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Sommer 2032 - Dialog mit der Zukunft

Viele Alte, wenige Junge - so wird es in Deutschland 2032 aussehen. Das hat Konsequenzen für die Familienstrukturen: Wohngemeinschaft statt Kern-Familie könnte eine typische Entwicklung sein. Zukunftsforscher prognostizieren zudem weniger verheiratete Eltern und mehr Alleinerziehende.

Von Monika Dittrich | 01.08.2012
    Herzlich Willkommen, kleine Eva! Ein Baby, geboren im Sommer 2032 in einer deutschen Großstadt.

    Hans Bertram: "Also Eva würde mit großer Wahrscheinlichkeit bei einer Mutter aufwachsen, die sehr qualifiziert ist. Das ist eine ganz wichtige Entwicklung, schon heute sind die Mütter so gut qualifiziert wie zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte Deutschlands. Und dieser Trend wird weitergehen."

    Marie-Luise Lewicki: "Es wird mit Sicherheit so sein, dass mehr Medizin im Spiel ist. Es ist ja jetzt schon so, dass sich viele Eltern erst trauen, sich auf ihr Baby zu freuen, wenn die pränataldiagnostischen Maßnahmen ein positives Ergebnis gegeben haben. Das wird sich sicher verschärfen."

    Rainer Klingholz: "Wir haben seit 1972 immer mehr Verstorbene als Neugeborene in Deutschland, und das bedeutet zwangsläufig, dass dann die Kinderzahlen immer weiter zurückgehen."

    Marie-Luise Lewicki: "Es wird auch so sein, dass sich Frauen noch bewusster als heute auf diese Schwangerschaft vorbereiten, dass die Mütter deswegen sehr gesund und sehr fit sind, und eben auch gesunde und fitte Kinder bekommen."

    Hans Bertram: "Das heißt, Eva wird mit großer Wahrscheinlichkeit in einer Metropole bei einer akademisch gebildeten Mutter aufwachsen, das bedeutet für Eva, dass sie doch auch mit hohen Ansprüchen der Mutter konfrontiert wird, sich auch wieder entsprechend zu entwickeln."

    Deutschland in zwanzig Jahren: Das ist nicht mal eine Generation entfernt. Die meisten Menschen, die dann in Deutschland leben, sind jetzt schon auf der Welt.

    Doch vieles wird dann schon sehr viel anders sein. Es wird in Deutschland weniger Menschen geben, und die meisten von ihnen sind ziemlich alt. Und Babys, wie unser Beispielkind Eva, werden seltener geboren.

    "Das wird sicher den Vorteil haben, dass Kinder sehr willkommen sein werden, die in dieser Zeit geboren werden. Weil die Gesellschaft dringend Erneuerung von unten braucht."

    Sagt Marie-Luise Lewicki, Chefredakteurin der Zeitschrift "Eltern". Seit über vierzig Jahren beschäftigt sich das Magazin mit den Themen Kinderwunsch und Schwangerschaft, Erziehung und Familienleben:

    "Deshalb finde ich jetzt auch diesen Blick in die Zukunft ganz spannend, denn ich gehe mal stark davon aus, dass die Eltern, die 2032 ihre Kinder bekommen, auch noch Eltern lesen werden."

    Trotzphase und Töpfchentraining, Kaiserschnitt und Kinderkrankheiten – diese Themen dürften Eltern auch in zwanzig Jahren noch interessieren.

    Und doch wird eine Kindheit im Jahr 2032 in Deutschland unter anderen Voraussetzungen beginnen als heute.

    Marie-Luise Lewicki: "Denn viele, die dann Eltern werden, 2032, sind Einzelkinder. Die haben, wenn ihr Partner auch Einzelkind ist, ganz wenig Umfeld. Keine Onkels, keine Tanten, oft keine Cousinen, keine Cousins. Die werden neue Formen finden, sich einen Kreis zu suchen, der um diese Familie herum ist, das werden Freunde sein, das werden Wohngemeinschaften sein."

    Wohngemeinschaft statt Kern-Familie, das könnte eine typische Entwicklung sein. Zukunftsforscher prognostizieren außerdem weniger verheiratete Eltern und mehr Alleinerziehende, vor allem in den Großstädten. Und: weniger Geschwister, auch weil Frauen immer älter werden, ehe sie ihr erstes Kind bekommen. Für ein zweites oder gar drittes Kind ist es dann oft zu spät.

