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SOKO Sao Paulo

Sao Paulo gilt als eine der gefährlichsten Städte der Welt. Mit 17 brasilianischen Polizisten aus Sao Paolo haben der Schweizer Regisseur Stefan Kaegi und die argentinische Autorin Lola Arias ein Doku-Theaterstück entwickelt, das auf dem Festival SPIELART in München Premiere hatte.

Von Sven Ricklefs | 21.11.2007
    Thiago ist 24. Mit sechs schon hat er schießen gelernt, von seinem Vater dem Militärpolizisten. Nur drei Jahre war er selbst bei der Militärpolizei von Sao Paulo, der gefährlichsten Stadt der Welt, jetzt fährt er Geldtransporter für eine Securityfirma, die ihm das dreifache Honorar zahlt.

    Thiago: " Hallo hier ist die Polizei. "

    In einem dieser gedrungenen bedrückend leeren Kleinräume des ehemaligen Leibniz-Rechenzentrums in München demonstriert Thiago den Einsatz in einer Favela. In Sekunden muss er entscheiden, ob in der zu stürmenden Hütte tatsächlich nur ein Journalist, eine Frau mit einem Kind oder ein gewaltbereiter Verbrecher verborgen ist.

    Manuela: " Mara, ihr tragt etwas in euch, von dem ihr bisher keine Ahnung hattet, etwas, was tief in euch verborgen ist. "

    Manuela ist Kommissarin für interne Früherkennung und Fehlentwicklungen in München. Ihre Arbeit besteht vor allem im Lesen und Überprüfen von Beschwerden über Polizisten. In ihrer Freizeit schreibt sie an ihrem Fantasyroman "Die Farben der Finsternis".

    Manuela: " Elenda lächelte bekümmert und drückte kurz Maras Arm. "

    In Manuelas Zimmer in der szenischen Installation "SOKO Sao Paulo" hängen wie überall ein paar einsame verlorene Fotos an der Wand, Schnappschüsse aus ihrem Berufsalltag, versehen mit kleinen Kommentaren. Diese Räume evozieren die Aura von Behörden, von Polizeiämtern und ihrer wohl unvermeidlichen und manchmal so erbarmungswürdigen Düsternis und sie haben zugleich etwas von bewusst missglückten Ausstellungsräumen. Manuela liest nicht nur, sie erzählt auch von sich, davon, dass ihr Idealismus für das richtige einzutreten, weswegen sie einmal diesen Beruf ergriffen hat, längst einer Nüchternheit gewichen ist. Dass sie inzwischen begriffen hat, dass Recht und Gerechtigkeit nicht immer ein Synonym sind. Und sie erzählt davon, dass sie das enge Regelkorsett, in das ihr Beruf sie einbindet, für sich und ihre Figuren in ihrem Roman übertreten kann.

    Im Bundesstaat Sao Paulo arbeiten über 150.000 Polizisten, in München sind es 6000. Hier wurde der letzte Beamte im Dienst vor über zehn Jahren erschossen, in der Megacity Sao Paulo sterben pro Monat mindestens zwei bis drei. Und doch sucht das Regisseursgespann Stefan Kaegi von Rimini Protokoll und Lola Arias aus Buenos Aires die Gemeinsamkeiten im biographischen Material ihrer Selbstdarsteller, ihrer "Experten des Alltags, die als Vertreter des Rechts die Lizenz zu töten haben, die Gewalt ausüben sollen um Gewalt zu verhindern und die als Gesetzeshüter ganz eigenen Gesetzen unterworfen sind.

    Und so funktioniert hier in diesen persönlichen Begegnungen mit dem Hundeführer, dem Polizeifotografen, der Verkehrspolizistin, der Telefonisten so funktioniert hier das Authentizitätstheater von Kaegi und Arias, das im deutschsprachigen Raum längst durch das Kollektiv Rimini Protokoll salonfähig geworden ist. Es entwickelt trotz seiner Nähe zum Alltag noch immer eine ganz eigene theatrale Poesie und kann zugleich durch seinen Wirklichkeitsgehalt auf andere Weise betroffen machen als herkömmliches Theater.

    "SOKO Sao Paulo" war die erste von insgesamt fünf Uraufführungen, die das SPIELART-Festival in München in diesem Jahr präsentiert. Damit zeigt Festivalleiter Tilman Broszat sehr viel mehr Mut als in den vorangegangenen Jahren, in denen man sich fast ausschließlich als Präsentierteller bereits etablierter Produktionen verstand. Und auch wenn Broszat diesmal bewusst auf ein Motto verzichtet hat, so spiegelt SPIELART doch Tendenzen der aktuellen internationalen Szene.

    Broszat: " Ich bin der Meinung, dass es so eine Tendenz gibt bei diesen jungen oder auch älteren Theatermachern aus der unmittelbaren Gegenwart wieder ein bisschen mehr historisch zudenken, vielleicht aber nicht im alten Sinne, dass eine Geschichte aufgearbeitet wird, sondern indem die Zeitschiene in Form einer Generationenfrage wieder ins Spiel kommt. "

    Dabei wird die Generationenfrage nicht nur inhaltlich gestellt sondern spiegelt sich gleichsam auch in der Spielplandramaturgie. Vier aktuelle oder ehemalige SPIELART-Künstler wie etwa der designierte Intendant der Münchner Kammerspiele Johan Simons haben sich als Paten jeweils einen jungen Künstler ausgewählt. SPIELART gab diesen vier Nachwuchskünstlern eine Art Card Blanche für jeweils eine kleine Produktion, die nun alle an diesem zweiten Festivalwochenende zu sehen sein werden.