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Sommaruga

DLF: Herr Sommaruga, Ihre Amtszeit neigt sich dem Ende zu. Was sind aus Ihrer Sicht die grossen Konflikte, die im Augenblick die Welt beschäftigen?

Ursula Welter |
    Sommaruga: Ihre Frage bringt mich zu der Feststellung, dass man sehr viel über den Balkan spricht, über das, was im Kosovo und rund um Kosovo passiert ist und immer noch passiert. Und man vergisst, dass es sehr wichtige Konflikte - im Sinne, dass es sehr viele Opfer gibt - in Asien gibt. Ich möchte Afghanistan erwähnen, ich möchte den Sri Lanka - Konflikt erwähnen, ich möchte auch sagen, dass Ost-Timor im indonesischen Archipel auch jetzt in einer delikaten Situation ist und in Indonesien hat es einzelne Konflikte gegeben in diesem riesigen Inselreich. Wenn wir nach Afrika gehen: Da gibt es einen internationalen Konflikt zwischen Eritrea und Äthiopien, wo man keine offiziellen Zahlen hat über die Opfer, aber wo man vermutet, dass es in 15 Monaten rund 100.000 Tote gegeben hat. Und es gibt sehr viele Vertriebene, deshalb sind da die humanitären Probleme sehr gross. In Afrika - das muss auch in Erinnerung gerufen werden -: Angola. In Angola hat sich in den letzten Monaten ein Konflikt entwickelt - ein drittes Mal in den letzten 20 Jahren -, was sehr viele Vertriebene zur Folge hat, insbesondere in Planalto und auch in anderen Gegenden von Angola. Ich möchte in Erinnerung rufen, dass man im Sudan - im Südsudan - immer noch eine sehr prekäre Stellung hat mit einem Konflikt; ich möchte auch in Erinnerung rufen die Demokratische Republik Kongo, am Rande von Ruanda und von Burundi - dort gibt es noch interne Konflikte. Ich möchte auch Sierra Leone in Erinnerung rufen. Ich möchte auch in diesem Zusammenhang sagen: Obwohl es nicht ein offener Konflikt ist, darf man im Mittleren Osten Israel und die palästinensischen Gebiete nicht vergessen, weil es dort viele humanitäre Probleme gibt mit Gefangenen und mit anderen Aspekten, insbesondere auch in der Beziehung mit Libanon. Und ich möchte auch dann die ehemalige Sowjetunion hier erwähnen mit den Kaukasus-Konflikten, sei es im Norden - wo sie letzthin sehr akut geworden sind, in Dagestan, und im Südkaukasus gibt es ungelöste Konflikte: Georgien - Abchasien und auch um Nagorny-Karabach, das ist Armenien mit Aserbaidshan. Und schliesslich möchte ich in Erinnerung rufen Lateinamerika. In Lateinamerika sind die delikaten Situationen insbesondere in Kolumbien, aber auch in Peru und Mexiko.

    DLF: Lässt sich aus dieser Aufzählung schliessen, dass die Konflikte zahlreicher geworden sind?

    Sommaruga: Ich bin davon nicht überzeugt. Ich glaube, dass wir heute alle zusammen viel aufmerksamer sind hinsichtlich der Konflikte in der Welt wegen der Medien. Sie berichten von überall, und diese Informationen kommen direkt in unsere Heime durch Fernsehen, durch Rundfunk, durch Zeitungen. Und damit sind wir viel mehr konfrontiert. Dazu muss man sagen, dass man in früheren Zeiten - vor dem Fall der Berliner Mauer - im Kalten Krieg auch weniger wusste, was in gewissen Gegenden wirklich passierte. Wenn ich gesprochen habe von den Konflikten in der ehemaligen Sowjetunion, dann können Sie sich vorstellen, dass solche Konflikte auch früher bestanden haben, man aber keine Details hatte. Vielleicht gibt es etwas, das auch uns den Eindruck gibt, es gebe mehrere Konflikte, das ist eine gewisse Enttäuschung. Ich glaube, dass alle in der Welt, die mitgedacht haben, eine gewisse Enttäuschung gehabt haben nach dem Fall der Berliner Mauer. Ich spreche nicht von Deutschland, aber ich spreche von der Welt. Das war ein Zeichen, das war das Ende des Kalten Krieges. Und wir haben alle gehofft, dass dieses Ende des Kalten Krieges Frieden in der Welt bedeuten würde und grössere Möglichkeit für die UNO, rasch einzugreifen - rasch, um Konflikte zu lösen bzw. um sie nicht ausarten zu lassen. Das ist leider nicht der Fall gewesen.