    Dafür werden viele Kinder Großeltern haben, die noch lange gesund sind und die ihre wenigen Enkel umso mehr verwöhnen können. Viele Erwachsene blicken auf wenige Kinder - Marie-Luise Lewicki sieht das mit gemischten Gefühlen:

    "Für Kinder ist es generell besser, wenn die so ein bisschen mitlaufen, als wenn die irgendwo im Zentrum stehen."

    Das sei schon heute zu beobachten, sagt Lewicki. Für viele Eltern, vor allem in der Mittelschicht, seien Kinder Projekte, die realisiert würden, wenn Partnersuche und Berufswahl erfolgreich abgeschlossen seien. Das lang geplante Kind werde dann oft stark kontrolliert:

    "Wenn Sie einem Kind alles aus dem Weg räumen, wenn es sich keine Knie mehr aufschlagen darf, wenn es nie von der Mauer springt und auch mal wirklich sich wehtun kann, wenn es nie eine Situation alleine bewältigen muss, weil es immer das Handy als Nabelschnur zur Mutter bei sich hat, dann wird ihm später diese Konfliktbewältigungskompetenz auch fehlen."

    Zu diesem Sicherheitsbedürfnis kämen enorme Erwartungen, die Eltern an ihre Kinder hätten. So ist es auch vorstellbar für unser Beispielkind, die kleine Eva, geboren 2032:

    "Die Eltern werden Wert darauf legen, dass sie in der Schule zum obersten Drittel gehört. Sodass dieses Kind schon sehr frühzeitig hochtrainiert durch die Ansprüche von Schule und Elternhaus dazu gebracht wird, sehr leistungsorientiert sich zu entwickeln."

    Sagt Hans Bertram.

    "Ich lehre an der Humboldt-Universität Berlin Mikrosoziologie. Mikrosoziologie ist die Lehre von den sozialen Beziehungen zwischen Menschen."

    Hans Bertram erforscht Familien. Er will wissen, warum Frauen und Männer Kinder bekommen oder auch nicht, warum sie sich mit der Familiengründung immer mehr Zeit lassen, welche Rolle die Ausbildung der Mütter spielt und was Familienpolitik leisten kann. Immer wieder stößt er auf die Frage, warum die Deutschen in die demografische Falle geraten sind:

    "Die Eltern in den siebziger Jahren haben sich, aus welchen Gründen auch immer, dazu entschieden, weniger Kinder zu haben. Und wenn es jetzt weniger Kinder gibt, dann gibt es in der nächsten Generation weniger Mütter und Väter, die wieder Kinder bekommen können. Und das bedeutet, selbst wenn heute sich die jungen Leute entscheiden würden, viele Kinder zu bekommen, können sie die notwendige Zahl von Kindern zur Bestandserhaltung gar nicht mehr gebären, weil sie selbst weniger geworden sind. Und da dieser Prozess dann immer weiter geht, ist sozusagen die Summe derjenigen, die potenziell Kinder bekommen können, immer kleiner."

    Im Durchschnitt bekommen Frauen in Deutschland 1,4 Kinder. Um die Einwohnerzahl aufrechtzuerhalten, wären 2,1 Kinder notwendig. Selbst durch Zuwanderung lässt sich dieses Geburtendefizit vorerst nicht ausgleichen: Das Statistische Bundesamt rechnet künftig mit höchstens 200.000 Zuwanderern pro Jahr; nötig wären mehr als doppelt so viele.

    "Wir haben seit dem Höhepunkt der Bevölkerung in Deutschland im Jahre 2002 bereits etwa 800.000 Einwohner verloren. Bis 2032 wird sich das auf drei oder vielleicht dreieinhalb Millionen summieren, um dann auch noch weiter beschleunigt zu schrumpfen."

    Sagt Reiner Klingholz.

    "Ich bin Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Wir machen Studien zum demografischen Wandel."

    Klingholz interpretiert Zahlen. Wie viele Geburten, wie viele Sterbefälle, wie viele Männer, Frauen, Kinder, Rentner gibt es in Deutschland – und was heißt das für unsere Zukunft?

    "Bis 2050 hätten wir einen Einwohnerschwund von zwölf Millionen, das entspricht der Einwohnerzahl der zwölf größten Städte in Deutschland zusammengerechnet, von Berlin runter bis nach Leipzig."

    Die Deutschen werden weniger. Sie werden aber auch immer älter, denn die Lebenserwartung steigt. Die kleine Eva dürfte wohl fast 90 Jahre alt werden.

