Mittwoch, 08. Mai 2024

Archiv

Solti-Dirigentenwettbewerb 2020
"Es ist immer ein Mix aus Charakter, Stilistik und Dienstleistung"

Mehr als 400 Dirigentinnen und Dirigenten haben sich für den Solti-Wettbewerb in Frankfurt beworben. Nach zwei Vorrunden und einer Woche Probenzeit wurden drei Finalisten ausgewählt: Am Sonntag wetteiferten sie in der Alten Oper um Preisgelder von insgesamt 30.000 Euro.

Von Ursula Böhmer | 12.10.2020
    Eine junge Frau blickt freudestrahlend ins Orchester, das vor ihr sitzt. Sie hat die Hände zum Dirigat gehoben, in ihrer rechten Hand hält sie einen Dirigierstab hoch.
    Die Neuseeländerin Tianyi Lu (Solti Dirigentenwettbewerb / Tibor Pluto)
    Beethovens siebte Sinfonie steht im Zentrum beim diesjährigen Solti-Dirigentenwettbewerb: Die vier Sätze der Sinfonie wurden unter den drei Finalistinnen und Finalisten in der Alten Oper Frankfurt per Los aufgeteilt. Tianyi Lu übernimmt den ersten Satz. Die zierliche Neuseeländerin mit chinesischen Wurzeln dirigiert das Frankfurter Opernorchester quirlig-temperamentvoll, mit graziösen Handbewegungen. Die rechte Hand gibt den Takt vor – die linke Hand zeigt, was sie musikalisch will: Stimmt dieser Eindruck?
    "Vielleicht ist das so – aber man sollte alles mit beiden Händen zeigen können! In Beethovens Siebter ist der Rhythmus extrem wichtig – da muss man den Orchestermusikern erst recht viel Anhaltspunkte geben. Wenn der Saal eine tolle Akustik hat und die Musiker das Stück gut kennen, muss man weniger machen – kann eher die Richtung anzeigen, in die es gehen soll. Idealerweise zeigt man in seiner Gestik aber alles: Richtung, Rhythmus, Phrasierung – und die Seele des Stückes."
    Frauen noch immer in der Unterzahl
    Tianyi Lu ist eine von 59 Dirigentinnen, die sich diesmal für den Solti-Dirigentenwettbewerb beworben haben. Unter insgesamt 437 Bewerbern aus mehr als 50 Ländern ist das immer noch eine Minderheit. Dennoch tut sich für Frauen offenbar was:
    "Es gibt inzwischen spezielle Förderprogramme für Dirigentinnen: Ich selbst arbeite regelmäßig als "Dirigentin in Residence" an der National Welsh Opera in Cardiff – ein Förderprogramm, das die traurigen "Unter-Zehn-Prozent" an Dirigentinnen weltweit gezielt ansprechen soll. Ich will ja niemanden anklagen, denn schließlich zählt vor allem die Arbeit. Aber wenn Sie in die Geschichte zurückschauen und das mit der Situation heute vergleichen, gibt es einfach weiterhin Privilegierte und weniger Privilegierte. Und ohne aktives Handeln wird sich nichts verändern!"
    Johannes Zahn
    Johannes Zahn (Solti Dirigentenwettbewerb / Tibor Pluto)
    Zum Positiven verändert hat sich offenbar aber die Dirigier-Ausbildung: Die Musikhochschulen haben nachgerüstet in punkto Praxistests. Der übliche Unterricht, bei dem die Studierenden ihre Kommilitonen dirigieren, die an Klavieren sitzen, wird vermehrt ergänzt um echte Orchestererfahrungen. Davon hat auch der Deutsche Johannes Zahn profitiert. Der zweite Kandidat beim Solti-Wettbewerb hat erst in Hamburg studiert und ist derzeit in der Dirigierklasse an der Hochschule der Künste in Zürich.
    "Immer vier oder fünf fahren zu einem Orchester hin und sind dann da eine ganze Woche. Und wir proben dort und arbeiten mit dem Orchester. Und am Ende von der Probenzeit hat man meistens auch ein Konzert. Und das machen wir alle fünf, sechs Wochen. Und dann haben wir wöchentlich Ensemble - einzelne Streicher und einzelne Holzbläser -, mit denen wir dann machen können, was wir wollen, für den Unterricht."
    Stoische Ruhe trifft auf charaktervolle Mimik
    Johannes Zahn fällt beim Wettbewerb mit stoischer innerer Ruhe, sparsamer Gestik und charaktervoller Mimik auf – ihm wurden die beiden Mittelsätze von Beethovens Siebter zugeteilt. Schlagtechnik und Körpersprache sind aber nur eine Seite der Medaille, um die es den Juroren des Wettbewerbs geht. Beurteilt wird auch, wie sinnvoll und effizient die Kandidaten in den insgesamt drei Endrunden geprobt haben. Außerdem, so fügt Juror Michael Sanderling hinzu: "Der zweite Teil ist natürlich auch, dem Orchester - gerade unter den erschwerten Bedingungen, unter denen es momentan wegen Covid-19 auf der Bühne agieren muss - zu helfen, eigentlich unüberbrückbare Schwierigkeiten eben doch zu meistern. Und insofern ist es immer ein Mix aus Charakter, Stilistik und - wenn ich das so ganz profan sagen darf: Dienstleistung! Nämlich dem Dienst den Orchestermusikern angedeihen zu lassen."
    Wegen des Corona-Virus hätte der Wettbewerb beinah abgeblasen werden müssen. Eingeladen waren eigentlich 13 Kandidaten – doch einige durften, trotz Sondergenehmigungen der Organisatoren, nicht einreisen. Aufgrund der Corona-bedingt weiten Abstände zwischen den Musikern des Opernorchesters haben auch die drei Finalisten vor Ort ihre liebe Not. Trotz klarer Schlagtechnik kommen die Bläser gegenüber den Streichern häufig leicht zeitversetzt beim Publikum an. Für den Ungarn Gábor Hontvári, der Dritte im Dirigenten-Bunde, ist das wie zwischen den antiken Meeresungeheuern Skylla und Charybdis:
    "Man versucht, voraus zu dirigieren für die Bläser, dann kommen Hälfte der Streicher mit. Man versucht, einfach nachzugeben – ist auch nicht gut. Man versucht, deutlich und unmusikalisch zu dirigieren – ist auch nicht gut. Man versucht, Musik zu machen – ist auch nicht gut! Es ist schon sehr schwer!"
    Gabor Hontvari
    Gabor Hontvari (Solti Dirigentenwettbewerb /Tibor Pluto)
    Drei werden gewinnen
    Gábor Hontvári wurde der letzte Satz aus Beethovens Siebter zugelost: Die manische Euphorie des Satzes arbeitet er mit fast brachialen Schlägen heraus. Unterschiedlicher könnten die drei Finalisten des Solti-Wettbewerbs diesmal kaum sein – wer macht am Ende das Rennen? Wettbewerbs-Organisator Burkhard Bastuck hat das Wort:
    "Den zweiten Preis teilen sich Johannes Zahn und Gábor Hontvári!"
    Ein dritter Preis wurde nicht vergeben. Strahlende Gewinnerin des 1. Preises ist Tianyi Lu: Sie ist damit die erst zweite Frau in der 18-jährigen Geschichte des Solti-Wettbewerbs, die mit 15.000 Euro nach Hause gehen darf. Allen drei Kandidaten winken zudem Gastdirigate bei Spitzenorchestern – und vielleicht der Sprung in eine internationale Karriere.