    DLF: Hat sich - wenn Sie jetzt an den Kalten Krieg denken, den Sie ansprechen - hat sich Ihre Arbeit, Ihre humanitäre Diplomatie seither verbessert, vereinfacht, oder ist sie schwieriger geworden?

    Sommaruga: Ich würde sagen, sie ist schwieriger geworden. Sie ist schwieriger geworden, weil man viel mehr Akteure in den Konflikten erreichen muss. Und das sind nicht nur politische Führer von Staaten. Früher war es sehr wichtig, die politische Führung der Supermächte zu erreichen, weil die dann ihre Message auch weitergegeben haben. Heute müssen wir auch sehr oft War-Lords erreichen. Das sind Führer von Gruppierungen, die bewaffnet sind, die am Anfang vielleicht für ein gewisses Ideal, für eine gewisse klare Zielsetzung sich mit bewaffneten Kräften einsetzen, die sich aber bald dann umwandeln in Banditentum. Und da ist die humanitäre Diplomatie fast am Rande ihrer möglichen Einwirkungen.

    DLF: Was bedeutet dieses Banditentum, wie Sie es nennen, für die Sicherheit der Delegierten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz?

    Sommaruga: Ich glaube, das ist ein Problem, das nicht nur wir haben, sondern das fast alle humanitären Organisationen haben, seien es Regierungsorganisationen oder Nichtregierungsorganisationen. Es gibt für unsere Delegierten immer wieder Überraschungen von Leuten, die Hunger haben, von Leuten, die sich ihrer Waffen bedienen, um etwas zu stehlen. Und solche Leute haben dann gegenüber einem menschlichen Leben nicht die Achtung, die sie haben sollten. Es gibt auch das Kidnapping, die Entführung von humanitären Helfern, die des öfteren eine finanzielle Komponente mit sich bringt, was natürlich für das Rote Kreuz überhaupt nicht in Frage kommt. Wir zahlen keine Lösegelder, und das muss man immer wieder repetieren. Wir könnten dann, wenn das anders wäre, nicht mehr aktiv sein - nirgends in der Welt. Aber ich würde sagen, dass für uns hier ein ganz besonderer Aspekt kommt. Das ist die Bedeutung des Rot-Kreuz-Zeichens. Das Rot-Kreuz-Zeichen als Schutzzeichen, das wird nur von uns, vom Roten Kreuz, und insbesondere in Kriegssituationen, vom IKRK gebraucht. Und hier muss unsere Tätigkeit intensiviert werden, so dass man versteht und begreift - und das ist eine Ausbildung, die man geben muss schon in den Schulen -, was das bedeutet - diese Neutralisierung der Helfer. Neutralisierung der Helfer, um überhaupt die Opfer erreichen zu können. Leider wird das Rote Kreuz als Zeichen heutzutage banalisiert. Es wird sehr oft gebraucht - auch in unseren westlichen Ländern - für kommerzielle Zwecke und leider auch für kriminelle Zwecke. Und das ist etwas, was die Regierungen eigentlich nicht tolerieren sollten. Sie haben Bestimmungen in den Genfer Konventionen, die von ihnen eine Strenge in dieser Hinsicht verlangen. Und ich hoffe, dass man jetzt aufwacht. In diesem Jahr des 50. Jahrestages der Genfer Konventionen haben wir sehr stark auch diesen Aspekt betont - den Schutz des Rot-Kreuz-Zeichens.