    Viele Alte, wenige Junge – das ist eine Last. Vor allem für die mittlere Generation des Jahres 2032.

    Herzlich willkommen, Paul und Paula, Luna und Lilli, Finn und Felix – geboren im Jahr 2002.

    Felix: "Ich hoffe, dass die Atomkraftwerke ausgeschaltet werden, dass dem Regenwald kein Haar mehr gekrümmt wird, dass da alle seltenen Tiere wieder anfangen zu leben."

    Luna: "Also ich will als Beruf Ärztin werden. Und ich glaube, ich bin dann nicht mehr in Deutschland."

    Die Dreißigjährigen von 2032 sind die Zehnjährigen von heute. Sie besuchen üblicherweise das vierte Schuljahr, zum Beispiel in Köln, in der Grundschule am Manderscheider Platz.

    "Ich bin Elisabeth Schuhenn, ich bin die Schulleiterin. Die Kinder leben in einem Wohlstand, den müssen sie für sich selber auch erstmal erarbeiten. Was ja auch immer ein Elternwunsch ist, die Kinder sollen es mal besser haben, dieser Spruch gilt eigentlich nicht mehr – wie besser?"

    Felix: "Ich würde gern nach Australien. Weil ich würde gerne in ein anderes Land als Deutschland. Ab da könnte man mit einer Familie anfangen."

    Lilli: "Ich will gern zwei Kinder kriegen."

    Finn: "Na, allein möchte ich eigentlich nicht leben."

    "Sondern mit wem zusammen?""

    Finn: "Weiß ich doch noch nicht!"

    Elisabeth Schuhenn: "Die stehen jetzt an der Pforte zur Pubertät – warum gibt es die Pubertät' Um genau da sich auszuloten, um einen Partner zu finden, eine Familie zu gründen. Der Wunsch nach Partnerschaft und nach Kindern, das steckt in jedem Menschen."

    "Also der dreißigjährige Mann wird überhaupt nicht über Kinder nachdenken. Sondern der dreißigjährige Mann, ganz egal in welcher sozialen Gruppe er sich befindet, wird ein angenehmes, schönes, wohlsituiertes Single-Dasein führen, er wird hohe Sozialabgaben zu tragen haben, aber da es dann aufgrund der demografischen Falle bis dahin wenig junge Erwachsene gibt, wird man sich um ihn gerissen haben. Man wird ihn maximal versucht haben, zu qualifizieren. Und bei der jungen Frau, wenn sie qualifiziert ist, wird die Entwicklung nicht anders sein."

    Sagt der Familiensoziologe Hans Bertram. Menschen im erwerbsfähigen Alter – von ihnen wird es in zwanzig Jahren fast acht Millionen weniger geben als heute. So hat es das Statistische Bundesamt ausgerechnet.

    Dabei werden die Arbeitskräfte dringend gebraucht – um Wohlstand zu erwirtschaften und auch, um die Renten- und Gesundheitskosten der vielen Alten zu finanzieren. Diese Entwicklung habe aber auch Vorteile für die Dreißigjährigen des Jahres 2032, sagt der Demografie-Forscher Reiner Klingholz:

    "Also das Ganze Gedrängel, was die Babyboomer immer erlebt haben, an den Schulen, an den Hochschulen, bei der Suche nach einem Arbeitsplatz, das endet jetzt langsam. Und zumindest wenn die jungen Menschen eine gute Ausbildung haben, stehen ihnen viel mehr Möglichkeiten offen, als in den letzten Jahrzehnten."

    Leistungsfähig, flexibel, mobil - das dürften auch künftig die Erwartungen des Arbeitsmarktes an junge Arbeitskräfte sein, schätzt zumindest Hans Bertram. Und der Soziologe erwartet, dass Partnerbindung und Familiengründung damit noch weiter aufgeschoben werden:

    "Wenn Sie sich das bei jungen Männern um das dreißigste Lebensjahr angucken, dann haben die zwar alle eine Partnerin gehabt, sie fangen auch sehr früh mit den Partnerinnen an, sie haben dann schon bis zu vier Partnerinnen gehabt, aber eine feste Partnerin auf Dauer haben sie nicht, und Kinder haben sie erst recht nicht, und geheiratet haben sie auch nicht."

