und ein Kabinettstisch, an dem Gesetze beschlossen werden, bei denen sich die Minister als erstes fragen, "Kriegen wir das bei Frau Skarpelis durch oder bei Herrn Schreiner?", das ist keine Regierung mehr. Und deswegen meine ich, der Kanzler hat das mit vollem Recht gemacht. So kann man nicht regieren.

    Zurheide: Wir kommen also zum dem Ergebnis, in diesem Fall sagen Sie ja. Aber wenn wir mal ganz prinzipiell fragen - wir müssen auch hinzufügen, es gibt ja auch andere Stimmen von Kollegen, die das etwas kritischer sehen - fehlt nicht möglicherweise in unserer Verfassung genau dieses Instrument eines Kanzlers, dass er das aktiver und bewusster einsetzen kann, wenn er das eben für richtig hält? Andere Länder kennen ja andere Verfassungsregeln?

    Mahrenholz: Diese Verfassung des Grundgesetzes, die ist auf Stabilität angelegt. Und wenn ein Kanzler sagt, "Ich kann nicht mehr stabil regieren", hat er das Recht, die Vertrauensfrage zu stellen. Natürlich muss es plausibel sein. Man kann nicht mit 50 Stimmen Mehrheit sagen, "Ich möchte den Bundestag auflösen". Das kann der englische Premier, aber das kann der Bundeskanzler nicht. Aber eine plausible Einschätzung, dass man so nicht regieren kann, die erlaubt unsere Verfassung. Das hat Willy Brandt gemacht vor 30 Jahren und das hat Kohl ebenso gemacht und das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, gerade weil das deutsche System auf Stabilität angelegt ist, muss ein Bundeskanzler sagen können, "Ich kann nicht mehr wirklich stabil und verlässlich regieren".

    Zurheide: Nun sieht die Verfassung ja eigentlich in diesem Fall dann ein konstruktives Misstrauensvotum vor, wo möglicherweise eine neue Mehrheit sich an die Stelle der alten Mehrheit setzt. Das hat mit dieser Stabilitäts-...

    Mahrenholz: Das stehe Frau Merkel jederzeit frei. Sie kann es versuchen, die Verfassung sieht das keineswegs so, das ist eine Möglichkeit. Und wenn Frau Merkel meint, Sie hat vielleicht die Mehrheit des Bundestages hinter sich - das hat sie offenbar nicht, sonst würde sie schon längst angekündigt haben, dass sie es versuchen will, das ist ja auch klar. So war es ja bei Helmut Schmidt und Helmut Kohl: Kohl setzte sich an die Stelle von Helmut Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum. Bei Brandt war es so, dass Neuwahlen notwendig waren, weil er gleichfalls mit dieser Mehrheit am Ende seines Lateins gewesen wäre.

    Zurheide: Lassen Sie uns noch einmal einen anderen Gedanken hegen: Gerhard Schröder sagt ja unter anderem auch, ich habe a) die Probleme in der eigenen Fraktion, möglicherweise - ganz laut sagt er es nicht, aber das schimmert zumindest durch b) es gibt ein Problem in der Bundesrepublik, weil wir die Bundesratsmehrheit auf der einen Seite haben und auf der anderen Seite den Bundestag und das läuft gegeneinander, und er möchte jetzt eine Unterstützung für seinen Reformkurs. Dahinter liegt aber doch eigentlich das Grundproblem unseres Föderalismus und der möglichen Blockade, die sich aus dem Föderalismus ergibt. Müsste da nicht auch etwas getan werden?

    Mahrenholz: Da war er ja im vergangenen Jahr heftig bemüht, mit einer Kommission unter Müntefering und Stoiber - und das scheint ja offenbar aus rein parteitaktischen Gründen an zwei Ministerpräsidenten gescheitert zu sein. Im Grunde war man ziemlich weit, damit nämlich endlich die Regierung besser regieren kann, die Bundesratsposition zurückzunehmen und dafür aber den Ländern mehr Kompetenzen vom Bund abzutreten, das war das Geschäft. Das Geschäft, fand ich, war gut und es wurde ganz allgemein begrüßt und dann haben, glaube ich, die Ministerpräsidenten Koch und Wulf aus bestimmten Gründen, die ich jetzt nicht wiedergeben kann, gesagt, nein, die Bildungsgeschichte muss auch durchgepaukt werden, während die anderen sagten, wir machen erst mal dies, worüber wir einig sind, dann haben wir schon Fortschritte und die Bildungsprobleme zwischen Bund und Ländern fassen wir später an. Die Föderalismusreform ist überreif, keine Frage, und ich nehme an, in der nächsten Wahlperiode wird sie noch einmal richtig aufgegriffen werden.

    Zurheide: Ich möchte noch einen anderen Aspekt ansprechen, der wieder zurück kommt auf die Verfassungsfrage und auf die möglichen Neuwahlen: Gerhard Schröder, der Bundeskanzler und der Parteivorsitzende der SPD, Franz Müntefering, haben das ja offensichtlich in der Nähe des nordrhein-westfälischen Wahltages entschieden, dass bei dem Ergebnis in Nordrhein-Westfalen, so wie es ist, dass sie auf Neuwahlen hinausgehen. Das Parlament und auch die Parlamentarier, auch die eigene Fraktion ist wenig eingebunden gewesen. Da gibt es Widerstände. Ist das eine Tendenz, die wir beobachten, dass es einsame Entscheidungen gibt und dass das Parlament nur noch abnicken muss? Was kann man daran tun? Muss man daran etwas ändern?

    Mahrenholz: Das ist eine alte Parlamentarismusfrage: Wie weit will man der Regierung folgen, um auch deutlich zu machen, dass die Regierung gestützt wird, damit diese regieren kann? Ich meine, das Abnicken ist in Wahrheit kein Abnicken. Egal welche Partei am Ruder ist, es wird in den Fraktionen vorher ernsthaft diskutiert, hinter verschlossenen Türen, welche Chancen ein bestimmtes Projekt hat. Das sieht man jetzt ja auch bei der Steuerreform. Die Parlamentarier wehren sich dann, wenn sie meinen, sie müssen sich wehren. Dass sie ein Abnickerverein sind, habe ich bisher eigentlich nicht gemerkt. Ich würde sogar sagen, weil ich nun schon nicht mehr der Jüngste bin, früher, so unter Adenauer, da war das ein Abnickerverein. Heute, egal welche Partei regiert, hat sie innerparteilich ihre Probleme und da scheint mir, hat sich der deutsche Parlamentarismus sicher nicht schlechter gezeigt, als der Parlamentarismus anderer Länder auch. Wenn man die Zeitung studiert, es ist hier eine Gruppe, die nein sagt, egal zu welcher Sache, und dort ebenso, in den Ländern ist es nicht anders. Ich würde eher dem deutschen Parlamentarismus, entgegen seinem Ruf, ein ganz gutes Zeugnis ausstellen.