    DLF: Die Neutralität, von der Sie sprechen, die bedeutet ja auch in Konfliktfällen, dass Sie - auch als Präsident des Komitees - mit beiden Seiten sprechen müssen. Sie sind auch schon kritisiert worden, wenn Sie jemandem die Hand geschüttelt haben, der vielleicht von der Öffentlichkeit nicht als der richtige Gesprächspartner angesehen wurde. Wie gehen Sie mit dieser Kritik um, und was ist für Sie Neutralität?

    Sommaruga: Lassen Sie mich beginnen mit der Neutralität. Ich glaube, die Neutralität des IKRK ist etwas ganz besonders. Sie kann nicht mit der Neutralität eines Staates, einer Regierung, verglichen werden, weil die Zweckbestimmung unserer Neutralität direkt verbunden ist mit den Opfern. Wir brauchen die Neutralität als Mittel, um die Opfer zu erreichen. Die Neutralität einer Regierung ist immer im Interesse des Staates, und wir haben ein Interesse, welches ausserhalb unserer Institution ist, weil die Opfer ausserhalb sind. Nun, wir sind nie neutral vor einem Opfer, wir sind da für die Opfer. Und wenn wir die Opfer sehen, müssen wir einfach kämpfen, um zu sehen, dass diese Opfer auch so behandelt werden, wie es das humanitäre Völkerrecht sagt. Und das bedeutet dann, dass wir mit allen sprechen müssen, auf allen Stufen. Unsere Delegierten sind ständig in Kontakt mit militärischen Führern, lokalen Kommandanten, aber auch mit Rebellenkommandanten. Wir müssen Transparenz in unsere Aktionen schaffen. Wir wollen, dass die Leute wissen, was wir machen, weil wir unsere Unparteilichkeit gegenüber den Opfern immer wieder aufwerfen können. Es ist klar, dass in der heutigen Zeit, wo Kriege auch durch Propaganda geführt werden durch die Medien, durch nationale Medien, die eigentlich Propaganda machen, dass man immer bereit ist, auch das IKRK zu kritisieren. Das ist eine falsche Perzeption seitens der verschiedenen Regierungen, die etwas wollen in ihrem eigenen Interesse. Und es ist dann für uns sehr wichtig, dass wir nicht nur gleich reagieren, aber auch lernen, mehr Transparenz zu haben, um zu sagen, was wir tatsächlich machen. Wir wollen nicht beurteilen, was andere machen, aber wir können sagen, was wir machen. Übrigens: Wenn man mich kritisiert, weil ich eine Hand geschüttelt habe, die anscheinend nicht salonfähig ist - habe ich gesagt, dass ich - seitdem ich im IKRK bin - gelernt habe, mehrmals am Tag meine Hände zu waschen.

    DLF: Im Kosovo-Konflikt - nachdem die Bombardierungen der NATO begonnen hatten - haben Sie auch mit Milosevic gesprochen. Sie haben es erreicht, dass Ihre Mitarbeiter in die Regionen gehen konnten. Bei der NATO ist das nicht auf ungeteilte Zustimmung getroffen. Auch da stellte sich die Frage der Neutralität, aber auch natürlich der Probleme der praktischen Arbeit für Sie. Wie hat sich das aus Ihrer Sicht dargestellt?