    Dass also in zwanzig Jahren wieder mehr Kinder geboren werden, dass junge Leute früher im Leben eine Familie gründen – davon geht Bertram nicht aus. Auch Reiner Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung schätzt, dass sich die Geburtenrate von 1,4 Kindern pro Frau in Deutschland manifestiert:

    "Weil die niedrige Kinderzahl seit fast vierzig Jahren anhält, und das ist mehr als eine Generation. Und damit wird so etwas zu einer sozialen Norm, und das führt dazu, dass die Menschen, die heute Eltern werden, ihrerseits bereits in einem Umfeld groß geworden sind, wo es so wenige Geschwister, so wenig Kinder gab, und dann hält das auch offenbar länger an."

    Hinzu kommt ein weiteres Phänomen, das der Familienforscher Hans Bertram als "sequenzielle Treue" bezeichnet:

    "Früher hieß es: Bis der Tod Euch scheidet. Und da man relativ früh starb, war das ein realistisches Ereignis. Wenn ich aber nun weiß, ich werde möglicherweise 90 Jahre alt, dann ist es ja vielleicht auch ganz sinnvoll, unterschiedliche Lebensphasen mit unterschiedlichen Partnern zu kombinieren."

    Wenn zu den unterschiedlichen Partnern Kinder hinzukommen, dann ist gewiss: die Zahl der sogenannten Patchwork-Familien wird steigen. Partner bringen Kinder aus vergangenen Beziehungen mit und gründen gemeinsam neue Familien.

    Hans Bertram: "Richtig. Ist das schlimm? Die Geschichte der Familie zeigt: es gab immer Patchwork. Also wenn Sie sich das 18. Jahrhundert in London angucken, da gab es genauso viel Patchwork wie heute. Wir gucken immer auf die Generation unserer Eltern und Großeltern, die nach dem Zweiten Weltkrieg dieses Kernfamilien-Modell gelebt haben. Und das war historisch wirklich eine sehr kurze Phase. Alle anderen Phasen haben immer akzeptiert, dass die Menschen eigentlich unterschiedliche Lebensformen entwickeln, weil die Lebensverhältnisse auch unterschiedlich sind."

    Heißt das vielleicht auch: Patchwork zwischen den Generationen? Denn noch etwas ist gewiss für die mittlere Generation in zwanzig Jahren: Viele werden sich um ihre betagten Eltern und Großeltern kümmern müssen.

    Herzlich Willkommen! Sabine, Thomas, Susanne, Michael, Andrea, Stefan, Petra, Frank, Claudia, Ralf, Kerstin, Martin.

    1964 herrscht Hochbetrieb auf deutschen Geburtsstationen. Fast 1,4 Millionen Neugeborene in einem einzigen Jahr – es ist der stärkste Jahrgang der sogenannten Babyboomer in Deutschland.

    2032: Jetzt sind die Babyboomer in Rente.

    "Dass die schon alle in Rente sind, ist ein Riesenfehler."

    Sagt Hans Bertram. Denn wer soll die Renten, die Pflege- und Gesundheitskosten der vielen Alten bezahlen?

    Heute liegt das Renteneintrittsalter bei 65 Jahren. Doch im Schnitt hören die Deutschen schon mit 62 auf zu arbeiten. Würde das so weitergehen, dann müsste im Jahr 2032 ein einziger Beitragszahler einen Rentner finanzieren.

    Die Rente mit 67 ist politisch auf den Weg gebracht. Auf Dauer wird das kaum reichen, meint Reiner Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung:

    "Die zusätzlichen Lebensjahre, die wir ja alle auch genießen wollen, um die zu finanzieren, ist es schlicht und einfach notwendig, dass die Menschen länger erwerbstätig sind. Um für sich selber Einkommen zu erwirtschaften, aber auch für die Gemeinschaft, das heißt für das Umlagesystem in Form von Renten und Gesundheitsleistungen."

    Doch selbst wenn die Alten lange arbeiten – viele werden irgendwann Hilfe und Pflege brauchen. Vor allem die Kinderlosen unter den Babyboomern können sich nicht auf eine eigene Familie verlassen. Wer also wird die Alten in zwanzig Jahren versorgen?

    Ein Modell für die Zukunft kann man schon heute in Bielefeld besichtigen, zum Beispiel im Kammermühlenweg.

    "Ja, treten Sie ein, bringen Sie Glück herein. Schlüssel im Schloss, so, bitteschön."

    Vielleicht leben in zwanzig Jahren viele alte Menschen so, wie Lydia Rennekamp.