    Sommaruga: Das ist klar: Wenn wir irgendwo tätig sein müssen, ist es notwendig, dass man mit allen Beteiligten eines Konflikts diese Transparenz schafft und diese Aufnahmefähigkeit von diesen Seiten erhält. Wie ich immer sage: Ich brauche eine "espace humanitaire", einen humanitären Raum, um tätig zu werden. Und nach vielen négociationen war es zum Schluss endlich mit den Serben möglich, weil Milosevic das akzeptiert hat. Für die NATO war es viel komplizierter, weil sie einen ganz besonderen Krieg geführt hat. Mit diesen Bombardierungen von weiter Ferne war es nicht leicht, einen Rot-Kreuz-Konvoi auf der Strasse zu erkennen. Und darum mussten wir immer wieder notifizieren, was wir für Bewegungen gemacht haben. Trotz dieser Notifizierungen haben wir gewisse Schrecken gehabt. Aber wir sind froh, dass wir in der Lage waren, einen sehr engen Kontakt durch den "officier de liaison" in Brüssel gehabt zu haben. Ich habe dann nähere Kontakte gehabt mit der NATO, aber das war mehr über ihre Art von Kriegsführung und die Probleme, die für die Zivilbevölkerung in Serbien und in Montenegro entstanden sind.

    DLF: Sie haben mal gesagt, dass es für das Komitee keine unschuldigen Opfer gibt. Was bedeutet das?

    Sommaruga: Ja, es bedeutet, dass wir nicht untersuchen müssen, wie ein Mensch Opfer geworden ist. Mitten in einem Krieg sind die Opfer alle gleich. Wir kümmern uns um die Probleme, die diese Opfer haben. Sind es Verwundete, müssen wir sie pflegen, sind es Gefangene, müssen wir sehen, dass sie mit Menschenwürde behandelt werden. Sind es Zivilisten, müssen wir sehen, dass sie einfach in einer Art geschützt werden, dass sie nicht Zielscheibe werden. Und hier steht es nicht dem IKRK zu, einen Vorprozess, eine Voruntersuchung zu machen, um zu wissen, wie der eine oder der andere Opfer geworden ist. Wir glauben, dass dieses Prinzip der Unparteilichkeit von uns eine nichtdiskriminierende Haltung gegenüber allen Opfern verlangt.

    DLF: Es spielt also dann keine Rolle, ob derjenige, dem Sie helfen, Grausamkeiten begangen hat oder nicht?

    Sommaruga: Nein, es spielt keine Rolle. Und ich werde Ihnen sagen, dass wir uns natürlich diese Fragen des öfteren gestellt haben, auch in dem Moment, in dem die internationale Strafgerichtsbarkeit kreiert worden ist für die Kriegsverbrechen in Jugoslawien und die Kriegsverbrechen in Ruanda. Heutzutage stellt sich dann die Frage auch für die neue universelle internationale Strafgerichtsbarkeit der UNO, die in der Verhandlung ist. Und wir haben eigentlich entschieden, dass wir nie vor einem dieser Gerichte eine Anklage erheben werden. Aber wir sind noch weitergegangen und wir haben jede mögliche Zeugenaussage abgelehnt, und die Richter haben es eigentlich akzeptiert. Es ist einfach: Wenn wir einen Auftrag haben von der internationalen Gemeinschaft gemäss der Genfer Konventionen, überall dort hinzugehen, wo es Opfer gibt, dann können wir nicht dort gesehen werden als diejenigen, die als mögliche Ankläger kommen. Sonst werden wir nicht mehr zugelassen.

    DLF: Das heisst, Sie legen nicht Zeugnis ab von dem, was Sie gesehen haben?

    Sommaruga: Ja, wir legen nicht Zeugnis ab von dem, was wir gesehen haben.

    DLF: Das bedeutet also auch, nicht Partei zu ergreifen. Ein grosser Teil Ihrer Arbeit ist die Betreuung von Gefangenen, in welchen Konflikten auch immer. Das hat zu DDR-Zeiten auch schon eine Rolle gespielt. Wie wichtig ist dieser Bereich?