    "Ich hab ein sehr bequemes Wohnzimmer und vor allem, ich konnte meine eigenen Möbel mitbringen, eine gute Küche, bequem vor allen Dingen. Schlafzimmer und eine schöne große Terrasse, und das ist das Schönste. Die müssen Sie sich mal ansehen."

    Die 87-Jährige hat ihre eigenen vier Wände, ihre eigenen Möbel, ihre Selbstständigkeit – und für den Notfall einen Pflegedienst, den sie Tag und Nacht in Anspruch nehmen kann – falls es einmal notwendig ist.

    Dies ist kein Seniorenheim und kein betreutes Wohnen – sondern das Bielefelder Modell:

    "Wir haben überlegt, wie wir die Hilfe zu den Menschen bringen können und nicht die Menschen zu irgendwelchen Hilfestrukturen bringen können."

    Sagt Oliver Klingelberg.

    "Ich bin Mitarbeiter der BGW im Sozialmanagement."

    Die Bielefelder Städtische Wohnungsbaugesellschaft BGW hat in den neunziger Jahren ein Konzept fürs Wohnen im Alter entwickelt. Das Bielefelder Modell gilt unter Experten als revolutionär – und als zukunftstauglich.

    Die Idee ist simpel: Ein Pflegedienst betreut ein Quartier mit rund 800 Haushalten und ist Ansprechpartner für alte und kranke Menschen, die in ihren eigenen Wohnungen bleiben.

    Herzstück des Bielefelder Modells ist ein zentrales Haus wie das im Kammermühlenweg: 32 kleine Wohnungen, barrierefrei und altengerecht, die mieten kann, wer älter ist als sechzig. Hier hat auch der Pflegedienst seinen Standort, und es gibt ein Wohn-Café, wo ehrenamtliche Mitarbeiter Mahlzeiten anbieten, wo aber auch Filmabende oder Kaffeekränzchen stattfinden können – nicht nur für die Hausbewohner, sondern für das Ganze Viertel.

    Oliver Klingelberg: "Das Charmante am Bielefelder Modell ist: es lebt sehr stark von Nachbarschaft, von Gemeinschaft, von dem Miteinander, aber ich habe eben auch meine Privatsphäre."

    Anders als beim betreuten Wohnen fällt beim Bielefelder Modell keine monatliche Betreuungspauschale an. Das heißt: Der Pflegedienst schreibt nur dann eine Rechnung, wenn er auch gerufen wird. Die Rund-um-die-Uhr-Bereitschaft ist rentabel, sobald vier bis fünf tatsächlich pflegebedürftige Patienten im Quartier zu versorgen sind.

    Die Gruppe der Über-65-Jährigen wird in zwanzig Jahren um ein Drittel größer sein als heute. Angesichts ihrer schieren Masse könnten die Alten also auch zu einer einflussreichen politischen Größe werden.

    Reiner Klingholz: "Im schlimmsten Fall ist es so, dass die steigende Zahl von Pensionären und Rentnern natürlich eine bedeutende Wählergruppe sind, und die Politik im vorauseilenden Gehorsam das tut, was sie auch bei den letzten Wahlen immer getan hat, nämlich Rentenerhöhungen durchzusetzen oder Rentenkürzungen auszusetzen, um dann eben der Wählerschaft Genüge zu tun."

    Das gehe dann zu Lasten der Jüngeren, sagt der Demografie-Experte Reiner Klingholz. So muss es aber nicht kommen. Tatsächlich gebe es ein großes Verantwortungsbewusstsein der älteren Generation, sagt der Familiensoziologe Hans Bertram:

    "Dreißig bis vierzig Milliarden Euro gibt diese ältere Generation ja heute schon an die Enkel. Also da glaube ich, muss man keine Sorge haben, dass die nur noch an sich denken und sagen: Alles muss in die Rente gehen."

    Den Krieg der Generationen sieht Hans Bertram nicht kommen. Und auch der Demografie-Experte Reiner Klingholz blickt optimistisch in die Zukunft. Der demografische Wandel sei nicht zwangsläufig eine Katastrophe:

    "Es ist nur eine Katastrophe, wenn wir so tun, als liefe alles so weiter wie bisher. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass auch mehr Solidarität kommen wird, weil die ganze Gesellschaft einsieht, dass dieser Wandel uns alle betrifft, und dass wir da gemeinsam durch müssen."

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