    Sommaruga: Ich glaube, es ist für das IKRK sehr wichtig - im Volumen -, weil wir letztes Jahr zum Beispiel in der ganzen Welt 200.000 solcher Gefangenen betreuten. Es sind nicht ordentliche Kriminelle, es sind Gefangene aus politischen Gründen und Sicherheitsgründen, aus Kriegsgründen, die wir besucht haben, und das in ungefähr 50 Ländern. Es ist wichtig, weil wir dadurch erstens einmal ihre Art des Behandelns untersuchen können und wenn nötig, auch aushandeln können, dass sie behandelt werden nach menschlicher Würde. Da ist insbesondere das Problem der Folter, die sehr oft stattfindet zu Beginn der Verhaftung, um Informationen zu erhalten. Dann gibt es auch andere wichtige Probleme in der Behandlung. Das ist Hygiene, das sind Nahrungsmittel, die vorhanden sein müssen, und - psychologisch sehr wichtig - die Verbindung mit den Familien. Und wir sind diejenigen, die die Rot-Kreuz-Botschaften übermitteln zwischen Familienangehörigen und Gefangenen. Und dann - in gewissen Fällen - organisieren wir auch die Besuche der Familien zu den Gefangenen, wie wir es zum Beispiel in Israel und Palästina seit vielen Jahren machen. Es ist sehr wichtig, dass wir nicht ein Alibi werden für die Behörde, die die Gefangenen hat. Das bedeutet, dass wir sehr streng sein müssen hinsichtlich der Bedingungen unserer Besuche. Und da gibt es vier Punkte: Erstens einmal besuchen wir nicht eine Einzelperson, sondern die ganze Kategorie, die wir definieren mit den Behörden. Zweitens halten wir mit jedem Gefangenen, der es akzeptiert, ein Gespräch ohne Zeugen. Das ist sehr wichtig zu wissen, wie er behandelt worden ist, aber auch um zu erfahren, ob andere Gefangene irgendwie verschwunden sind und was geschehen ist. Drittens werden wir eine Liste erstellen, die wir mitnehmen - nicht zur Veröffentlichung -, über die Gefangenen, die wir gesehen haben. Das ist eine Art Lebensversicherung, weil wir dann auch später sehen können, wo sie wirklich sind. Man kann sich dann bei uns erkundigen. Schliesslich die vierte wichtige Bedingung ist, dass wir die Besuche wiederholen und nicht einen Besuch machen, um ein Paradebeispiel zu haben - nein, wir wiederholen die Besuche regelmässig. Das sind eigentlich wichtige Elemente, weil zum Schluss endlich, wenn das geschieht, die Behörden auch aufpassen werden, die Gefangenen besser zu behandeln.

    DLF: Auch hier ist es wichtig: Keine Öffentlichkeit. Sie haben es gesagt. Zu DDR-Zeiten gab es mal Untersuchungen, Beobachtungen in Bautzen. Da ist gesprochen worden anschliessend, und das hat Probleme gegeben.

    Sommaruga: Ja, das ist sehr wichtig, dass wir diese Besuche vollständig vertraulich behandeln. Sie müssen in einer négociation benützt werden, nur mit der Behörde, die die Gefangenen hält. Die werden einen Bericht bekommen - aber streng vertraulich - mit unseren Empfehlungen. Natürlich, wenn man dann diese Informationen nach aussen gibt, dann kann das sehr rasch ein Politikum werden. Und in der Zeit von Bautzen, wo wir von der DDR die Erlaubnis erhalten hatten, diese Besuche zu machen, ist es dann passiert, dass gewisse Informationen, die nach Bonn gingen und die nicht hätten nach Bonn gehen sollen, auch dann in die Zeitungen von Westdeutschland gekommen sind. Und das hat eine heftige Reaktion seitens der DDR-Regierung gebracht, und wir konnten diese Gefangenen nicht mehr besuchen.

    DLF: Kommen wir zum Thema Finanzierung der Arbeit des IKRK. Niemand ist zufrieden mit dem Geld, was er bekommt. Insofern will ich nicht die Frage so formulieren, sondern fragen, wie der Anteil auch der Bundesrepublik ist an der Finanzierung und ob Sie damit zufrieden sind?

    Sommaruga: Ja, ich muss sagen, dass diese freiwilligen Beiträge, die von den Regierungen kommen, für uns von ausserordentlicher Bedeutung sind, weil ungefähr 85 Prozent unserer Finanzierung von Regierungen kommen. Und natürlich muss man sehen, dass Regierungen, die leisten können, dass Sie sich auch dafür einsetzen. Und unser erster Blick geht immer auf die G7-Regierungen und -Staaten. Und da muss ich sagen, dass ich leider die Bundesrepublik nicht unter den besten Geldgebern für das IKRK sehe. Die Vereinigten Staaten sind sehr stark, die Schweiz ist sehr stark, Grossbritannien, sogar Japan, alle mittelgrossen westeuropäischen Länder, die Skandinavier, Benelux - und Deutschland kommt erst nach diesen Ländern. Das ist aber auch dasselbe mit Italien und Frankreich. Und meine Anstrengung ist, von Deutschland eine grössere Finanzierung zu bekommen. Ich möchte aber betonen, dass ich dankbar bin für alles, was aus Deutschland kommt. Auch, was das Deutsche Rote Kreuz für uns macht, das ist auch eine wichtige finanzielle Stütze - und auch, was aus Brüssel aus der Kommission kommt: Ich bin mir vollkommen bewusst, dass dort ungefähr 30 Prozent der Gelder aus dem deutschen Haushalt kommen.

    DLF: Gleichwohl - würden Sie so weit gehen, Kritik zu üben an der derzeitigen Finanzierungsbereitschaft der Bundesregierung?

    Sommaruga: Es hat sich nicht viel geändert mit der Änderung der Bundesregierung in Deutschland. Ich habe in meinen Gesprächen mit Mitgliedern der Bundesregierung jetzt sogar eine grössere Öffnung - mindestens verbal - festgestellt. Ich hoffe, dass sie sich konkretisiert in einem Moment, wo die finanziellen Bedürfnisse immer höher werden. Das ist jetzt wegen der Balkankrise und wegen anderer Krisen wirklich eine Zeit, wo man Gelder - im Interesse der Opfer - bekommen muss, insbesondere für Konflikte ausserhalb Europas.

    DLF: Herr Sommaruga, wenn Sie nun zurückblicken auf die zwölf Jahre Ihrer Amtszeit an der Spitze des IKRK: Gibt es Dinge, die Sie gerne noch erreicht hätten?

    Sommaruga: Ja, ich glaube, ich hätte gerne eine weniger grosse Politisierung in der Rot-Kreuz-Bewegung erreichen wollen. Leider ist es so, dass viele Rot-Kreuz-Gesellschaften nicht die Unabhängigkeit aufrecht erhalten können, die sie haben müssen gegenüber ihrer politischen Parteien und ihrer Regierungsstellen. Das wirkt sich auch für uns negativ aus, weil man innerhalb der Rot-Kreuz-Bewegung ist. Ich würde sagen, dass auch etwas, was ich eigentlich besser hätte erreichen wollen - aber da wird sicher mein Nachfolger für sorgen -, ist eine grössere Kohäsion innerhalb der Rot-Kreuz-Bewegung für grosse humanitäre Aktionen in Krisensituationen. Zu oft sehen wir, dass Rot-Kreuz-Gesellschaften - weil sie von ihren Regierungen auch gedrückt werden - sehr rasch ihre Flagge zeigen, ohne Koordination in dem einen oder anderen Gebiet sich plötzlich befinden. Und das ist natürlich auch negativ, weil die Mittel sehr sorgfältig benützt werden müssen, und sie müssen auch unparteiisch an die Opfer kommen. Und darum ist es wichtig, dass sich die Koordination, die das IKRK zu pflegen hat gegenüber den Rot-Kreuz-Gesellschaften in solchen Situationen, wie es in den Statuten steht, auch realisieren lässt.